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38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

29.09. - 02.10.2022, Leipzig

Auswirkungen von Abständen auf das Singverhalten in Knabenchören

Poster

  • corresponding author presenting/speaker Marie Köberlein - Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität, München, Deutschland
  • author Jonas Kirsch - Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität, München, Deutschland
  • author Bogac Tur - Klinikum der Friedich-Alexander Universität, Erlangen, Deutschland
  • author Laila Hermann - Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität, München, Deutschland
  • author Stefan Kniesburges - Klinikum der Friedich-Alexander Universität, Erlangen, Deutschland
  • author Matthias Echternach - Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität, München, Deutschland

38. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 29.09.-02.10.2022. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2022. DocP2

doi: 10.3205/22dgpp08, urn:nbn:de:0183-22dgpp080

Published: September 26, 2022

© 2022 Köberlein et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die erhöhte Aerosolproduktion beim Singen führte während der Covid-19-Pandemie zu einem völligen Verbot des Chorsingens oder zu der Empfehlung, mit Abstand zu singen. Es ist jedoch noch nicht klar, wie sich größere Abstände auf die musikalische Leistung insbesondere von Knabenchören auswirken, was wiederum den Fortschritt in der Gesangsausbildung beeinträchtigen kann.

Material und Methoden: Aus zwei renommierten Knabenchören (Windsbacher Knabenchor, Tölzer Knabenchor) wurden je 3 Gruppen (Alter: 7–8 J., 10–11 J., 10–13 J., 11–12 J., 13–14 J., 14–16 J.; Gesangserfahrung: 1–2 J., 3–4 J., 4–7 J.) mit je 5 Sängern aufgefordert, die Melodie der „Ode an die Freude“ aus Beethovens 9. Sinfonie „Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“ in A-Dur zu singen. Die Teilnehmer standen in einem einreihigen Halbkreis (Radius: 4 m) mit Abständen zwischen den Probanden von je nach Aufgabe 3 m, 1,5 m oder 0,5 m. In einer Zusatzaufgabe trugen die Probanden Sängermasken (Abstand: 0,5 m). Die Stimmen wurden mit Headsets und einem zentral platzierten Mikrofon sowie einem Schallpegelmesser aufgenommen. Analysiert wurden die gruppeninternen Abweichungen der Grundfrequenz sowie die Grundfrequenz in Bezug auf eine ideale Liedversion, die spektrale Energie und rhythmische Genauigkeit.

Ergebnisse: Für die Faktorkombinationen von Alter und Entfernung sowie von Alter und Maske waren Wechselwirkungen statistisch nachweisbar. Während es bei den Konzertchören nur geringe Unterschiede zwischen den verschiedenen Aufgaben gab, zeigten die Anfänger große Grundfrequenzstreuungen und eine kontinuierliche Abnahme der Grundfrequenzgenauigkeit bei größeren Entfernungen. Bei allen Gruppen kam es zu einer Zunahme der Lautstärke bei Verkleinerung des Abstands. Das Timing war statistisch unabhängig von Entfernung, Alter oder Gesangserfahrung.

Diskussion: Die Ergebnisse entsprechen den altersgemäßen Erwartungen und Studien bzgl. des Chorsingens bei Erwachsenen. Obwohl statistisch nachweisbar, bewegten sich die Effekte in einem kleinen Bereich. Die Ungenauigkeiten der Intonation und rhythmischen Präzision bei den jüngsten Sängern könnte damit einhergehen, dass während der Pandemie keine Präsenz-Proben stattfanden. Die Zunahme der Lautstärke bei abnehmendem Abstand ist mglw. ein Ausgleichsverhalten für die abnehmende sog. Self-to-other-ratio.

Fazit: Das Singen mit großen Abständen von 3 m beeinträchtigt die Fähigkeiten im Chorsingen v. a. bei Knaben im Anfängerstadium. Bei Konzertsängergruppen mit hohem Ausbildungsstand zeigten sich kaum Unterschiede.


Text

Hintergrund

Die erhöhte Aerosolproduktion beim Singen führte während der Covid-19-Pandemie zu einem völligen Verbot des Chorsingens oder zu der Empfehlung, mit Abstand zu singen. Es ist jedoch noch nicht klar, wie sich größere Abstände auf die musikalische Leistung – d. h. Intonation, Lautstärke und rhythmische Präzision – insbesondere von Knabenchören auswirken, was wiederum den Fortschritt in der Gesangsausbildung beeinträchtigen kann. Bei erwachsenen Sänger:innen wurde gezeigt, dass die sog. Self-to-other-ratio (SOR), also das Verhältnis des Höreindrucks zwischen Sänger:in und Nachbar:in, eine wichtige Rolle in der Koordination der eigenen Stimme spielt [1]. Wenn die Abstände zu klein sind, ist die Eigenwahrnehmung möglicherweise beeinträchtigt [2], während andererseits zu große Abstände durch Verunsicherung zu verminderter Leistung führen können [3]. Weiterhin wurde in der Literatur die Problematik der hauptsächlich frontalen Abstrahlungsrichtung beim Singen im Frequenzbereich 500–2.000 Hz beschrieben [4], welche für hohe Stimmen, wie bspw. Knaben, das Hören der Nachbar:innen erschwert. Warrener reflektiert die musikalischen Entwicklungsstufen der Kindheit auf Basis von Piaget’s Entwicklungsmodell [5] und geht davon aus, dass im Alter von 9 Jahren Stabilität in Rhythmus-, Tonalitätsempfinden und Perzeption erreicht werden kann. Die vorliegende Studie möchte überprüfen, ob und wie diese Erkenntnisse auf den organisierten, professionellen Knabenchorkontext übertragbar sind.

Material und Methoden

Aus zwei renommierten Knabenchören (Windsbacher Knabenchor, Tölzer Knabenchor) wurden je 3 Gruppen (Alter: 7–8 J., 10–11 J., 10–13 J., 11–12 J., 13–14 J., 14–16 J.; Gesangserfahrung: 1–2 J., 3–4 J., 4–7 J.) mit je 5 Sängern aufgefordert, die Melodie der „Ode an die Freude“ aus Beethovens 9. Sinfonie „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“ in A-Dur zu singen. Die Teilnehmer standen in einem einreihigen Halbkreis (Radius: 4 m) mit Abständen zwischen den Probanden von je nach Aufgabe 3 m, 1,5 m oder 0,5 m. In einer Zusatzaufgabe trugen die Probanden Sängermasken (Abstand: 0,5 m). Die Stimmen wurden mit Headsets und einem zentral platzierten Mikrofon sowie einem Schallpegelmesser aufgenommen. Analysiert wurden die gruppeninternen Abweichungen der Grundfrequenz sowie die Grundfrequenz in Bezug auf eine ideale Liedversion, die spektrale Energie und rhythmische Genauigkeit. In Kovarianz-Analysen wurden die Ergebnisse in Bezug zu Alter und Ausbildungsstand gesetzt.

Ergebnisse

Für die Faktorkombination von Alter und Entfernung waren Wechselwirkungen statistisch nachweisbar. Während es bei den Konzertchören nur geringe Unterschiede zwischen den verschiedenen Aufgaben gab (Abbildung 1 [Abb. 1], Gruppe c), zeigten die jüngsten Sänger (Abbildung 1 [Abb. 1], Gruppe d) grundsätzlich große Grundfrequenzstreuungen und eine kontinuierliche Abnahme der Grundfrequenzgenauigkeit bei größeren Entfernungen. Die Genauigkeit bei der Wiederholungsmessung im Abstand von 3 m zeigte eine Verbesserung im Vergleich zu den vorher gemessenen Tasks. Bei allen Gruppen kam es zu einer Zunahme der Lautstärke bei Verkleinerung des Abstands (Abbildung 2 [Abb. 2]). Die rhythmische Präzision war statistisch unabhängig von Entfernung, Alter oder Gesangserfahrung.

Diskussion

Die Ergebnisse entsprechen insgesamt den eingangs erwähnten altersgemäßen Erwartungen sowie den Studien bzgl. des Chorsingens bei Erwachsenen.

Obwohl statistisch nachweisbar, bewegten sich die Effekte jedoch in einem kleinen Bereich. Die Ungenauigkeiten der Intonation bei den jüngsten Sängern könnten damit einhergehen, dass für diese Gruppe während der Pandemie keine Präsenz-Proben stattfanden. Die Verbesserung der Grundfrequenzgenauigkeit bei der Wiederholungsmessung könnte auf einen Lerneffekt hindeuten. Es wurde nur eine Gruppe mit Sängern unter 10 Jahren gemessen. Für ein besseres Verständnis des Zusammenhangs von Alter und Tontrefferquote bedürfte es mindestens einer weiteren Vergleichsgruppe von unter 10-Jährigen. Es wurde in einer halbkreisförmigen Reihenaufstellung von lediglich 5 Sängern gemessen. Andere Anordnungen wie bspw. versetzte Reihen aus mehr als 5 Sängern könnten zu anderen Ergebnissen führen.

Die Zunahme der Lautstärke bei abnehmendem Abstand ist möglicherweise ein Ausgleichsverhalten für die abnehmende SOR. Die gleichbleibende Leistung in der rhythmischen Synchronität lässt sich durch das optische Signal der Dirigenten erklären.

Fazit

Das Singen mit großen Abständen von 3 m beeinträchtigt die intonatorischen Fähigkeiten im Chorsingen v. a. bei Knaben im Anfängerstadium. Bei Konzertsängergruppen mit hohem Ausbildungsstand zeigten sich kaum Unterschiede.


Literatur

1.
Ternström S. Preferred self-to-other ratios in choir singing. J Acousical Soc Am. 1999;105(6):3563-74. DOI:10.1121/1.424680 External link
2.
Tonkinson S. The Lombard effect in choral singing. 1990.
3.
Daugherty JF. Choir Spacing and Formation: Choral Sound Preferences in Random, Synergistic, and Gender-Specific Chamber Choir Placements. Int J Res Choral Sing. 2003:48-59.
4.
Ternström S, Jers H, Nix J. Group and Ensemble Vocal Music. In: The Oxford Handbook of Music Education. Vol. I. 2012.
5.
Warrener JJ. Applying Learning Theory to Musical Development: Piaget and Beyond. Music Educ J. 1985;72(3):22-7. DOI:10.2307/3400534 External link