gms | German Medical Science

37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 18.09.2021, digital

Zeigt sich die Entwicklung der Indikationserweiterung zur Cochleaimplantat-Versorgung bei Kindern und Jugendlichen im Deutschen Zentralregister für kindliche Hörstörungen (DZH)?

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Anke Hirschfelder - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • Jonas Lüske - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • Friederike Wohlfarth - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • Linda Müller - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • Dirk Mürbe - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland

37. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). sine loco [digital], 17.-18.09.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. DocV10

doi: 10.3205/21dgpp21, urn:nbn:de:0183-21dgpp216

Published: October 28, 2021

© 2021 Hirschfelder et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Das DZH umfasst über 15.500 Datensätze von Kindern und Jugendlichen mit einer permanenten Schwerhörigkeit. Bei 1178 dieser Kinder (7,59%) wurde eine uni- oder bilaterale Cochleaimplantat (CI)-Versorgung als Therapie angegeben (Stand 02/2021). Die Indikation zur CI-Versorgung von Kindern wurde in den letzten 30 Jahren schrittweise erweitert. Dies betrifft sowohl die audiologischen Kriterien und das Alter bei Implantation als auch die Entscheidung zwischen einer uni- vs. bilateralen Versorgung. Wir untersuchten die Fragestellung, ob sich diese Entwicklung in den Registerdaten abbildet.

Material und Methoden: In einer Abfrage des Registers mittels Microsoft Access werden die Datensätze der Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre mit nach heutigem Standard bilateraler audiologisch möglicher CI-Indikation (mittlerer Hörverlust von 0,5–4 kHz >70 dB) der Geburtsjahrgänge (GJ) ab 1990 in 5-Jahres-Zeiträumen ermittelt. Der Verlauf von Diagnosealter und Therapiebeginn sowie die Art der Hörsystemversorgung (CI uni- oder bilateral oder bimodale Versorgung) werden untersucht.

Ergebnisse: Insgesamt findet sich bei 3275 der im Register erfassten Kinder und Jugendlichen bilateral eine mittlere Hörschwelle >70 dB HL. Eine CI-Versorgung wurde bei 1045 dieser Kinder (31,9%) gemeldet. Von diesen liegen 782 vollständige Datensätze bzgl. Hörschwelle, Diagnosezeitpunkt und Therapiebeginn ab dem GJ 1990 vor, die in die weitere Auswertung eingeschlossen werden. Das mittlere Diagnosealter der GJ ab 1990–94 bis 2015–19 sinkt stetig, von 1;11 Jahren (SD 2;1 J.) auf 8 Monate (SD 9 M.). Auch der mittlere Therapiebeginn sinkt von 2;1 J. (SD 2;0 J.) auf 9 M. (SD 9 M.). Eine bimodale Versorgung wird in den GJ bis 1999 im Vergleich zu späteren GJ häufiger gemeldet (≥90%). In den GJ 2015–19 sind nur noch 6,1% bimodal versorgt zugunsten der bilateralen CI-Versorgung (bis 1999 bei <7%, 2015–19 bei 90,9% angegeben).

Diskussion: Das sinkende Alter bei Diagnosestellung und Therapieeinleitung bei Kindern mit mindestens hochgradiger Schwerhörigkeit bds. für die GJ seit 1990 ist eine positive Entwicklung, die sich auf die verbesserten Diagnostik- und Versorgungsoptionen zurückführen lassen kann, u.a. die gesetzliche Einführung des Neugeborenenhörscreenings, die frühe Hörsystemversorgung und die Erweiterung der CI-Indikation. Allerdings ist der mittlere Diagnose- und Therapiezeitpunkt mit zuletzt 8 bzw. 9 Monaten weiterhin optimierungswürdig. Die Erweiterung der CI-Indikation hinsichtlich der bilateralen Versorgung bildet sich in den Registerdaten gut ab.

Fazit: Zur Optimierung des Therapiezeitpunkts plädieren wir für ein flächendeckendes Neugeborenenhörscreening mit gesichertem Tracking, die Erweiterung des Angebots pädaudiologischer Folgediagnostik und einen frühestmöglichen Hörgerätetrageversuch in Verbindung mit dem Beginn einer familienzentrierten sinnesspezifischen Frühförderung/Hör-Sprachtherapie mit Elternberatung trotz erwarteter Cochleaimplantat-Versorgung in der 2. Hälfte des 1. Lebensjahres.


Text

Hintergrund

Im Deutschen Zentralregister für kindliche Hörstörungen (DZH) werden seit 1995 permanente Schwerhörigkeiten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland erfasst. Erhoben werden u.a. epidemiologische Daten zur Art der Hörstörung, zur Hörschwelle und zur Art der Hörsystemversorgung, weiterhin können das Alter bei Diagnosestellung und Therapiebeginn berechnet werden. Zum Zeitpunkt der Auswertung am 15.02.2021 umfasst das Register 15.523 Datensätze. Bei insgesamt 1178 der Kinder, Jugendlichen und mittlerweile Erwachsenen (7,59%) wurde eine uni- oder bilaterale Cochleaimplantat (CI)-Versorgung als Therapie angegeben. Es wird untersucht, ob sich die schrittweise Erweiterung der Indikation zur CI-Versorgung bei Kindern mit beidseitiger, mindestens hochgradiger Schwerhörigkeit innerhalb der letzten 30 Jahre hinsichtlich audiologischer Kriterien, Alter bei Therapiebeginn und uni- versus bilateraler Versorgung in den Registerdaten abbildet.

Material und Methoden

In einer Registerabfrage mittels Microsoft Access werden die Datensätze der Kinder und Jugendlichen mit nach heutigem Standard bilateraler, audiologisch möglicher CI-Indikation (mittlerer Hörverlust von 0,5 bis 4 kHz >70 dB [1], S. 29) ermittelt und weiter mittels Microsoft Excel ausgewertet. Die Geburtsjahrgänge 1990–1994, 1995–1999, 2000–2004, 2005–2009, 2010–2014 und 2015–2019 werden in sechs Kohorten zusammengefasst. Die Veränderungen des Alters bei Diagnosestellung, bei Therapiebeginn sowie die Art der Hörsystemversorgung (CI uni- oder bilateral oder bimodale Versorgung) werden im Zeitverlauf untersucht.

Ergebnisse

Insgesamt findet sich bei 3275 der im Register erfassten Kinder und Jugendlichen bilateral eine mittlere Hörschwelle >70 dB HL. Eine CI-Versorgung wurde bei 1045 dieser Kinder (31,9%) gemeldet. Bei Auswertung nur der Patienten mit mittleren Hörschwellen >80 dB HL bds. erhöht sich dieser Anteil auf 38,2%. Es liegen insgesamt 782 vollständige Datensätze bzgl. Diagnosezeitpunkt, Therapiebeginn und frequenzspezifischer Hörschwelle (bds. >70 dB HL) CI-versorgter Kinder ab dem Geburtsjahrgang 1990 vor, die in die weitere Auswertung eingeschlossen werden. Das Alter sowohl bei Diagnosestellung als auch bei Therapiebeginn sinkt im Median von 1;3 J. (MW 1;11 J., SD 2;0 J.) bzw. 1;6 J. (MW 2;1 J., SD 2;0 J.) in den Geburtsjahrgängen 1990 bis 1994 über 1;2 J. (MW ebenfalls 1;2 J., SD 1;1 J.) bzw. 1;3 J. (MW 1;3 J., SD 1;8 J.) in den Geburtsjahrgängen 2005 bis 2009 bis auf 0;4 J. (MW 0;8 J., SD 0;9 J.) bzw. 0;6 J. (MW 0;9 J., SD 0;9 J.) in den Geburtsjahrgängen 2015 bis 2019 (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Eine bimodale Versorgung mit CI und Hörgerät erfolgt zugunsten den bilateralen CI-Versorgung zunehmend seltener (Abbildung 2 [Abb. 2]).

Während diese Versorgungsform in den Geburtsjahrgängen 1990–1994 bzw. 1995–1999 noch bei 94,8% bzw. 90,0% der Patient*innen gemeldet wurde, wurde sie in den Geburtsjahrgängen zwischen 2000–2004 und 2005–2009 noch bei 59,6% bzw. 34,3% und zwischen 2010–2014 und 2015–2019 bei 18,9% und 6,1% der Patient*innen beschrieben. Entsprechend nahm die bilaterale CI-Versorgung zu (in 5-Jahres-Gruppen ab 1990/1995/2000/2005/2010/2015 bei 3,2%/6,5%/34,8%/62,0%/77,5% und 90,9% der Patient*innen angegeben). Eine unilaterale CI-Versorgung ohne Versorgung des Gegenohres besteht über alle Geburtsjahrgänge nur bei 1,9% bis 5,7% der CI-Kinder. Die Versorgung mit Hybridgeräten zur elektroakustischen Stimulation wird im Register nicht erfasst.

Diskussion

Die Entwicklung der letzten 30 Jahre zugunsten einer frühen Diagnostik und Therapieeinleitung sowie hin zur bilateralen Cochleaimplantat-Versorgung von Kindern mit mindestens hochgradiger Schwerhörigkeit beidseits (>70 dB) kann anhand der Daten des DZH gut nachvollzogen werden. Dies deutet auf ein zunehmend besseres Diagnostik- und Versorgungsangebot für Kinder und Jugendliche mit Hörstörungen hin. Dennoch erscheinen Diagnosezeitpunkt und Therapiebeginn mit im Mittel 8 und 9 Monaten (Median 4 und 6 Monaten) weiterhin optimierungsbedürftig. Direkte Rückschlüsse hinsichtlich der Indikationserweiterung zur frühen Cochleaimplantat-Versorgung lassen sich nicht ziehen, da keine therapiespezifischen Daten erfasst werden. Ebensowenig kann eine Aussage hinsichtlich des absoluten Anteils CI-versorgter Kinder an Kindern mit nach heutigem Standard audiologisch möglicher CI-Indikation getroffen werden, da die Datensätze häufig nicht vollständig sind und Nachmeldungen zu einer späteren CI-Versorgung nicht regelhaft erfolgen. Relativ nimmt der Anteil CI-versorgter Kinder und Jugendlicher innerhalb der untersuchten Kohorten seit 1995 zu.

Fazit

Das DZH kann als epidemiologisches Register Hinweise zur Qualitätssicherung der Versorgung hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher geben, zeigt die Indikationserweiterung zur CI-Versorgung aber nur in Teilaspekten. Zur Optimierung des Therapiezeitpunkts plädieren wir für ein flächendeckendes Neugeborenenhörscreening mit gesichertem Tracking, die Erweiterung des Angebots pädaudiologischer Folgediagnostik und einen frühestmöglichen Hörgerätetrageversuch in Verbindung mit dem Beginn einer familienzentrierten sinnesspezifischen Frühförderung/Hör-Sprachtherapie mit Elternberatung auch bei geplanter CI-Versorgung innerhalb des 1. Lebensjahres.


Literatur

1.
Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V. (DGHNO-KHC), Hrsg. S2k-Leitlinie Cochlea-Implantat Versorgung – AWMF-Register-Nr. 017/071. 2020 Okt 31. Verfügbar unter: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/017-071l_S2k_Cochlea-Implantat-Versorgung-zentral-auditorische-Implantate_2020-12.pdf External link