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34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Bern, 14.09. - 17.09.2017

20 Jahre Deutsches Zentralregister für kindliche Hörstörungen (DZH) – Ein Rückblick

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Sarah Kugelstadt - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité, Berlin, Deutschland
  • author Tadeus Nawka - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité, Berlin, Deutschland
  • author Philipp P. Caffier - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité, Berlin, Deutschland
  • author Friederike Wohlfarth - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité, Berlin, Deutschland
  • author Seo-Rin Ko - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité, Berlin, Deutschland
  • author Manfred Gross - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité, Berlin, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), Dreiländertagung D-A-CH. Bern, Schweiz, 14.-17.09.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV14

doi: 10.3205/17dgpp28, urn:nbn:de:0183-17dgpp282

Published: August 30, 2017

© 2017 Kugelstadt et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Das Deutsche Zentralregister für kindliche Hörstörungen (DZH) wurde 1994 von Prof. Manfred Gross konzipiert und aufgebaut. Es wird an der Klinik für Audiologie und Phoniatrie der Charité geführt und erfasst seit 1996 Kinder mit Hörstörungen aus ganz Deutschland. Inwieweit haben sich in den letzten 20 Jahren das Alter bei der Diagnosestellung und die therapeutische Versorgung von Kindern mit Hörstörungen geändert?

Material und Methoden: Die Erfassung hörgestörter Kinder im DZH erfolgt retrospektiv in 2 Schritten: Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie, HNO-Ärzte und Pädiater, die bei Kindern die Diagnose einer Hörstörungen stellen, werden deutschlandweit angeschrieben. Sie melden mit einer Postkarte die Anzahl neu aufgetretener Fälle. Anschließend werden nach Einverständnis der Eltern detaillierte Meldebögen ausgefüllt.

Ergebnisse: Zum Stichtag 30.04.2017 waren im DZH die Daten von 14.239 Kindern und mittlerweile Erwachsenen mit Hörstörungen registriert. Das Alter der Kinder bei Sicherung der Diagnose sank in den letzten 20 Jahren. Für die Geburtsjahrgänge 1985–1989 (Kohorte I, n=922) betrug das durchschnittliche Alter bei Diagnosestellung 6,2±4,4 Jahre (MW±SD), für die Geb.-Jgg 2010–2014 (Kohorte II, n=1123) 1,3±1,3 Jahre, und für die Geb.-Jgg 2015–2017 (Kohorte III, n=230) 0,4±0,3 Jahre. Diese Entwicklung betraf am deutlichsten geringgradige Hörstörungen (<40 dB HL): Für die Kohorte I lag der Diagnosezeitpunkt bei durchschnittlich 10,6±4,6 Jahren, für die Kohorte III im Mittel bei 1,7±1,1 Jahren. Das mittlere Intervall zwischen Vermutung und Sicherung der Diagnose unabhängig vom Hörstörungsgrad hat sich von 17,1±28,9 Monaten (Kohorte I), über 6,9±8,8 Monate (Kohorte II) auf 3,6±2,5 Monate (Kohorte III) reduziert. Das mittlere Intervall zwischen Sicherstellung der Diagnose und therapeutischer Versorgung verringerte sich von 24,3±33,1 Monaten (Kohorte I), über 8,6±10,7 Monate (Kohorte II) auf 4,7±3,0 Monate (Kohorte III), unabhängig vom Grad der Hörstörung.

Fazit: Das Alter bei Diagnosestellung und das Zeitintervall bis zur therapeutischen Versorgung ist in den letzten Jahren deutlich reduziert worden. Mit der Weiterführung des DZH werden auch in Zukunft Informationen für epidemiologische und humangenetische Fragestellungen in Bezug auf kindliche Hörstörungen zur Verfügung stehen.


Text

Hintergrund

Das Deutsche Zentralregister für kindliche Hörstörungen (DZH) wurde 1994 von Prof. Manfred Gross konzipiert und aufgebaut. Es wird an der Klinik für Audiologie und Phoniatrie der Charité geführt und erfasst seit 1996 Kinder mit Hörstörungen aus ganz Deutschland. Inwieweit haben sich in den letzten 20 Jahren das Alter bei der Diagnosestellung und die therapeutische Versorgung von Kindern mit Hörstörungen geändert?

Methoden

Die Erfassung hörgestörter Kinder im DZH erfolgt retrospektiv in 2 Schritten: Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie, HNO-Ärzte und Pädiater, die bei Kindern die Diagnose einer Hörstörungen stellen, werden Deutschlandweit angeschrieben. Sie melden mit einer Postkarte die Anzahl neu aufgetretener Fälle. Anschließend werden nach Einverständnis der Eltern detaillierte Meldebögen ausgefüllt.

Ergebnisse

Zum Stichtag 30.04.2017 waren im DZH die Daten von 14.239 Kindern und mittlerweile Erwachsenen mit Hörstörungen registriert. Von den 14.239 erfassten Patienten sind 86,0% von einer sensorineuralen Innenohrhörstörung betroffen, 8,4% von einer kombinierten Schwerhörigkeit, 5,8% von einer Schallleitungsschwerhörigkeit und nur 1,0% von einer zentralen Schwerhörigkeit. 81,4% der Patienten haben eine beidseitige Hörstörung, 18,2% eine einseitige, bei 0,4% wurde keine Angabe gemacht. Der Grad des Hörverlustes von beidseits hörgestörten Patienten teilt sich wie folgt auf: Leichtgradige Hörstörung 23,8%, mittelgradige Hörstörung 31,8%, hochgradige Hörstörung 11,3% und an Taubheit grenzend schwerhörig sind 14,6%. Zu den Ursachen der kindlichen Hörstörungen werden bei Meldung an das DZH folgende Angaben gemacht: 38% der Hörstörungen sind am ehesten genetischer Ursache, 16% sind am ehesten erworben. Bei 46% ist die Ursache der Hörstörung bei Meldung im DZH unbekannt (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Bei Patienten mit beidseitigem Hörverlust mit den Geburtsjahrgängen 1985–1989 (Kohorte I, n=922) betrug das durchschnittliche Alter bei Diagnosestellung 6,2±4,4 Jahre (MW±SD), für die Geb.-Jgg 2010–2014 (Kohorte II, n=1123) 1,3±1,3 Jahre, und für die Geb.-Jgg 2015–2017 (Kohorte III, n=230) 0,4±0,3 Jahre. Diese Entwicklung betraf am deutlichsten geringgradige Hörstörungen (<40 dB HL): Für die Kohorte I lag der Diagnosezeitpunkt bei durchschnittlich 10,6±4,6 Jahren, für die Kohorte III im Mittel bei 1,7±1,1 Jahren. Das mittlere Intervall zwischen Vermutung (z.B. durch das Neugeborenenhörscreening, die Eltern, ErzieherInnen oder Ärzte anderer Fachrichtungen) und Sicherung der Diagnose unabhängig vom Hörstörungsgrad hat sich von 17,1±28,9 Monaten (Kohorte I), über 6,9±8,8 Monate (Kohorte II) auf 3,6±2,5 Monate (Kohorte III) reduziert. Das mittlere Intervall zwischen Sicherstellung der Diagnose und Versorgung z.B. mittels Hörgerät oder Cochlea Implantat verringerte sich von 24,3±33,1 Monaten (Kohorte I), über 8,6±10,7 Monate (Kohorte II) auf 4,7±3,0 Monate (Kohorte III), unabhängig vom Grad der Hörstörung.

Diskussion

Neugeborene haben ab dem 1. Januar 2009 einen gesetzlichen Anspruch auf das Neugeborenen-Hörscreening als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Vom Gesetzgeber sind ein Diagnosezeitpunkt mit 3 Monaten und ein Therapiebeginn mit 6 Monaten als nachprüfbare Ziele festgelegt [1]. Wir wollten mithilfe der Daten aus dem DZH feststellen, ob sich in den letzten Jahren das Alter bei Diagnosestellung einer Hörstörung verringert hat. Der Zeitpunkt der Diagnosestellung einer Hörstörung bei Kindern lag in Deutschland vor Einführung des bundesweiten Neugeborenen-Hörscreenings im Mittel bei einem Alter von über zwei Jahren. In dem Endbericht der Evaluation des Neugeborenen-Hörscreenings 2011/2012 lag der Diagnosezeitpunkt einer konnatalen Hörstörung im Jahr 2012 im Mittel bei 6,4 Monaten, im Median bei vier Monaten. Im Vergleich zum Jahr 2011, mit 8,8 Monaten im Mittel und einem Median von fünf Monaten, war das Diagnosealter im Jahr 2012 signifikant niedriger [2]. Unsere Ergebnisse zeigen auch, dass der Diagnosezeitpunkt in den letzten Jahren deutlich früher liegt, aber nicht so früh wie aus den Ergebnissen der Evaluation des Neugeborenen-Hörscreenings hervorgeht. Das liegt daran, dass Daten aus dem DZH sich vielfältiger zusammensetzen; es werden sowohl Hörstörungen erfasst, die bereits im Hörscreening auffallen, als auch erst später erworbene Hörstörungen. Die große Anzahl an Zuwanderungen in den letzten Jahren wirkt der erwartbaren Entwicklung entgegen, dass sich das Alter bei Diagnosestellung weiter durch Optimierung des Hörscreenings verringert. Größere Kinder oder Kinder im Schulalter mit verschiedenen Schwerhörigkeitsgraden bis hin zu an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit, die erst seit Kurzem in Deutschland leben, werden hier erstmals diagnostiziert oder erhalten zumindest erstmals eine pädaudiologische Diagnostik, wonach auch erstmals eine Hörgeräteversorgung initiiert wird. Eine gesonderte Untersuchung hierzu wäre erstrebenswert.

Fazit

Das Alter bei Diagnosestellung und das Zeitintervall bis zur therapeutischen Versorgung ist in den letzten Jahren deutlich reduziert worden. Mit der Weiterführung des DZH werden auch in Zukunft Informationen für epidemiologische und humangenetische Fragestellungen in Bezug auf kindliche Hörstörungen zur Verfügung stehen.


Literatur

1.
Bundesministerium für Gesundheit. Beschluss des gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Kinder-Richtlinien: Einführung eines Neugeborenen-Hörscreenings vom 19. Juni 2008. Dtsch Arztebl. 2008;105(43):A-2289/B-1957/C1905.
2.
Endbericht zur Evaluation des Neugeborenen-Hörscreenings 2011/2012. Verfügbar unter: https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4395/2017-05-18_Kinder-RL_Annahme_Endbericht_NHS-Bericht.pdf External link