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32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

24.09. - 27.09.2015, Oldenburg

Wie unterscheiden sich Migrantenkinder im Vorschulalter mit guter Ausprägung im Verständnis der deutschen Sprache von solchen mit schlechter Ausprägung? Eine Extremgruppenbetrachtung

Vortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Oldenburg, 24.-27.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. Doc60

doi: 10.3205/15dgpp54, urn:nbn:de:0183-15dgpp548

Published: September 7, 2015

© 2015 Poinstingl et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die zunehmende Zahl an Kindern mit Migrationshintergrund (KmM) in Deutschland macht die adäquate Beherrschung der deutschen Sprache für eine erfolgreiche gesellschaftliche Integration und Teilnahme am Schulunterricht immer dringlicher. Wichtig ist daher zu wissen, welche Variablen Unterschiede in Sprachkompetenz und Sprachperformanz bei KmM erklären?

Methode: Extremgruppenvergleich bzgl. ausgesuchter Sprachmerkmale; Diskriminanzanalyse. Studienkollektiv: Aus einer Stichprobe von Vorschulkindern (KmM) im Großraum Frankfurt (N=264) wurden 2 Extremgruppen (N=126) anhand ihrer Leistung im SETK 3-5-Subtest „Sätze Verstehen, SV“ gezogen: Eine „gute“ Gruppe: PR≥75, T-Wert≥46; N=61 (48%) u. eine „schlechte“ Gruppe: PR≤26, T-Wert≤32; N=65 (52%). Untersuchungsmaterial: K-ABC; SETK 3-5-Subtest „SV“; WET-Subtests: „Puppenspiel“, „Wörter Erklären“, „Zahlen Merken“; KISTE: IKO.

Ergebnisse: Die mittl. Intelligenzhöhe (K-ABC-SIF) war in beiden Gruppen durchschnittlich. In der „guten“ Gruppe betrug der T-Wert 54.1 (SD=6.7) und lag somit über der Altersnorm, in der „schlechten“ Gruppe lag er mit 42.2 (8.8) unter dem Altersmittel. Bei Überprüfung der Mittelwertunterschiede in den o.g. Sprachtests unterschieden sich die beiden Gruppen voneinander signifikant. In einer schrittweisen Diskriminanzanalyse (N=76 wg. missing data) waren folgende Prädiktoren für eine eher unauffällige Entwicklung von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) signifikant: Bildungsstand der Mutter; K-ABC-Skala intellektueller Fähigkeiten (SIF); KISTE-IKO; WET-Puppenspiel.

Fazit: Für den „guten“ Erwerb von DaZ sind intraindividuelle Variablen wie Intelligenzhöhe, die Fähigkeit, semantische u. grammatische Inkonsistenzen zu erkennen, Wortschatz, sowie als Umweltfaktor der Bildungsstand der nächsten Bezugsperson ausschlaggebend.


Text

Hintergrund

Die zunehmende Zahl an Kindern mit Migrationshintergrund (KmM) in Deutschland macht die adäquate Beherrschung der deutschen Sprache für eine erfolgreiche gesellschaftliche Integration und Teilnahme am Schulunterricht immer dringlicher, da durch empirische Studien das Risiko von Entwicklungsstörungen für solche Kinder herausgestellt wurde (z.B. [1]). In der vorliegenden Studie sollten deshalb leicht zugängliche Merkmalsvariablen diskriminanzanalytisch identifiziert werden, die bei KmM eine einfache Unterscheidung zum Sprachentwicklungsstand im Deutschen erlauben: in solche, die bestimmte Sprachmerkmale in sehr großer versus solche, die diese in sehr geringer Ausprägung aufweisen. Hierauf basierend könnte dann Eltern von KmM begründet zu weiterführenden diagnostischen und (sprach-)unterstützenden Maßnahmen geraten werden.

Studienkollektiv und Methode

Aus einer Stichprobe von Vorschulkindern im Großraum Frankfurt/M (N=264) wurden zwei Extremgruppen (insgesamt N=126) anhand ihrer Testleistung im SETK 3-5-Subtest „Sätze Verstehen (SV)“ gezogen: Die „gute Gruppe“ umfasste 61 (48%), „die schlechte Gruppe“ 65 (52%) Kinder. 24 (19%) Kinder hatten Deutsch und die übrigen Kinder (N=102; 81%) hatten eine andere Muttersprache. Um Effekte durch das unterschiedliche Lebensalter zum Zeitpunkt der Testung zu nivellieren, wurden standardisierte Testwerte (T-Werte [T]: M=50; Min: 20, Max: 80) verwendet. Testleistungen T≤40 (1 SD<M) sind demnach unterdurchschnittlich, Testleistungen T≥60 (1 SD>M) überdurchschnittlich.

Die „gute Gruppe“ (46% Jungen; 54% Mädchen) zeigte Testleistungen von PR≥75 (T≥46). Ihr durchschnittliches Lebensalter betrug M=52.08 Monate (SD 10.39; Min: 36, Max: 70 Monate). Von den 61 Kindern sprachen 21 (34%) primär Deutsch, die übrigen 40 (66%) eine nicht deutsche Muttersprache.

Die „schlechte Gruppe“ (45% Jungen; 55% Mädchen) hatte Testleistungen von PR≤26 (T≤32). Ihr durchschnittliches Lebensalter belief sich auf M=49.31 Monate (SD 8.5; Min: 36, Max: 71 Monate). Von den 65 Kindern sprachen nur 3 primär Deutsch.

Untersuchungsmaterial

Die beiden Extremgruppengruppen wurden hinsichtlich ihrer mittleren Ergebnisse in den u.g. psychodiagnostischen Tests miteinander verglichen:

  • Kaufman Assessment Battery for Children, dt.Version (K-ABC; [2]) – Skala intellektuelle Fähigkeiten (SIF). Diese Skala ist eine Zusammenfassung der K-ABC-Skalen einzelheitliches und ganzheitliches Denken und erlaubt eine Gesamteinschätzung des intellektuellen Funktionsniveaus;
  • Wiener Entwicklungstest (WET; [3]) – Subtests: „Puppenspiel“ (Sprachverständnis, verbales Interaktionsverstehen); „Wörter Erklären“ (Wortschatz); „Zahlen Merken“ (phonologisches Arbeitsgedächtnis);
  • Kindersprachtest für das Vorschulalter (KISTE; [4]): Subtest: Erkennen semantischer und grammatikalischer Inkonsistenzen (IKO).

Ergebnisse

Das mittlere intellektuelle Funktionsniveau war in beiden Gruppen „durchschnittlich“. „Gute Gruppe“: T: 54.1 (SD 6.7), somit über der Altersnorm gelegen; „schlechte Gruppe“: T: 42.2 (SD 8.8), damit unter dem Altersmittel gelegen. Die Mittelwertprüfung (t-Test für unabhängige Stichproben) deckte einen statistisch signifikanten Unterschied zu Gunsten der „guten Gruppe“ auf (t(112)=–8.389, p≤0.000).

Bei Überprüfung der Mittelwertunterschiede zeigten sich in allen Sprachtests signifikante Leistungsunterschiede: WET-„Wörter Erklären, (t(108)=–8.202, p≤0.000); WET-„Puppenspiel“ (t(100)=–7.881, p≤0.000); WET-„Zahlen Merken“ (t(121)=–4.244, p≤0.000); KISTE–Skala IKO (t(121)=–4.244, p≤0.000).

Nach einer schrittweisen Diskriminanzanalyse (N=76; wegen fehlender Daten wurde die Fallzahl reduziert) wurde die Gruppenzuordnung mittels Chi²-Test χ²(4, N=76)=65.748; p=0.000) signifikant bestätigt. Dabei waren folgende Prädiktoren für eine eher unauffällige Entwicklung von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) statistisch bedeutsam: Bildungsstand der Mutter; K-ABC-Skala SIF; KISTE-IKO; WET-Puppenspiel. Eine Analyse der vorhergesagten Gruppenzugehörigkeit belegte, dass 36 (88%) Kinder der „schlechten Gruppe“ und 42 (84%) Kinder der „guten Gruppe“ korrekt zugeordnet wurden. Hingegen wurden 8 (16%) Kinder der „guten Gruppe“ und 5 (12%) Kinder der „schlechten Gruppe“ falsch zugewiesen.

Diskussion

Die Gruppenzugehörigkeit wurde in großem Maße korrekt vorhergesagt und darf – verglichen mit einer zufälligen Zuordnung (p(zufällige Trefferquote) = 0.50) – als akzeptabel bezeichnet werden. Trotzdem sollten die Prädiktoren durch Kreuzvalidierungen an zusätzlichen Stichproben überprüft und die Parameter entsprechend den gewonnenen Ergebnissen adaptiert werden, um die Trefferrate der Vorhersagefunktion in neuen Datensammlungen sicherzustellen und erst einmal den Erziehern in Krippen und Kitas eine möglichst valide Prozedur zur Identifikation von Risikokindern mit der Indikation zur Feindiagnostik an die Hand zu geben.

Obwohl die Extremgruppen in Bezug auf das intellektuelle Funktionsniveau durchschnittliche Leistungen zeigen, unterscheidet sich die „gute Gruppe“ signifikant von der „schlechten“. Das könnte daran liegen, dass die K-ABC-Subtests, wenn auch weitestgehend sprachfrei, sprachlich instruiert werden. Aus diesem Grund sollte besser auf einen sprachfreien „culture free“ Test zurückgegriffen werden, der fluide Intelligenz misst wie z.B. die Coloured Progressive Matrices [5].

Den oft zitierten zeitlich schnelleren (früheren) Spracherwerb von Mädchen gegenüber Jungen konnten wir nicht nachweisen. In beiden Extremgruppen gab es ein ausgeglichenes prozentuales und vergleichbares Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen („gute Gruppe“: 46% männl., 54% weibl.; „schlechte Gruppe“: 45% männl., 55% weibl).

Fazit

Zusammengefasst konnten wir mit unserer Studie 4 valide Marker identifizieren, die es Phoniatern/Pädaudiologen, Logopäden, Erziehern in Kitas und allen anderen Berufsgruppen, die für die Entwicklung von jungen KmM verantwortlich sind, die Möglichkeit geben, einen tendenziell problemlosen Erwerb von DaZ bei KmM zu erkennen („Quick and Dirty“). Für den „guten“ Erwerb der deutschen Sprache durch KmM sind einerseits intraindividuelle Variablen wie (1) Intelligenzhöhe, (2) die Fähigkeit, semantische und grammatische Inkonsistenzen zu erkennen, (3) Wortschatzressourcen sowie andererseits extraindividuell (4) der Bildungsstand der nächsten Bezugsperson in Verbindung mit fehlenden/unzureichenden Deutschkenntnissen bei den Eltern ausschlaggebend – stets in Richtung „niedrig“. In der „schlechten Gruppe“ wurde in 95% der Fälle zu Hause nicht Deutsch gesprochen. Der erfolgreiche Erwerb von DaZ setzt aber ein diesbezüglich beständig stimulierendes Elternhaus voraus.


Literatur

1.
Bauer A, Daseking M, Knievel J, Petermann F, Waldmann HC. Kognitive Entwicklungsrisiken bei zweisprachig aufwachsenden Kindern mit Migrationshintergrund im Vorschulalter. Prax Kinderpsychol Kinderpsychiatr. 2011;60(5):351-68. DOI: 10.13109/prkk.2011.60.5.351 External link
2.
Melchers P, Preuß U. Kaufman Assessment Battery for Children, dt. Version (K-ABC). 8. unveränd. Aufl. Frankfurt/M.: Pearson Assessment; 2009.
3.
Kastner-Koller U, Deimann P. Der Wiener Entwicklungstest (WET). 2. überarb. u. neu normierte Aufl. Göttingen: Hogrefe; 2002.
4.
Häuser D, Kasielke E, Scheidereiter U. Kindersprachtest für das Vorschulalter - KISTE. Weinheim: Beltz; 1994.
5.
Bulheller S, Häcker H. Coloured Progressive Matrices. Dt. Bearb. u. Normierung nach JC Raven. Frankfurt: Swets Test Services; 2002.
6.
Backhaus K, Erichson B, Plinke W, Weiber R. Multivariate Analysemethoden: Eine anwendungsorientierte Einführung. Heidelberg: Springer; 2013.
7.
Bortz, J. Statistik: Für Human-und Sozialwissenschaftler. Heidelberg: Springer; 2006.
8.
Grimm H. Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK 3-5). Göttingen: Hogrefe; 2001.