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32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

24.09. - 27.09.2015, Oldenburg

Gleichgewichtsprüfung bei Kindern mit sensorineuraler Hörstörung

Vortrag

  • author presenting/speaker Fabian Patzschke - Hals-Nasen-Ohren-Klinik Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland
  • author Annerose Keilmann - Stimmheilzentrum Bad Rappenau, Bad Rappenau, Deutschland
  • author Anne K. Läßig - Hals-Nasen-Ohren-Klinik Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland
  • corresponding author Kai Helling - Hals-Nasen-Ohren-Klinik Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 32. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Oldenburg, 24.-27.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. Doc24

doi: 10.3205/15dgpp48, urn:nbn:de:0183-15dgpp484

Published: September 7, 2015

© 2015 Patzschke et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Bei Kindern mit einer Innenohrschwerhörigkeit finden sich häufig Beeinträchtigungen der Vestibularorganfunktion. Die Literatur zu diesem Thema ist sehr rar, so dass keine standardisierte, altersabhängige Testbatterie für realisierbare Gleichgewichtsuntersuchungen existiert.

Material und Methoden: In einer klinischen Querschnittsstudie wurden 100 Kinder (51 Jungen, 49 Mädchen) im Alter von 2–10 Jahren (Median 5 Jahre) anhand der audiologischen Diagnostik (Art der Hörstörung, Hörschwellenbestimmung) ausgewählt und untersucht. Es erfolgten: Leuchtbrillentestung (Spontan- und Kopfschüttelnystagmus), okulomotorische Prüfung, Koordinationsprüfungen, vestibulospinale Tests (Gangbild, Romberg und Tandem-Romberg – jeweils auf fester und weicher Unterlage), Ableitung der cVEMP und Bestimmung der subjektiven visuellen Vertikalen (SVV mittels Eimervertikalentest) zur Otolithenfunktionsprüfung. Die Daten wurden in eine Datenmaske eingegeben und mit SPSS ausgewertet.

Ergebnisse: Exemplarisch wird die alters- und hörschwellenabhängige Durchführbarkeit dargestellt: 75 Kinder (mittleres Alter 5,57 Jahre, medianer Hörverlust 57,5 dB) absolvierten die cVEMP-Ableitung. Das Alter der Kinder die nicht untersucht werden konnten, lag im Mittel bei 3,72 Jahren (medianer Hörverlust 86,88 dB). Bei 68 Kindern (mittleres Alter 6,15 Jahre, medianer Hörverlust 55,63 dB) war der Eimervertikalentest durchführbar. Das Alter der Kinder die nicht untersucht werden konnten, lag im Mittel bei 3,11 Jahren (medianer Hörverlust 76,88 dB).

Diskussion: Die Beurteilung der altersabhängigen Durchführbarkeit von Gleichgewichtsuntersuchungen bei Kindern mittels logistischer Regression ermöglicht erstmals die Abschätzung des wahrscheinlichen Untersuchungserfolgs. Während Untersuchungen zur Bestimmung der cVEMP bei Kindern vorliegen, überraschen die Ergebnisse zur Einschätzung der SVV aufgrund der hohen Genauigkeit und Reproduzierbarkeit.

Fazit: Die Durchführbarkeit der Tests wird neben dem Alter anscheinend auch durch die Schwere der Hörstörung beeinflusst.


Text

Hintergrund

Kinder mit einer Innenohrschwerhörigkeit haben häufig Beeinträchtigungen der Vestibularorganfunktion. Da etwaige Funktionsstörungen der Gleichgewichtsorgane bei Kindern sehr gut durch zentrale Ausgleichsvorgänge kompensiert werden, bleiben sie, im Gegensatz zur Hörstörung, oftmals unentdeckt. Da jedoch gerade die Gleichgewichtsdiagnostik aktive Mitarbeit und das Verständnis der gestellten Aufgaben erfordert, stellt die Durchführbarkeit der Untersuchungen bei Kindern ein Problem dar. Oftmals verstehen besonders kleine Kinder die gestellten Aufgaben nicht, was bei Kindern mit Hör- und den oft begleitenden Sprachentwicklungsstörungen noch häufiger vorkommt. Dadurch wird eine effektive und zielführende Diagnostik erschwert. Insgesamt betrachtet ist Literatur zu diesem Thema sehr rar, so dass keine standardisierte Testbatterie für realisierbare Gleichgewichtsuntersuchungen in bestimmten Altersklassen existiert. Ziel der Arbeit war es, festzustellen, welche Untersuchungen bei Kindern eines bestimmten Alters mit Hörbehinderungen möglich sind.

Material und Methoden

In der klinischen Querschnittsstudie wurden 100 Kinder untersucht. Das Geschlechterverhältnis betrug 51 Jungen zu 49 Mädchen. Das Alter der Kinder lag in einem Bereich von 2–10 Jahren, mit einem Altersmittelwert von 5,2 Jahren (Median 5 Jahre). Die Kinder wurden nach vorhergehender audiologischer Diagnostik (Art der Hörstörung, Hörschwellenbestimmung) ausgewählt. Im Vorfeld der Untersuchungen wurde von den Eltern ein Fremdanamnesebogen ausgefüllt. Dieser erfragte etwaige, in der Vergangenheit aufgetretene Gleichgewichtsdefizite. Neben einer Nystagmusüberprüfung mit bzw. ohne Frenzelbrille (Spontannystagmus, Kopfschüttelnystagmus, Blickrichtungsnystagmus), wurde die vestibulookuläre Diagnostik zum Einen subjektiv durch den Kopfimpulstest, zum Anderen objektiv durch die Untersuchung der zervikalen vestibulär evozierten myogenen Potentiale (cVEMP) ergänzt. Die Koordination wurde mittels des Finger-Nase- bzw. Finger-Finger-Versuchs überprüft. Die vestibulospinale Funktionseinschätzung erfolgte anhand der Gangbeurteilung bzw. mithilfe der Posturographie. Letztere umfasste je 3 Kategorien, durch welche eine Variation der visuellen Komponente (Augen offen/Augen geschlossen), der Standposition (Romberg Stehversuch/Romberg auf einem Bein/Tandem-Romberg) sowie des Untergrundes (Stand auf dem Boden/Stand auf einer Schaumstoffmatte) erreicht wurde. Durch Kombination dieser Kategorien entstanden 12 mögliche Untersuchungsszenarien. Es wurde jeweils die Zeit für die korrekte Ausführung der Übungen gestoppt. Die Funktion des Utrikulus wurde mittels des Eimervertikalentests untersucht. Bei diesem sollten die Kinder durch Blick in einen Eimer, einen an dessen Grund befindlichen schwarzen Strich in eine für sie vertikale Position einstellen. Abweichungen von der objektiven Vertikalen waren an der Eimerrückseite durch ein Lot über einem Winkelmesser ablesbar (Abbildung 1 [Abb. 1]). Die bei den Untersuchungen gewonnen Daten wurden in eine EXCEL-Datenmaske eingegeben und später mit SPSS ausgewertet.

Ergebnisse

Exemplarisch werden die alters- und hörschwellenabhängige Durchführbarkeit der Untersuchung der cVEMP und des Eimervertikalentests dargestellt. Die Untersuchung der cVEMP war bei 75 Kindern (mittleres Alter 5,57 Jahre) durchführbar (medianer Hörverlust 57,5 dB). Das jüngste Kind, bei dem die Untersuchung gelang, war 2,2 Jahre alt. Das Alter der Kinder, die nicht untersucht werden konnten, lag im Mittel bei 3,72 Jahren (medianer Hörverlust 86,88 dB). Die Differenz der medianen Hörverluste ergab 29,38 dB. Der Eimervertikalentest war bei 68 Kindern (mittleres Alter 6,15 Jahre) durchführbar (medianer Hörverlust 55,63 dB). Das jüngste Kind, welches untersucht werden konnte, war 2,8 Jahre alt. Das Alter der Kinder, die nicht untersucht werden konnten, lag im Mittel bei 3,11 Jahren (medianer Hörverlust 76,88 dB). Die Differenz der medianen Hörverluste betrug 21,25 dB. Die Darstellung der Wahrscheinlichkeit (0-1) für die altersabhängige Durchführbarkeit des Eimervertikalentests erfolgte in Form einer logistischen Regression (Abbildung 2 [Abb. 2]).

Diskussion

Die Gleichgewichtsuntersuchung von Kindern gestaltet sich oftmals schwierig und bereitet Probleme (vgl. z.B. [1]). Die Untersuchung der cVEMP ist ein gut durchführbarer und etablierter Test bei Kindern. Laut Zhou und Mitarbeitern [2] dauere die Untersuchung der cVEMP für gewöhnlich nicht länger als 15–30 Minuten und wird von Kindern jedweden Alters gut akzeptiert. Diese These konnte bestätigt werden. Selbst bei kleinsten Kindern war die Untersuchung möglich. Der Eimervertikalentest wurde von Zwergal und Mitarbeitern [3] entwickelt. Die Untersuchungsdurchführung gestaltete sich ungleich schwieriger als die Untersuchung der cVEMP. Gründe hierfür könnten ein altersbedingt mangelndes Testverständnis und die nötige aktive Mitarbeit sein. War die Untersuchung jedoch möglich, überraschten die Ergebnisse durch ihre ausgesprochen hohe Genauigkeit und Reproduzierbarkeit. Es zeigte sich bei beiden Untersuchungen, dass die Schwere des Hördefektes in diesem Zusammenhang ebenfalls Einfluss auf die Untersuchungsdurchführung hat. So wiesen die Kinder, welche die Untersuchungen nicht ausführen konnten, deutlich größere Hörverluste auf, als jene, bei denen die Untersuchungen möglich waren. Ursächlich hierfür kann eine mit dem Grad der Hörstörung proportional ansteigenden Sprachverständnisstörung sein.

Fazit

Im Rahmen der Gleichgewichtsuntersuchung bei Kindern ist deutlich mehr möglich, als zunächst vermutet. Zur Untersuchung bedarf es vordergründig nur eines kindgerechten Settings und Geduld. Die Untersuchungsdurchführung ist neben dem Alter von verschiedenen Faktoren abhängig (Schwere der Hörstörung, Sprachbarrieren usw.). Die logistische Regression ermöglicht erstmals die Abschätzung des wahrscheinlichen Untersuchungserfolgs.


Literatur

1.
Jahn K, Langhagen T, Schroeder AS, Heinen F. Vertigo and dizziness in childhood – update on diagnosis and treatment. Neuropediatrics. 2011 Aug;42(4):129-34. DOI: 10.1055/s-0031-1283158 External link
2.
Zhou G, Kenna MA, Stevens K, Licameli G. Assessment of saccular function in children with sensorineural hearing loss. Arch Otolaryngol Head Neck Surg. 2009 Jan;135(1):40-4. DOI: 10.1001/archoto.2008.508 External link
3.
Zwergal A, Rettinger N, Frenzel C, Dieterich M, Brandt T, Strupp M. A bucket of static vestibular function. Neurology. 2009 May 12;72(19):1689-92. DOI: 10.1212/WNL.0b013e3181a55ecf External link