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31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

18.09. - 21.09.2014, Lübeck

Schlägt sich kunstpädagogische Förderung messbar auf den frühen Zweitspracherwerb bei Kindern mit Migrationshintergrund nieder?

Postervortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Akademie für Hörgeräte-Akustik. 31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik. Lübeck, 18.-21.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocP11

doi: 10.3205/14dgpp39, urn:nbn:de:0183-14dgpp394

Published: September 2, 2014

© 2014 Witte et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Ein positiver Einfluss von musikpädagogischer Frühförderung auf die Sprachentwicklung ist bekannt. Es stellt sich die Frage, ob andere Formen der Frühförderung, wie Kunstpädagogik, einen ähnlichen Effekt haben können.

Material und Methoden: 50 im Kindergarten kunstpädagogisch geförderte Migrantenkinder (Experimentalgruppe, Ex) und 47 Migrantenkinder ohne Förderung (Kontrollgruppe, Ko) zwischen 3 und 6 Jahren (mittl. Alter (SD): Ex: 52,28 (10,6), Ko: 56,43 (8,9) Monate) wurden hinsichtlich ausgewählter deutscher Sprachleistungen miteinander verglichen. Die Probanden gehören einer explorativen Längsschnittstudie mit bisher 2 von 3 Messzeitpunkten an (Prä-Post-Design [T1, T2]; mittl. Abstand: 10 Monate; Förderung: 35 Einheiten à 45 Min). Folgende Testinstrumente wurden eingesetzt: Subtest Verstehen Sätze u. Phonologisches Arbeitsgedächtnis Nichtwörter (SETK 3-5); Subtest Erkennen Grammatischer und Semantischer Inkonsistenzen (ISEM, IGR) inkl. Gesamtscore (IKO; KISTE); Subtest Wörter Erklären u. Puppenspiel (WET); Subtest Zahlen Nachsprechen (K-ABC). Die Intelligenzhöhe wurde mit der K-ABC erhoben.

Ergebnisse: Sprachtest-Rohwerte waren zu T2 in beiden Gruppen signifikant größer. In den Ergebnisdifferenzen zwischen beiden Gruppen konnte aber kein statistisch signifikanter Unterschied in den Sprachleistungen gefunden werden – bei vergleichbarem mittleren Alter zu T1, Dauer des Kitaaufenthalts bis T1 und sozio-ökonomischem Status (operationalisiert durch die aktuelle berufliche Tätigkeit des Vaters; ISCO-Index).

Vorläufiges Fazit: Es konnte kein belastbarer interventionsbedingter Einfluss (kunstpädagogischer Förderung) bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund auf lexikalisch-grammatikalischen Leistungen im Deutschen nachgewiesen werden. Dennoch sollte für die abschließende Bewertung der dritte und letzte Messzeitpunkt abgewartet werden.


Text

Hintergrund

Deutschland zählt mit nahezu einer Million Zuzügen pro Jahr [5] zu einem der beliebtesten Zielländer für Einwanderer. Dadurch wandelt sich zunehmend die Kinderklientel in den Kindergärten, vor allem in städtischen Einzugsgebieten. Themen wie die pädagogische Förderung des Zweitspracherwerbs im Deutschen werden immer wichtiger. Viele Studien belegen, dass Kinder mit Migrationshintergrund schlechtere Sprachleistungen im Deutschen aufweisen als monolingual Deutsch aufwachsende Kinder (z. B. [1], [6], [8], [13]). Defizitäre Sprachleistungen sind insbesondere bei ihnen häufig Ursache für eine verspätete Einschulung, einen niedrigen schulischen Bildungserfolg wie auch für eine schwierige soziale Integration (z. B. [2], [10], [11]). Sprachstandsfeststellungen im letzten Kindergartenjahr und die angemessene Reaktion auf eine Entwicklungsverzögerung durch gezielte Sprachförderung sind aber nicht nur für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, sondern auch für ausschließlich deutschsprachig aufwachsende Kinder von großer Bedeutung. Wir haben uns die Frage gestellt, ob sprachfreie Formen der Förderung, ähnlich der musikpädagogischen Förderung (z. B. [3], [7]), einen positiven Effekt auf Sprache haben. Unseres Wissens nach gibt es bislang keine Längsschnittstudie die einen Effekt von Kunstförderung auf Sprachleistungen untersucht hat; hingegen existieren einige Studien, die einen Zusammenhang zwischen Sprache und zeichnerischen Fähigkeiten bei Kindern finden (z. B. [9], [12]).

Methode/Studienkollektiv

Das Studienkollektiv bestand aus 50 kunstpädagogisch geförderten Migrantenkindern zwischen 3 und 6 Jahren (Kunstkinder: mittl. Alter 52,3 [SD 10,6] Monate) und 47 Migrantenkindern ohne Förderung (Kontrollkinder: mittl. Alter 56,4 [SD 8,9] Monate). Die Kinder waren Teilnehmer einer explorativen Längsschnittstudie mit 2 von 3 Testzeitpunkten (Prä-Post-Design [T1, T2]; mittl. Abstand: 10 Monate; Förderung: 35 Kunsteinheiten à 45 Min). Die Kunstförderung wurde von diplomierten Kunstpädagoginnen in Gruppen mit 7 bis 12 Kindern in einem separaten Raum im Kindergarten durchgeführt.

Eigens für diese Studie war ein Curriculum erstellt worden, welches sich an den Prinzipien des Kindergartenprojektes „Von Piccolo bis Picasso“ [4] orientiert. Die Förderaktivitäten bauten auf verschiedenen Elementen auf: Experimenteller Umgang mit Farben, Formen, Oberflächen und Anordnungen; Anwendung malerisch-kreativer Techniken und Verfahren in der Fläche und im Raum; Wahrnehmungsförderung in den verschiedenen Sinnesmodalitäten; Entdeckung malerischer und gestalterischer Ausdruckswege sowie Erfahrung mit unterschiedlichen Darstellungen von Gefühlen, Gedanken und Ideen.

Um die Gruppen hinsichtlich ausgewählter Sprachleistungen im Deutschen miteinander zu vergleichen, wurden folgende Tests eingesetzt: SETK 3-5 – Subtests Verstehen von Sätzen (VS) sowie Phonologisches Arbeitsgedächtnis für Nichtwörter (PGN); KISTE – Subtests Erkennen Grammatischer und Semantischer Inkonsistenzen (IGR, ISEM) inkl. Gesamtscore (IKO); WET – Subtests Wörter Erklären (WE) und Puppenspiel (PS); K-ABC – Subtest Zahlen Nachsprechen (ZN). Die Intelligenzhöhe wurde mit der K-ABC erhoben. Die Auswertung erfolgte auf Rohwertbasis. Die Gruppen wurden mittels Mann-Whitney-U-Test hinsichtl. Alter bei T1, Kitaaufenthalt bis zu T1, T1-T2-Abstand und dem sozio-ökonomischen Status (operationalisiert durch die aktuelle berufliche Tätigkeit des Vaters; ISCO-Index) kontrolliert. Um den Anstieg der Sprachleistungsrohwerte von T1 zu T2 zu untersuchen, wurde der Wilcoxon Signed Rank Test durchgeführt. Für die statistische Auswertung eines möglichen gruppenabhängigen Zuwachses der Sprachleistungen wurde eine ANOVA gerechnet (abhängige Variablen: Sprachleistungen; unabhängige Variable: Gruppe; Kovariate: Alter zu T1 und Intelligenzhöhe zu T1.

Ergebnisse

Die Gruppen waren hinsichtlich ihres mittl. Alters zu T1 (p=.093, U=955,5), der Dauer des Kitaaufenthalts bis T1 (p=.068; U=922,5) und ihres sozio-ökonomischem Status (p=.47, U=902) vergleichbar; in der Intelligenzhöhe unterschieden sie sich voneinander (p=.003, U=768,5). In beiden Gruppen wurde ein signifikanter Zuwachs der Sprachleistungen von T1 zu T2 festgestellt (Kontrollkinder: alle Subtests p=.000; ebenso Kunstkinder, außer Erkennen Grammatikalischer Inkonsistenzen [p=.019] und Verstehen von Sätzen [p=.059]). Die Gruppenzugehörigkeit hatte keinen statistisch bedeutsamen Effekt auf die Ergebnisdifferenzen in den Sprachleistungen (alle Subtests p>.05 mit Ausnahme: Verstehen von Sätzen [p=.05]). Das Alter zu T1 hatte einen Effekt auf: das Verstehen von Sätzen (p=.002; F=9,8), das Phonologische Arbeitsgedächtnis für Nichtwörter (p=.046; F=4,11) und auf Wörter Erklären (p=.000, F=14,92). Intelligenz hatte einen nachweislichen Effekt auf das Erkennen Grammatikalischer Inkonsistenzen (p=.002, F=10,66) und den Gesamtscore IKO (p=.002, F=10,24).

Diskussion

Bislang konnte kein belastbarer interventionsbedingter Einfluss von kunstpädagogischer Förderung bei Kindergartenkindern mit Migrationshintergrund auf lexikalisch-grammatikalische Leistungen im Deutschen nachgewiesen werden. Die Gründe hierfür scheinen vielfältig zu sein. So könnten die für diese Studie entwickelten Förderelemente zu breit gefasst und unspezifisch sein. Die kunstpädagogische Förderung, die zweimal wöchentlich für 45 Minuten stattfand, muss sich in Dauer und Frequenz vermutlich mehr von den alltäglichen Beschäftigungsangeboten im Kindergarten abheben. Um effektiver in der Gruppe arbeiten zu können, sollte diese kleiner sein, denn eine kleinere Gruppe führt wahrscheinlich zu einem intensiveren und individuelleren Austausch zwischen Kunstpädagoginnen und den Kindern. Kunstpädagogische Förderung kann dennoch eine mögliche Alternative zur musikpädagogischen Förderung für Kinder darstellen, denen der Zugang zur ästhetisch-künstlerischen Gestaltung leichter fällt.

Vorläufiges Fazit

Für die abschließende Bewertung ist der dritte (letzte) Testzeitpunkt abzuwarten.


Literatur

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5.
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