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31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

18.09. - 21.09.2014, Lübeck

Erste Ergebnisse der Mainzer Studie zu genetischen Ursachen von Sprachentwicklungsstörungen

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Anja Pollak-Hainz - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik, Mainz, Deutschland
  • Harriet von Creytz - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik, Mainz, Deutschland
  • Christian Fuchs - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik, Mainz, Deutschland
  • Ulrich Jantzen - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik, Mainz, Deutschland
  • Kathrin Kandler - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik, Mainz, Deutschland
  • Anne K. Läßig - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik, Mainz, Deutschland
  • Sabine Nospes - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik, Mainz, Deutschland
  • Oliver Bartsch - Institut für Humangenetik der Universitätsmedizin, Mainz, Deutschland
  • Ulrich Zechner - Institut für Humangenetik der Universitätsmedizin, Mainz, Deutschland
  • Belinda Fuchs - Sprachheilzentrum Meisenheim, Meisenheim, Deutschland
  • Reinhold Marx - Sprachheilzentrum Meisenheim, Meisenheim, Deutschland
  • author Annerose Keilmann - Schwerpunkt Kommunikationsstörungen der Hals-, Nasen-, Ohrenklinik und Poliklinik, Mainz, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Akademie für Hörgeräte-Akustik. 31. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) zusammen mit dem 5. Pädakustiker-Symposium der Akademie für Hörgeräte-Akustik. Lübeck, 18.-21.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocV21

doi: 10.3205/14dgpp33, urn:nbn:de:0183-14dgpp338

Published: September 2, 2014

© 2014 Pollak-Hainz et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) wird als Diskrepanz zwischen der Sprachentwicklung und der allgemeinen Entwicklung, gemessen an der nonverbalen Intelligenz, definiert.

Das FOXP2-Zielgen CNTNAP2 auf Chromosom 7q35-q36 wurde von der Arbeitsgruppe um Vernes und Fisher identifiziert. Dabei wurde nach Assoziationen zwischen 38 Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) in diesem Gen und dem auditiven Kurzzeitgedächtnis bei Kindern mit einer SSES gesucht. Eine hochsignifikante Assoziation wurde vor allem zwischen dem SNP rs17236239 und der Nonsense word repetition (NWR) gefunden (Vernes et al. 2008).

Material und Methoden: Für die seit 2009 in Mainz laufende Studie konnten bisher 376 Kinder gewonnen werden. Die Kinder wurden wegen einer ausgeprägten SSES stationär in Mainz und Meisenheim therapiert.

Es wurden genaue familienanamnestische Daten erhoben, zu Mehrspracherwerb befragt, bei den SSES-Kindern die Leistungen des Hörgedächtnisses ermittelt und bei den teilnehmenden Kindern und Eltern Blut oder Speichel entnommen.

Im molekulargenetischen Labor wurde aus der extrahierten DNA der SNP rs17236239 genotypisiert.

Ergebnisse: 57% der Kinder hatten Verwandte ersten Grades mit SSES und 29% Verwandte zweiten Grades mit SSES angegeben. Eine Genotypisierung ergab für den SNP rs17236239 bei jeweils 40% den Genotyp homozygot A/A bzw. heterozygot A/G und bei 11% den Genotyp homozygot G/G.

Am häufigsten waren die Betroffenen das erste Kind der Familie. Überwiegend entstammten sie aus einer Familie mit 2 Kindern. 45% der Kinder wurden mehrsprachig erzogen.

Diskussion: Die Häufigkeit des Genotyps A/A war in der Gruppe der SSES-Kinder etwas höher als in der europäischen Normalbevölkerung wohingegen der Genotyp A/G bei den SSES-Kindern etwas seltener vorlag.

Die untersuchten Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen hatten mehr Geschwister als nach den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zu erwarten. Die in der vorliegenden Studie hohe Zahl von 45% bi- oder multilingual aufwachsenden Kindern mit SSES könnte auf der Tatsache beruhen, dass Familien mit Migrationshintergrund häufiger drei und mehr minderjährige Kinder haben. Der Anteil der Sprachen unter den eingeschlossenen Kindern entspricht etwa den Angaben des Statistischen Bundesamtes zur Bevölkerung.


Text

Einleitung

Die spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES, Synonym: umschriebene Sprachentwicklungsstörung-USES) wird als Diskrepanz zwischen der Sprachentwicklung und der allgemeinen Entwicklung, gemessen an der nonverbalen Intelligenz, definiert.

Verschiedene Metaanalysen weisen darauf hin, dass genetische Faktoren eine wesentliche Rolle bei SES spielen, während für sprachliche Leistungen im oberen Leistungsbereich die Umwelt bedeutender ist [4]. In sehr seltenen Fällen, wie z.B. der Londoner KE-Family, wurden für eine monogene Sprachentwicklungsstörung verantwortliche Gendefekte (Punktmutation im FOXP2-Gen) nachgewiesen werden [5]. Für die überwiegende Anzahl der betroffenen Kinder wird jedoch eine multifaktoriell-polygene Genese angenommen [3], [6], [7].

Das FOXP2Gen liegt auf Chromosom 7q31. Es kodiert einen Transkriptionsfaktor, der zur Gruppe der Forkhead-Box-Proteine gehört. Als Transkriptionsfaktor reguliert FOXP2 die Aktivität anderer Proteine. Es wurden mehrere FOXP2-gesteuerte Gene identifiziert, die in Zusammenhang mit einer SSES, aber auch Autismus und anderen neurologischen Entwicklungsstörungen stehen. Insgesamt konnten bisher vier solcher Gene oder Genloci identifiziert werden, SLI1 (eine Region auf Chromosom 16q), SLI2 (eine Region auf Chromosom 19q), SLI3 (Chromosom 13q21) und SLI4 (CNTNAP2Gen auf Chromosom 7q35-q36) [1], [3], [9], [11].

Das FOXP2-Zielgen CNTNAP2 auf Chromosom 7q35-q36 wurde von der Arbeitsgruppe um Vernes und Fisher identifiziert [11]. Dabei wurde nach Assoziationen zwischen 38 Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) in diesem Gen und dem auditiven Kurzzeitgedächtnis bei Kindern mit einer spezifischen SES gesucht. Eine hochsignifikante Assoziation wurde vor allem zwischen dem SNP rs17236239 und der Nonsense word repetition (NWR) gefunden [11].

Ziel der Mainzer Studie ist es, eine signifikante quantitative genetische Assoziation zwischen SSES und Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) des CNTNAP2-Gens an einer zentraleuropäischen Patientengruppe von Kindern mit SSES nachzuweisen.

Methode

Für die seit 2009 in Mainz laufende Studie konnten bisher 376 Kinder (106 Mädchen und 269 Jungen) im Alter von 3–12 Jahren, die eine stationäre Sprachintensivtherapie im Schwerpunkt Kommunikationsstörungen in Mainz oder im Landessprachheilzentrum Meisenheim absolvierten, gewonnen werden. Bei allen Kindern erfolgten nonverbale Intelligenztests, Hörprüfungen und eine ausführliche Sprachentwicklungsdiagnostik, welche die linguistischen Ebenen der Sprache und die Hörgedächtnisspanne umfasste.

Es wurden genaue familienanamnestische Daten zu Verwandten ersten und zweiten Grades mit SES, zur Kinderzahl der Familie, dem Geschlecht der Geschwister, der Stellung des betroffenen Kindes in der Geschwisterreihe erhoben sowie zu Mehrspracherwerb befragt.

Bei den SSES-Kindern, Eltern und Geschwistern wurden Blut oder Speichel entnommen. Im molekulargenetischen Labor des Instituts für Humangenetik wurde aus dem Material DNA extrahiert und per PCR (Polymerase-Ketten-Reaktion) vervielfältigt. Abschließend erfolgte zur Genotypisierung des SNPs rs17236239 eine Pyrosequenzierung. Für den SNP rs17236239, der nach den Untersuchungen von Vernes et al. [11] die stärkste Assoziation zur Hörgedächtnisspanne aufweist, existieren die Allele A oder G (Risikoallel für SSES).

Ergebnisse

57% (n=207) der Kinder hatten Verwandte ersten Grades mit SES und weitere 29% (n=103) Verwandte zweiten Grades mit SES angegeben. Eine Genotypisierung war bei 91,8% (n=336) der eingeschlossenen Kinder möglich und ergab für den SNP rs17236239 bei 40,2% den Genotyp homozygot A/A (n=147) bzw. 40,4% heterozygot A/G (n=148) und bei 11,2% den Genotyp homozygot G/G.

Aus 47 Familien wurden mehrere Kinder wegen einer schweren SES stationär behandelt, darunter waren zwei Zwillingspaare und einmal Drillinge. Am häufigsten (39%) waren sie das erste Kind der Familie, 33% das zweite, 16 % das dritte und 7% das vierte Kind. Überwiegend (42%) entstammten sie aus einer Familie mit 2 Kindern, gefolgt von 3-Kind-Familien (25%). Lediglich 16% Kinder waren Einzelkinder. An Geschwistern hatten die SSES-Kinder mehr Brüder.

45% der Kinder wurden mehrsprachig erzogen. Als weitere Sprache lernten die Kinder am häufigsten Türkisch (10%) und Russisch (8%). Insgesamt kamen 27 verschiedene Sprachen unter den eingeschlossenen Kindern vor.

Schlussfolgerung

Die Häufigkeit des Genotyps A/A war in der Gruppe der SSES-Kinder mit 40,2% etwas höher als in der europäischen Normalbevölkerung (39,8%) wohingegen der Genotyp A/G bei den SSES-Kindern (40,4%) etwas seltener vorlag (A/G Normalbevölkerung 49,6%). Die Häufigkeit des Genotyps G/G war in der Gruppe der SSES-Kinder geringfügig höher (11,2%) als in der europäischen Normalbevölkerung (10,6%) [2].

Die untersuchten Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen hatten mehr Geschwister als nach den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zu erwarten. Die in der vorliegenden Studie hohe Zahl von 45 % bi- oder multilingual aufwachsenden Kindern mit SSES könnte auf der Tatsache beruhen, dass Familien mit Migrationshintergrund häufiger drei und mehr minderjährige Kinder haben. Bilingualität führt nicht häufiger zu einer Sprachentwicklungsstörung [8].

Der Anteil der Sprachen unter den eingeschlossenen Kindern entspricht etwa den Angaben des Statistischen Bundesamtes zur Bevölkerung, wo mit 21% bei den Migrationsfamilien mindestens ein Elternteil einen türkischen Migrationshintergrund hat und als zweitgrößte Gruppe mit 16% Familien aus der ehemaligen Sowjetunion angegeben werden (8).


Literatur

1.
Bartlett CW, Flax JF, Logue MW, Vieland VJ, Bassett AS, Tallal P, Brzustowicz LM. A major susceptibility locus for specific language impairment is located on 13q21. Am J Hum Genet. 2002 Jul;71(1):45-55. DOI: 10.1086/341095 External link
2.
dbSNP. Submitted 30.01.2007 [zitiert 22.09.2011]. Available from: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/SNP/snp_ss.cgi?ss=ss69031513 External link
3.
Fisher SE, Lai CS, Monaco AP. Deciphering the genetic basis of speech and language disorders. Annu Rev Neurosci. 2003;26:57-80. DOI: 10.1146/annurev.neuro.26.041002.131144 External link
4.
Hayiou-Thomas ME. Genetic and environmental influences on early speech, language and literacy development. J Commun Disord. 2008 Sep-Oct;41(5):397-408. DOI: 10.1016/j.jcomdis.2008.03.002 External link
5.
Hurst JA, Baraitser M, Auger E, Graham F, Norell S. An extended family with a dominantly inherited speech disorder. Dev Med Child Neurol. 1990 Apr;32(4):352-5. DOI: 10.1111/j.1469-8749.1990.tb16948.x External link
6.
Neumann K, Keilmann A, Kiese-Himmel C, Rosenfeld J, Schönweiler R. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie zu Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern. 2008. Verfügbar unter: http://leitlinien.net/049-006.htm [gelesen am 14.04.2008] External link
7.
Neumann K, Keilmann A, Kiese-Himmel C, Rosenfeld J, Schönweiler R. Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (gekürzte Fassung). Kindh Entwickl. 2009;18(4):222-231. DOI: 10.1026/0942-5403.18.4.222 External link
8.
Paradis J, Crago M, Genesee F, Rice M. French-English bilingual children with SLI: how do they compare with their monolingual peers? J Speech Lang Hear Res. 2003 Feb;46(1):113-27. DOI: 10.1044/1092-4388(2003/009) External link
9.
SLI Consortium. A genomewide scan identifies two novel loci involved in specific language impairment. Am J Hum Genet. 2002 Feb;70(2):384-98. DOI: 10.1086/338649 External link
10.
Statistisches Bundesamt. Kulturelle Vielfalt. März 2012.
11.
Vernes SC, Newbury DF, Abrahams BS, Winchester L, Nicod J, Groszer M, Alarcón M, Oliver PL, Davies KE, Geschwind DH, Monaco AP, Fisher SE. A functional genetic link between distinct developmental language disorders. N Engl J Med. 2008 Nov;359(22):2337-45. DOI: 10.1056/NEJMoa0802828 External link