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Popularität oder Seriosität – Ist „nicht klassischer“ Gesang stimmschädigend?
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Published: | September 5, 2013 |
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Zusammenfassung
Hintergrund: Klassischer und „nicht klassischer“ Gesang in verschiedenen Genres unterscheiden sich hinsichtlich zahlreicher Aspekte, wobei neben der Nutzung elektronischer Verstärkertechnik insbesondere die Anwendung spezifischer stimmlicher Effekte als Ausdrucks- und Gestaltungsmittel hervorzuheben sind. Inwieweit diese Effekte interindividuell konsistent gebildet werden und ob sie stimmschädigend wirken können, wird kontrovers diskutiert.
Material und Methoden: In einer prospektiven klinischen Pilotstudie wurden stimmgesunde Sänger aus den Bereichen Pop/Rock/Musical gebeten, die in ihrem sängerischen Alltag und Repertoire gängigen und angewendeten „nicht klassischen“ Stimmeffekte wiederholt darzubieten. Die Effekte wurden mittels transnasaler Laryngovideostroboskopie, transkutaner Elektroglottographie, sowie mittels DIVAS-Stimmfunktionsdiagnostik dokumentiert, analysiert und ausgewertet.
Ergebnisse: Im Wesentlichen wurden folgende Stimmeffekte produziert: Breathy, Creaky, Vocal fry, Grunting, Rattle, Growling, Distortion, Belting, und Twang. Alle Effekte ließen sich gut voneinander differenzieren. Sie waren intraindividuell sicher gleichartig reproduzierbar und wurden auch interindividuell weitestgehend konsistent gebildet. Prinzipiell zustande kommen die Effekte entweder durch Veränderungen der Schwingungen im Larynx (Beeinflussung der Tonerzeugung durch Glottis oder Supraglottis) oder durch Veränderungen der Konfiguration des Ansatzraumes (Beeinflussung des Stimmklanges durch die Höhe des Kehlkopfes und die Veränderung von Resonanzräumen).
Diskussion: Aus phoniatrischer Sicht führen die untersuchten „nicht klassischen“ Stimmeffekte per se nicht zu direkten negativen Beeinträchtigungen. Inwieweit sie auf längere Sicht dennoch stimmschädigend wirken können, hängt vom individuellen Einsatz, der Dauer und vom Ausmaß der assoziierten Hyperfunktion ab.
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Hintergrund
Im klassischen Bereich bietet eine stimmtechnisch geschulte, dichte, klare, unforcierte, klangvolle, modulationsreiche und gut steigerungsfähige Stimme die besten Voraussetzungen dafür, den Anforderungen eines Live-Auftrittes ohne technische Hilfsmittel gewachsen zu sein sowie langfristig stimmgesund und leistungsfähig gesanglich arbeiten zu können. Klassischer und „nicht klassischer“ Gesang in verschiedenen Genres unterscheiden sich hinsichtlich zahlreicher Aspekte, wobei in der Popularmusik neben der Nutzung elektronischer Verstärkertechnik insbesondere die Anwendung spezifischer stimmlicher Effekte als charakteristische und identitätsstiftende Ausdrucks- und Gestaltungsmittel hervorzuheben sind, um eine bestimmte Wirkung beim Hörer zu erzielen. Inwieweit diese „nicht klassischen“ Stimmeffekte interindividuell konsistent gebildet werden und ob sie stimmschädigend wirken können, wird kontrovers diskutiert.
Material und Methoden
In einer prospektiven klinischen Pilotstudie wurden 10 stimmgesunde, ausgebildete Sänger aus den Bereichen Pop/Rock/Metal/Musical gebeten, die in ihrem Repertoire gängigen „nicht klassischen“ Stimmeffekte wiederholt darzubieten. Die vorgeführten Effekte mussten im sängerischen Alltag regelmäßig angewendet werden, d.h. sie waren geübt und wurden reproduzierbar beherrscht. Die Gesangseffekte wurden mittels transnasaler Laryngovideostroboskopie, transkutaner Elektroglottographie, sowie mittels DIVAS-Stimmfunktionsdiagnostik (Fa. XION) dokumentiert sowie anschließend analysiert und ausgewertet. Der Versuch einer Systematisierung wurde durchgeführt um zu klassifizieren, welche unterschiedlichen Stimmeffekte neben dem klaren, klassischen Belcanto-Klang erzeugt werden können und auf welche Weise bzw. mit welchen „natürlichen“ Mitteln diese Klänge mit der Singstimme realisiert werden.
Ergebnisse
Im Wesentlichen wurden folgende typischen „nicht klassischen“ Stimmeffekte produziert: Breathy („Hauchen“), Creaky („Knarren“), Vocal fry (Strohbass), Grunting („Grunzen“), Rattle („Knattern“), Growling („Knurren“), Distortion („Verzerrung“), Belting, und Twang. Alle Effekte ließen sich auditiv gut voneinander differenzieren. Sie waren intraindividuell sicher gleichartig reproduzierbar und wurden auch interindividuell weitestgehend konsistent gebildet.
Im Vergleich zum klassischen Belcanto-Klang ging die Erzeugung vieler dieser „nicht klassischen“ Stimmeffekte mit einem subjektiv größeren Druck einher, der beim Singen sichtbar und hörbar war. Die vermutlich damit auf die Kehlkopfschleimhäute und insbesondere die Stimmlippen wirkenden größeren Kräfte führten jedoch nicht zu offensichtlichen Zeichen einer mechanischen Schädigung: Der Stimmapparat aller untersuchten Sänger erschien in der Untersuchung völlig gesund, trotz der anamnestisch mehrjährigen Anwendung der Stimmeffekte. Bei einigen Sängern zeigte sich lediglich die Schleimbenetzung im Kehlkopfbereich verstärkt. Die vermehrte Schleimproduktion diente dabei z.T. als „mitvibrierendes Element“ mit stilistisch gewünschter „verunreinigender“ Wirkung auf den Stimmklang.
In der Systematisierung zeigte sich, dass die „nicht klassischen“ Gesangeffekte prinzipiell durch 2 Mechanismen zustande kommen: durch Veränderungen der Schwingungen im Larynx (Beeinflussung der Tonerzeugung durch Glottis oder Supraglottis), sowie durch Veränderungen der Konfiguration des Ansatzraumes (Beeinflussung des Stimmklanges durch die Höhe des Kehlkopfes und die Veränderung von Resonanzräumen).
Diskussion
Aus phoniatrischer Sicht führen bei ausgebildeten Sängern die untersuchten „nicht klassischen“ Stimmeffekte per se nicht zu direkten negativen Beeinträchtigungen. Insbesondere wenn die Effekte nur kurzzeitig, kontrolliert, eher sanft und als spezifisches Ausdrucksmittel eingesetzt werden, sind Schäden nicht zu befürchten. Die supraglottischen Phonationseffekte scheinen die Glottis nicht zu belasten. Die Stimmlippen bleiben der vulnerabelste Teil des Stimmapparates. Inwieweit auf längere Sicht dennoch eine stimmschädigende Wirkung entstehen kann, hängt von der individuellen Konstitution, dem individuellen Einsatz, der Dauer und vom Ausmaß der Hyperfunktion ab, die intensiven Anwendungen derartiger Stimmeffekte mit übermäßig hohem Atemdruck, starker Kehlkopfspannung und forcierter Deklamation assoziiert ist. Die Gefahren lassen sich vermindern, wenn die Sänger zwischen den hyperfunktionellen Stimmanwendungen intermittierend kurze Entspannungsphasen einbauen, um sich zu erholen bzw. nicht zu überfordern. Den erhöhten endolaryngealen Belastungen entgegen wirkt möglicherweise auch der vermehrt produzierte Schleim, der als „Schutzschicht“ dienen könnte.
Manche Sänger phonieren mit z.T. sehr hohen Schalldruckpegeln, um Defizite der Resonanz des Ansatzraumes auszugleichen, andere phonieren nur mittellaut und nutzen auf der Bühne bewusst die technischen Möglichkeiten von Mikrophon und Verstärkeranlage. Wird das Mikrophon mit den Händen umfasst, können neben feedback- und distortion-Phänomenen gezielte cupping-Effekte erzeugt werden, die bestimmte Frequenzen komprimieren und die Stimmeffekte lauter und dichter erscheinen lassen. Zur stimmlichen Gesunderhaltung sind demnach neben einer korrekt erlernten Gesangstechnik, die den richtigen Umgang mit Glottis und Supraglottis, dem Luftstrom, der Stütze und den Resonanzräumen beinhaltet, in bestimmten „nicht klassischen“ Stilrichtungen auch Kenntnisse über die Charakteristika der Soundanlage und der Mikrophone hilfreich (z.B. Richtcharakteristik, auch Mikrophonauswahl).