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30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 22.09.2013, Bochum

Hörstörung mit Michel-Malformation bei LAMM-Syndrom

Poster

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bochum, 20.-22.09.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocP15

doi: 10.3205/13dgpp37, urn:nbn:de:0183-13dgpp375

Published: September 5, 2013

© 2013 Läßig et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Beim Menschen sind über 100 Hörstörungsgene bereits bekannt und jedes Jahr kommen neue dazu. Besonders in konsanguinen Familien lassen sich gelegentlich ungewöhnliche Befunde wie das LAMM-Syndrom erheben.

Material und Methoden: Wir berichten über einen 02/2011 geborenen Jungen konsanguiner Eltern, der im Neugeborenen-Hörscreening mittels OAE und AABR auffiel, bei dem wir eine klinische, bildgebende und genetische Diagnostik durchführten.

Ergebnisse: Bei dem Jungen fielen folgende Merkmale bei den Untersuchungen auf: bisher ausbleibende Sprachentwicklung, Microtia mit Verkürzung der obere Teil der Ohrmuschel, Mikrodontie (kleine Zähne) mit weit auseinander liegenden Zähnen, statomotorische Entwicklungsverzögerung, ausgeprägte muskuläre Hypotonie, wenig Kopfkontrolle im Alter von 11 Monaten, ausgeprägte Neurodermitis, Dysphagie für feste Speisen, multiple Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Die Familienanamnese ergab eine Konsanguinität und multiple Fehlgeburten in der Familie.

In der ergänzenden Bildgebung fand sich im MRT Schädel eine Aplasie des N. vestibulo-chochlearis und deutliche v.a. frontotemporale Hirnvolumenminderung mit Balkenhypotrophie sowie im CT Felsenbein eine Aplasie des gesamten Innenohres im Sinne einer Michel-Deformität mit hypoplastischem Mastoid bds. bei regelrechter Anlage des äußeren Gehörganges und erhaltener Ossikelkette.

Im Rahmen der molekulargenetischen Diagnostik wurde eine homozygote Mutation im FGF3-Gen (Gen für Fibroblasten-Wachstumsfaktor 3, Chromosomenregion 11q13) identifiziert. Damit konnte das Vorliegen des sehr seltenen Schwerhörigkeit-Syndroms „Taubheit mit LAMM“ (Deafness, congenital, with labyrinthine aplasia, microtia, and microdontia; OMIM #610706) molekulargenetisch gesichert werden.

Diskussion: Seit der Erstbeobachtung [4] wurden bisher weltweit nur 6 Familien mit diesem erblichem Schwerhörigkeits-Syndrom beschrieben (Orphanet Abfrage 02/13). Die Versorgung mit einem Knochenleitungshörsystem zur Wahrnehmung von akustischen Reizen über Vibration war in unserem Fall erfolglos, so dass nur eine Versorgung mit einem Hirnstammimplantat (ABI-Auditory Brainstem Implant) sinnvoll ist. Der Versuch der Versorgung mit Knochenleitungshörgeräten bei einer Aplasie des VIII. Hirnnerven bds. erfolgte auf dem nach Breiner und Möllerfeld 1984 basierendem Konzept zur mechanokutanen Vermittlung von Schallschwingungen bei Gehörlosen, um hierüber einen zusätzlichen Sinneseindruck zu ermöglichen.


Text

Einleitung

Mehr als 80 Hörstörungsgene sind bereits aufgeklärt, aber es ist zu erwarten, dass noch weitere bestehen. In konsanguinen Familien lassen sich gelegentlich ungewöhnliche Befunde wie das LAMM-Syndrom erheben.

Fallbericht

Wir berichten über einen 02/2011 geborenen Jungen konsanguiner, türkischer Eltern (Stammbaum siehe Abbildung 1 [Abb. 1]), der im Neugeborenen-Hörscreening mittels TEOAE (Transitorisch Evozierte Otoakustische Emmissionen) und automatisierter Hirnstammaudiometrie (AABR – Automated Auditory Brainstem Response) auffiel. Familienanamnestisch waren multiple Fehlgeburten in der Familie bekannt. Bei dem Jungen fielen im Alter von 9 Monaten folgende Merkmale bei der Untersuchung auf: bisher ausbleibende Sprachentwicklung, Microtia mit Verkürzung der obere Teil der Ohrmuschel, Mikrodontie (kleine Zähne) mit weit auseinander liegenden Zähne, statomotorische Entwicklungsverzögerung, ausgeprägte muskuläre Hypotonie, wenig Kopfkontrolle im Alter von 11 Monaten, ansonsten unauffällige Befunde der Extremitäten, des Genitale, keine Pigmentanomalien, ausgeprägte Neurodermitis, Dysphagie für feste Speisen, multiple Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten.

In der pädaudiologischen Diagnostik fanden sich folgende Ergebnisse:

  • Tympanometrie (1 kHz): bds. regelrechte Impedanzen bei lufthaltigen Pauken.
  • Click-BERA (Brainstem Evoked Response Audiometry) im Spontanschlaf: keine akustisch evozierten Potentiale bds. bis 70 dB
  • Notched-Noise-BERA konnten keine Potentiale der Welle V bei 0,5/1/2/4 kHz bds. bis jeweils 100 dB nachgewiesen werden.
  • Es ließen sich keine Freifeldreaktionen bis 100 dB Kinderlieder beobachten.
  • Die DPOAE (Distorsiv produzierte otoakustische Emissionen) und TEOAE waren bds. wiederholt nicht nachweisbar.

In der ergänzenden Bildgebung fand sich im MRT Schädel eine bilaterale Aplasie des N. vestibulo-chochlearis und deutliche v.a. frontotemporale Hirnvolumenminderung mit Balkenhypotrophie sowie im CT Felsenbein eine Aplasie des gesamten Innenohres im Sinne einer Michel-Deformität mit hypoplastischem Mastoid bds. bei regelrechter Anlage des äußeren Gehörganges und erhaltener Ossikelkette (Abbildung 2 [Abb. 2]).

Methoden

Im Rahmen der molekulargenetischen Diagnostik wurden zunächst Mutationen der Gene GJB2 und GJB6 für die Connexinproteine 26 und 30 sowie die Mutationen C1494T und A1555G im mitochondrialen 12S rRNA-Gen (MTRNR1) als häufige Ursachen für eine Hörstörung ausgeschlossen. Zudem erfolgte eine Chromosomenanalyse, die einen regelrechten Karyotyp zeigte. Die weiterführende molekulare Karyotypisierung mittels genomweiter Mikroarray-Analyse war ebenfalls unauffällig.

Im Rahmen der molekulargenetischen Diagnostik wurde eine homozygote Mutation im FGF3-Gen (p.Cys50*) auf dem Chromosom 11 q13 für den Fibroblasten-Wachstumsfaktor 3 nachweisen und somit eine Kongenitale Taubheit mit Labyrinth-Aplasie, Mikrotie und Mikrodontie (Congenital Deafness with Labyrinthine Aplasia, Microtia and Microdontia (LAMM) (OMIM #610706)) bestätigen.

Therapie

Im Alter von 10 Monaten erfolgte der Versuch der Anpassung von Knochenleitungshörsystemen. Zwischen 250 Hz und 1 kHz ließen sich mit den Oticon Ponto Pro bds. über Stirnband fragliche Reaktionen bei 80–95 dB, mit dem BHM contakt mini bei 75–95 dB sowie mit einem Oticon-Knochenleitungshörsystem über REX Plus PP3-Taschengerät bei 60–80 dB sowie mit dem Baha cordelle II (Cochlear)-Knochenleitungssystem bei 55–85 dB zwischen 250 Hz und 2 kHz beobachten. Auch der Versuch mit Luftleitungsgeräten (Phonak Naida S III UP) war aufgrund des Rückkopplungspfeifens und des extrem schlechte Sitzes der Hörsysteme frustran. Die oben genannten Hörsysteme wurden über 6 Wochen zu Hause erprobt und stundenweise getragen. Die Akzeptanz der Hörsysteme war jedoch seitens der Eltern und des Kindes unzureichend, so dass letztendlich der Trageversuch aufgegeben wurde. Die Schwerhörigenfrühförderung wurde von den Eltern zeitweise abgelehnt, dann jedoch wieder akzeptiert.

Der Einsatz von Gebärden-unterstützter Kommunikation wurde empfohlen, jedoch nicht von der Familie umgesetzt. Die Versorgung mit einem Knochenleitungshörsystem zur Wahrnehmung von akustischen Reizen über Vibration war in unserem Fall erfolglos.

Diskussion und Zusammenfassung

Diese autosomal rezessiv vererbte, kongenitale Schwerhörkeit mit LAMM ist extrem selten (weltweite Frequenz von unter 1:1.000.000) [4]. Bisher wurden weltweit nur 6 Familien mit diesem erblichem Schwerhörigkeits-Syndrom beschrieben (Orphanet Abfrage 02/13). Darunter waren 5 türkische und eine saudische Familie mit FGF3-Mutationen. Riazuddin S et al. [3] untersuchten 5 pakistanische Familien und fanden auch schwerhörige Familienmitglieder mit Mutationen im FGF3-Gen ohne komplette Innenohraplasie, sondern mit Cochlearesten, die eventuell mit einem Cochlea-Implantat versorgt werden können. Die Versorgung mit einem Knochenleitungshörsystem zur Wahrnehmung von akustischen Reizen über Vibration war in unserem Fall erfolglos, so dass nur eine Versorgung mit einem Hirnstammimplantat (ABI) sinnvoll ist. Der Versuch der Versorgung mit Knochenleitungshörgeräten bei einer Aplasie des VIII. Hirnnerven bds. erfolgte auf dem nach Breiner und Möllerfeld 1984 [2] basierendem Konzept zur mechanokutanen Vermittlung von Schallschwingungen bei Gehörlosen, um hierüber einen zusätzlichen Sinneseindruck zu ermöglichen. Eine erfolgreiche Anwendung erfordert jedoch eine enge Zusammenarbeit mit den Gehörlosenpädagogen und den unterstützenden Einsatz von Gebärden.


Literatur

1.
Alsmadi O, Meyer BF, Alkuraya F, Wakil S, Alkayal F, Al-Saud H, Ramzan K, Al-Sayed M. Syndromic congenital sensorineural deafness, microtia and microdontia resulting from a novel homoallelic mutation in fibroblast growth factor 3 (FGF3). Eur J Hum Genet. 2009 Jan;17(1):14-21. DOI: 10.1038/ejhg.2008.141 External link
2.
Breiner HL, Möllerfeld W. Eine apparative Hilfe für Gehörlose zur mechanokutanen Vermittlung von Schallschwingungen. Hörgeschädigtenpädagogik.1984;38:2-10.
3.
Riazuddin S, Ahmed ZM, Hegde RS, Khan SN, Nasir I, Shaukat U, Riazuddin S, Butman JA, Griffith AJ, Friedman TB, Choi BY. Variable expressivity of FGF3 mutations associated with deafness and LAMM syndrome. BMC Med Genet. 2011 Feb 9;12:21. DOI: 10.1186/1471-2350-12-21 External link
4.
Tekin M, Hismi BO, Fitoz S, Ozdag H, Cengiz FB, Sirmaci A, Aslan I, Inceoglu B, Yüksel-Konuk EB, Yilmaz ST, Yasun O, Akar N. Homozygous mutations in fibroblast growth factor 3 are associated with a new form of syndromic deafness characterized by inner ear agenesis, microtia, and microdontia. Am J Hum Genet. 2007 Feb;80(2):338-44.