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30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 22.09.2013, Bochum

Evidenzbasierte Therapie des Stotterns in Forschung und Praxis

Meeting Abstract

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  • corresponding author presenting/speaker Harald A. Euler - Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie, Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie, Ruhr-Universität Bochum, St. Josef- und St. Elisabeth-Hospital gGmbH Bochum, Bochum, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bochum, 20.-22.09.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocHV7

doi: 10.3205/13dgpp30, urn:nbn:de:0183-13dgpp303

Published: September 5, 2013

© 2013 Euler.
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Zusammenfassung

Welche methodischen Kriterien eine Stottertherapie erfüllen sollte, die sich erfolgreich nennen darf, wird von Bloodstein und Bernstein Ratner [1] in ihrem Handbook of Stuttering vorgeschlagen. Neuere Meta-Analysen englischsprachiger Publikationen sind ernüchternd; nur ein Bruchteil der Veröffentlichungen erfüllt eine ausreichende Zahl von Kriterien. Deutschsprachige Veröffentlichungen bieten kein besseres Bild. Dabei kommt es weniger darauf an, wie gut eine Therapie zu sein scheint, sondern wie gut sie belegt ist. Die Kriterien für die Praxis sind notwendigerweise weniger streng, doch auch hier sollte der Behandlungserfolg jedes einzelnen Klienten dokumentiert werden. Dies erfordert zumindest eine möglichst objektive Erfassung des Stotterverhaltens (z.B. % gestotterter Silben) sowie der Einschätzung der Stotterschwere bzw. des Leidensdrucks durch den Klienten selbst, und zwar vor Beginn der Therapie sowie etwa 12 Monate nach der letzten therapeutischen Intervention. Wegen hoher Rückfallraten sind Therapieerfolge direkt nach der Therapie nicht aussagekräftig, und die Präsentation von ausgewählten Paradepatienten ist irreführend. Neuere Ergebnisse einer retrospektiven Klientenbefragung belegen, dass die häufigsten Stottertherapien in Deutschland, nämlich extensive Behandlung in Einzelsitzungen, nur unbefriedigende Erfolge hat. Es besteht kein Bedarf an neuen Therapieansätzen ohne Wirkungsbeleg, so kreativ und beeindruckend sie auch erscheinen mögen. Für den Fortschritt der Wissenschaft ist es unerlässlich, Theorien, Therapien und Ideen, die sich nicht bewährt haben, zu entsorgen.


Text

Welche methodischen Kriterien eine Stottertherapie optimaler Weise erfüllen sollte, die sich erfolgreich nennen darf, wird von Bloodstein und Bernstein Ratner [1] aufgeführt: Eine ausreichend große und repräsentative Stichprobe; sowohl objektive wie subjektive Erfolgskriterien; wiederholte Messungen mit ausreichend großen Sprechstichproben; Nachweis des Nutzens in Alltagssituationen; Nachweis der Langfristigkeit des Therapieerfolgs; angemessene Kontrollgruppen, z.B. Warte- Kontrolle; keine Beeinträchtigung der Sprechnatürlichkeit; Freiheit von Selbstaufmerksamkeit auf den Sprechvorgang; Verbesserung von Problemen mit Sprechangst, Selbstbild und Kommunikation; Information über Therapie-Abbrecher; Geeignetheit der Therapie für jede professionelle Therapeutin; Nachweis der Wirksamkeit, auch wenn der Neuartigkeits-Effekt verflogen ist. Da Unflüssigkeiten in erklärenden Äußerungen (expositury disclosures; [2]) mit ihren geforderten syntaktischen Komplexitäten häufiger vorkommen als in entspannter Konversation oder erzählenden Äußerungen, sollte der Behandlungsnutzen nicht auf eine Vereinfachung sprachlicher Komplexität zurückzuführen sein, messbar beispielsweise durch Äußerungslänge (MLU) oder Verwendung von Nebensätzen.

Die objektive Sprechflüssigkeit wird am häufigsten erfasst durch die Prozentzahl unflüssig gesprochener Silben in einer Sprechprobe von mindestens 300 Silben, vorzugsweise durch wiederholte Messungen oder Erfassung in verschiedenartigen Sprechsituationen. Intervall-Messungen, also die Einschätzung, ob in jeweiligen kurzen Intervallen des Redeflusses eine Unflüssigkeit auftrat oder nicht, sind zwar anscheinend zuverlässiger als die Erfassung der Prozentzahl unflüssig gesprochener Silben, haben aber den Nachteil, dass sie weniger gebräuchlich sind und damit die Vergleichbarkeit von Untersuchungen erschweren.

Der subjektive Behandlungsgewinn wird am häufigsten durch Fragebogen erfasst. Der derzeit wohl empfehlenswerteste Fragebogen ist der OASES [3], weil er auf dem ICF-Klassifizierungssystem zur Bestimmung des funktionalen Gesundheitszustandes basiert und die Auswirkungen des Stotterns in verschiedenen Lebensbereichen und damit auf die Lebensqualität erfasst. Der Nachteil des OASES ist seine Länge, mit 100 Items in der Version für Erwachsene, 80 Items in der Version für Jugendliche und 60 Items in der Version für Schulkinder. Deutschsprachige lizensierte Versionen des OASES werden nach Auskunft des Verlags (Pearson) ab dem Jahr 2014 verfügbar sein.

Der Beleg für die Langfristigkeit des Behandlungserfolgs erfordert eine Erhebung mindestens 12 Monate nach der letzten therapeutischen Intervention.

Neuere Meta-Analysen englischsprachiger Publikationen sind ernüchternd, was die Erfüllung methodischer Kriterien betrifft; nur ein kleiner Bruchteil erfüllt eine ausreichende Zahl von derzeit geforderten methodischen Kriterien. Hinzu kommt, dass in den letzten Jahrzehnten Wirksamkeitsberichte in englischsprachigen Fachzeitschriften dünn gesät sind. Deutschsprachige Veröffentlichungen bieten kein besseres Bild. Dabei kommt es nicht darauf an, wie gut eine Therapie gefällt oder zu sein scheint, sondern wie gut ihre Wirkung belegt ist.

Die Kriterien für die Praxis sind notwendigerweise weniger streng, doch auch hier sollte der Behandlungserfolg jedes einzelnen Klienten dokumentiert werden. Dies erfordert zumindest eine möglichst objektive Erfassung des Stotterns in möglichst zwei verschiedenen Sprechsituationen, z.B. Gespräch mit der Therapeutin und Lesen, sofern die behandelte Person schon Lesen kann, sowie der Einschätzung der Stotterschwere bzw. des Leidensdrucks durch den Klienten selbst, und zwar vor Beginn der Therapie sowie etwa 12 Monate nach Ende der Behandlung. Aufwändige Fragebögen sind nicht zwingend gefordert; ein einfaches Rating der Stotterschwere durch den Klienten, die Eltern oder signifikante andere Personen kann ausreichen. Wegen hoher Rückfallraten sind Therapieerfolge direkt nach der Therapie nicht aussagekräftig. Die Präsentation von ausgewählten Paradepatienten in Massenmedien, ohne Informierung über Therapie-Abbrecher und längerfristige Misserfolgsquoten, sollte geächtet werden.

Neuere Ergebnisse einer retrospektiven Klientenbefragung belegen, dass die häufigste Art von Stottertherapie in Deutschland, nämlich extensive Behandlung in Einzelsitzungen mit zumeist unspezifizierten Behandlungsverfahren, nur unbefriedigende Erfolge hat. Bedauerlicher Weise wird diese Art von Behandlung am häufigsten im Kindesalter verordnet, ein Alter, in dem nachhaltige Behandlungserfolge noch am ehesten zu erreichen sind. Die derzeitig effektivsten und effizientesten Stottertherapien, die Sprechrestrukturierung (z.B. Fluency Shaping) sowie die Stottermodifikation, werden zumeist erst im jungen Erwachsenenalter aufgesucht. Weiterhin gibt es Hinweise darauf, dass intensive Behandlungsverfahren (zumindest mehrere Tage rund um die Uhr) erfolgreicher sind als extensive Verfahren (eine Sitzung pro Woche), und dass Übungsverfahren mit zumindest Anteilen von Gruppensitzungen besser sind als rein individuelle Behandlungen.

Es besteht kein Bedarf an neuen Therapieansätzen ohne Wirkungsbeleg, so kreativ und beeindruckend sie auch erscheinen mögen. Eine Bewertung des Therapie-Erfolgs durch die behandelnde Person selbst ist irreführend wegen des ubiquitären Effektes der illusorischen Überlegenheit: Eine übergroße Mehrheit aller Personen schätzt sich in ihren Fähigkeiten und positiven Eigenschaften überdurchschnittlich ein.

Für den Fortschritt der Wissenschaft ist es unerlässlich, Theorien, Therapien und Ideen, die sich nach Evidenzkriterien nicht bewährt haben, zu entsorgen.


Literatur

1.
Bloodstein O, Bernstein Ratner N. A handbook on stuttering. 6th ed. Clifton Park, NY: Delmar; 2008.
2.
Nippold MA, Mansfield TC, Billow JL, Tomblin JB. Expository discourse in adolescents with language impairments: examining syntactic development. Am J Speech Lang Pathol. 2008 Nov;17(4):356-66.DOI: 10.1044/1058-0360(2008/07-0049) External link
3.
Yaruss JS, Quesal RW. Overall Assessment of the Speaker's Experience of Stuttering (OASES): documenting multiple outcomes of treatment. J Fluency Disord. 2006;31:90-115. DOI: 10.1016/j.jfludis.2006.02.002 External link