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30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 22.09.2013, Bochum

Beeinflussen Zungenpiercings die Sprechqualität?

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Esther Heinen - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät der RWTH Aachen University, Aachen, Deutschland
  • author Peter Birkholz - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät der RWTH Aachen University, Aachen, Deutschland
  • author Klaus Willmes - Lehr- und Forschungsgebiet Neuropsychologie an der Neurologischen Klinik, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät der RWTH Aachen University, Aachen, Deutschland
  • author Christiane Neuschaefer-Rube - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät der RWTH Aachen University, Aachen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bochum, 20.-22.09.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocV12

doi: 10.3205/13dgpp24, urn:nbn:de:0183-13dgpp242

Published: September 5, 2013

© 2013 Heinen et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Auswirkungen eines Zungenpiercings auf den Sprechvorgang wurden bislang wenig erforscht. Es war daher Ziel dieser Studie zu untersuchen, ob sich ein Zungenpiercing generell sowie abhängig von Piercinglänge und -position hörbar auf die Sprechqualität ihrer Träger auswirkt.

Material und Methoden: In einem quasi-experimentellen Design wurden Audioaufzeichnungen von 20 Langzeit-Gepiercten (10m, 10w) und von jeweils 10 ungepiercten Männern und Frauen während des Lesens vom Nordwind-Text, von nach phonetischen Merkmalen kontrollierten Wortlisten und während Spontansprachäußerungen erstellt. Die Gepiercten wurden sowohl mit eingesetztem als auch mit herausgenommenem Barbell untersucht. In einem perzeptiven Rating wurden diese Sprechproben von 26 weibl. und 20 männl. Laien-Ratern sowie von 5 Logopädinnen auf einer 5-stufigen Skala bezüglich Sprechdeutlichkeit, -geschwindigkeit, -rhythmus, -flüssigkeit und Betonung bewertet. Die Rater waren bzgl. der Intention der Studie vollständig verblindet.

Ergebnisse: Für keinen der Sprechparameter konnte ein statistisch signifikanter Beurteilungsunterschied zwischen den gelesenen bzw. den spontan gesprochenen Samples der gepiercten und nicht-gepiercten Sprecher nachgewiesen werden. Auch hatten weder Piercing-Länge noch Piercing-Position signifikante Einflüsse auf die Bewertung. Dies galt auch für Laute, die im Bereich der Vorderzunge artikuliert werden. Weiterhin war die Sprechqualität der Gepiercten mit eingesetztem Barbell statistisch vergleichbar derjenigen mit herausgenommenem. Es ergab sich eine geringe Tendenz zur höheren Sprechpräzision der Frauen verglichen mit den Männern unabhängig davon, ob diese ungepierct waren, ihr Piercing trugen oder auch nicht. Bewertungsunterschiede zwischen Laien und Logopäden waren ebenfalls unabhängig vom Piercing-Status.

Diskussion: Zungenpiercings haben langfristig offensichtlich keinen störenden Einfluss auf die Sprechverständlichkeit, sofern dem Hörer der visuelle Eindruck seines Gegenübers entzogen wird. Möglicherweise sind hierfür Adaptionsvorgänge von Bedeutung, ähnlich denen beim Tragen einer Zahnklammer. In künftigen Verlaufs-Studien unmittelbar nach Erstapplikation eines Zungenpiercings wäre es möglich, diese Vorgänge und deren Zeitdynamik näher zu untersuchen.


Text

Hintergrund

Eine repräsentative Umfrage [1] gibt für die deutsche Bevölkerung eine Prävalenz von 14% für Piercings an (exklusive des Durchstechens der Ohrläppchen), wobei besonders die Altersgruppe der 11- bis 25-Jährigen Piercings aufweist. Frauen sind durch alle Altersgruppen hinweg häufiger gepierct als Männer.

15,3% aller Piercings sind Zungenpiercings (Abbildung 1 [Abb. 1]) [2]. Diese können mit zahlreichen Komplikationen verbunden sein. Häufig wird dabei beim Zungenpiercing auch eine Störung des Sprechens aufgeführt. In dieser Studie wird die Frage aufgegriffen, ob sich eine solche Beeinflussung tatsächlich nachweisen lässt und wie sich diese am ehesten manifestiert.

Auswirkungen eines Zungenpiercings auf den Sprechvorgang wurden bislang wenig erforscht und es bleiben viele Fragen noch unbeantwortet [3]. Wie viele Zungengepiercte weisen Störungen der expressiven Sprechverständlichkeit auf? Sind diese Störungen, wenn vorhanden, für einen unvoreingenommenen Zuhörer überhaupt im Vergleich zu einem ungepiercten Sprecher wahrnehmbar? Welche Laute sind davon besonders betroffen? Spielen die Lokalisation des Piercings, der Zeitraum des Bestehens oder gar das Geschlecht des Gepiercten eine Rolle?

Es war daher Ziel dieser Studie zu untersuchen, ob sich ein Zungenpiercing generell sowie abhängig von Piercinglänge und –position sowohl für Experten als auch für Laien in der auditiven Bewertung gesprochener Sprache hörbar auf die Sprechqualität ihrer Träger auswirkt. Dabei wurde der Begriff der Artikulation durch Definition gezielter Sprechparameter unter Berücksichtigung verschiedener Sprechsituationen und gezielt ausgewählter Laute untersucht. Das Stimmgeschlecht der Probanden sowie das Geschlecht der Rater wurden ebenfalls berücksichtigt.

Material und Methoden

In einem quasi-experimentellen Design wurden Audioaufzeichnungen von 20 Langzeit-Gepiercten (10m, 10w) und von jeweils 10 ungepiercten Männern und Frauen während Spontansprachäußerungen und während des Lesens erstellt. Hierzu wurden der Nordwind-Text sowie nach phonetischen Merkmalen ausgewählte Wortlisten verwendet, die unterschiedliche Konsonanten bzw. Konsonantenkombinationen als An-, In- und Auslaut enthielten, um eine gezielte Überprüfung von Lauten zu ermöglichen. Um einen unterschiedlich starken Einfluss auf die verschiedenen Artikulationsorte berücksichtigen zu können, wurden dabei bewusst Konsonanten der labiodentalen, alveolaren und palatoalveolaren Artikulationszone ausgewählt.

Die Gepiercten wurden sowohl mit eingesetztem als auch mit herausgenommenem Barbell untersucht. Neben persönlichen Daten wurde erfasst, ob die Probanden ein Zungenpiercing besaßen, wenn ja, seit wann dieses Piercing bestand, wo es in der Zunge platziert war und welche Länge der Piercingstab aufwies. Bei allen gepiercten Probanden handelte es sich um das klassische, vertikal durch die Mittellinie verlaufende Zungenpiercing. Dieses war bei allen bereits seit mehreren Jahren vorhanden. Als Ausschlusskriterien wurden Berufssprecherzugehörigkeit, nicht-deutsche Muttersprache, Sprech- oder Stimmstörungen sowie Hörstörungen festgelegt.

Die verschiedenen Tonaufnahmen wurden in einem perzeptiven Rating willkürlich ausgewählten 26 weiblichen und 20 männlichen Laien-Ratern sowie 5 Logopädinnen dargeboten. So konnten zum einen geschlechtliche Einflüsse der Bewerter untersucht werden, zum anderen hatte das Rating mit einer Expertengruppe zum Ziel, durch ihre höhere Kompetenz in der Bewertung von Sprache einen Goldstandard für die Untersuchung festzulegen.

Hierzu wurden die Samples in zwei unterschiedliche zufällige Reihenfolgen gebracht, um beim Bewerter Effekte, die die verschiedenen Samples aufeinander haben können, zu minimieren.

Bewertet wurden die Samples auf einer 5-stufigen Skala bezüglich Sprechdeutlichkeit, -geschwindigkeit, -rhythmus, -flüssigkeit und Betonung. Es wurde eine ungerade 5-stufige Skala gewählt, um eine differenzierte Beurteilung zu ermöglichen mit der Option, eine unentschiedene Meinung ausdrücken zu können.

Die Rater waren bzgl. der Intention der Studie vollständig verblindet.

Ergebnisse

Für keinen der Sprechparameter konnte ein statistisch signifikanter Beurteilungsunterschied zwischen den gelesenen bzw. den spontan gesprochenen Samples der gepiercten und nicht-gepiercten Sprecher nachgewiesen werden. Auch hatten weder Piercing-Länge noch Piercing-Position signifikante Einflüsse auf die Bewertung. Dies galt auch für Laute, die im Bereich der Vorderzunge artikuliert werden. Weiterhin war die Sprechqualität der Gepiercten mit eingesetztem Barbell statistisch vergleichbar derjenigen mit herausgenommenem. Es ergab sich eine geringe Tendenz zur höheren Sprechpräzision der Frauen verglichen mit derjenigen der Männer unabhängig davon, ob diese ungepierct waren, ihr Piercing trugen oder nicht. Bewertungsunterschiede zwischen Laien und Logopäden waren ebenfalls unabhängig vom Piercing-Status.

Diskussion und Fazit

Seit längerem getragene Zungenpiercings haben offensichtlich keinen störenden Einfluss auf die Sprechverständlichkeit, sofern dem Hörer der visuelle Eindruck seines Gegenübers entzogen wird. Möglicherweise sind hierfür Adaptionsvorgänge von Bedeutung, ähnlich denen beim Tragen einer Zahnklammer.

Die hier erhobenen Bewertungen bilden allerdings lediglich die subjektiven Wahrnehmungen der Rater ab. In künftigen Verlaufs-Studien unmittelbar nach Erstapplikation eines Zungenpiercings wäre es mithilfe objektivierender akustischer Analysen oder Untersuchungen der Zungenbewegungen mithilfe bildgebender Verfahren möglich, diese Vorgänge und deren Zeitdynamik näher zu untersuchen.


Literatur

1.
Stirn A, Brähler E, Hinz A. Prävalenz, Soziodemografie, mentale Gesundheit und Geschlechtsunterschiede bei Piercing und Tattoo. Psychother Psychosom Med Psychol. 2006 Nov;56(11):445-9. DOI: 10.1055/s-2006-951817 External link
2.
Krause H, Bremerich A, Sztraka M. Komplikationen nach Piercing im Mund und im Gesicht. Mund Kiefer Gesichtschir. 2000 Jan;4(1):21-4. DOI: 10.1007/s100060050006 External link
3.
Van Borsel J, Cornelis C. Tongue piercing and speech. J Otolaryngol Head Neck Surg. 2009 Feb;38(1):11-5.