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30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 22.09.2013, Bochum

Die Therapie der Lese-Rechtschreibstörung (LRS) – eine logopädische Aufgabe? Kriterien für eine sprachtherapeutische Intervention

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Andrea Gütinger - Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO Univ.-Klinik Ulm, Deutschland
  • Elisabeth Smith - Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO Univ.-Klinik Ulm, Deutschland
  • Rudolf Reiter - Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO Univ.-Klinik Ulm, Deutschland
  • Brosch Sibylle - Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie der HNO Univ.-Klinik Ulm, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bochum, 20.-22.09.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocV5

doi: 10.3205/13dgpp08, urn:nbn:de:0183-13dgpp080

Published: September 5, 2013

© 2013 Gütinger et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Kinder mit einer umschriebenen Sprachentwicklungsstörung (USES) tragen ein hohes Risiko für die Ausbildung einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS) in sich (interdisziplinäre S2k-Leitlinie). Untersuchungen hinsichtlich der Häufigkeit von Sprachstörungen bei diagnostizierter Lese-Rechtschreibstörung sind bislang nur aus dem angloamerikanischen Raum berichtet worden [1]. Die Hypothese war, dass LRS-Kinder neben phonologischen Auffälligkeiten noch sprachsystematische Defizite haben und diese in Zusammenhang mit den schriftsprachlichen Leistungen stehen.

Material und Methoden: Eine umfassende Testbatterie mit einem Kollektiv von 27 Kindern im Alter zwischen 8 und 11 Jahren überprüfte in einer prospektiven Querschnittsuntersuchung die Zusammenhänge linguistischer Fähigkeiten mit den schriftsprachlichen Fähigkeiten.

Ergebnisse: Es ergaben sich keine signifikanten Zusammenhänge zwischen den sprachlichen Fähigkeiten und dem Lesetempo. Mittlere Zusammenhänge mit dem Schreiben von Pseudowörtern lagen für den Wortschatz, das Sätze nachsprechen und die Grammatik vor (p<.05). Wortschatz und Grammatik korrelierten ebenfalls signifikant mit der Rechtschreibung realer Wörter (p<.05). Insgesamt zeigten 67% der Kinder neben der LRS auch eine USES.

Diskussion: Die Daten bestätigen die LRS und USES als komorbide Störungen und stützen das Modell von Bishop und Snowling. Der hohe Anteil phonologisch und sprachlich auffälliger Kinder mit Lese-Rechtschreibproblemen bestätigt die LRS als sprachliche Störung. Dementsprechend sollten LRS-Kinder immer auch hinsichtlich ihrer Lautsprachkompetenz abgeklärt werden. Bei entsprechenden Defiziten ist eine sprachtherapeutische Intervention einzuleiten.


Text

Hintergrund

Die Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) zählt zu den häufigsten umschriebenen Entwicklungsstörungen des Kindesalters [3]. Kinder mit einer umschriebenen Sprachentwicklungsstörung (USES) tragen dabei ein hohes Risiko für die Ausbildung einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS) in sich [2]. Untersuchungen hinsichtlich der Häufigkeit von Sprachstörungen bei diagnostizierter Lese-Rechtschreibstörung sind bislang überwiegend nur aus dem angloamerikanischen Raum berichtet worden. Bishop und Snowling [1] gehen davon aus, dass es sich bei LRS und USES um komorbide Störungen mit fließenden Übergängen handelt.

Im logopädischen Therapiealltag kann beobachtet werden, dass viele LRS-Kinder neben phonologischen auch sprachsystematische Auffälligkeiten (u.a. in Grammatikverständnis, Grammatik und Wortschatz) haben.

Gegenstand der Untersuchung waren die Fragen, inwieweit sich der therapeutische Eindruck der hohen Überlappung von LRS und USES bestätigt, welche lautsprachlichen Bereiche besonders betroffen sind und ob die Defizite im Zusammenhang mit dem Lesen und Schreiben von Wörtern und Pseudowörtern stehen. Aus den Ergebnissen sollten Kriterien für eine sprachtherapeutische Intervention abgeleitet werden.

Material/ Methoden

In einer prospektiven Querschnittsuntersuchung wurden der Zusammenhang zwischen laut- und schriftsprachlichen Fähigkeiten (Korrelationsanalysen), der Leistungsunterschied in einzelnen sprachlichen Variablen (T-Test für gepaarte Stichproben) und der Gruppenunterschied zur Norm der Grundgesamtheit (T-Test für eine Stichprobe) untersucht. Das Kollektiv bestand aus 27 LRS-Kindern im Alter zwischen 8 und 11 Jahren (20 männlich/7 weiblich, Durchschnittsalter 9;4), die im Rahmen der Routinesprechstunde mit Verdacht auf „Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)“ oder Verdacht auf LRS, bei schulischen Leistungsschwierigkeiten, vorgestellt wurden. Zur Diagnosestellung „LRS“ (sofern nicht extern erfolgt) wurde die nonverbale Intelligenz (CPM), das Lesetempo auf Wort- und Pseudowortebene (SLRT-II) und das Schreiben auf Wort- (SLRT-II) und Pseudowortebene (UT „Pseudowortschreiben“ (P-ITPA)) untersucht. Die lautsprachlichen Variablen waren: auditives Gedächtnis für Zahlen (UT „Zahlen nachsprechen“ (K-ABC))/Silben (Mottier-Test)/Sätze (UT „IS“ (HSET)), auditive und kinästhetische Lautdifferenzierung/auditive Lautanalyse (H-LAD), Verstehen grammatischer Strukturformen (TROG-D), Textverständnis (UT „Fragen zum Text“ (SET 5-10)), expressive semantisch-lexikalische Fähigkeiten (UTs „Analogien“/„Wortschatz“ (P-ITPA)) und morphologische Fähigkeiten (UTs „Grammatik“/„Sätze nachsprechen“ (P-ITPA)).

Ergebnisse

Es ergaben sich keine signifikanten Zusammenhänge zwischen den sprachlichen Fähigkeiten und dem Lesetempo. Mittlere Zusammenhänge mit dem Schreiben von Pseudowörtern lagen für den Wortschatz (r=.48, p<.05), das Sätze nachsprechen (r=.50, p<.05) und die Grammatik vor (r=.58, p<.01). Wortschatz und Grammatik korrelierten ebenfalls signifikant mit der Rechtschreibung realer Wörter (r=.38, p<.05). Die untersuchten Kinder zeigten speziell in der phonologischen Enkodierung signifikant schlechtere Leistungen als in den rezeptiven und expressiven Sprachleistungen (p<.01). Entgegen der Erwartung zeigten die untersuchten Kinder signifikant schlechtere Leistungen in der auditiven (p<0.01) und kinästhetischen (p<.001) Lautdifferenzierung als in der auditiven Lautanalyse. Bis auf den UT „Fragen zum Text“ lagen die errechneten Mittelwerte in den rezeptiven und expressiven Fähigkeiten signifikant unter dem durchschnittlichen T-Wert 50 (p<.01 bzw. p<.001), jedoch nicht signifikant unter der unteren Normgrenze von T-Wert 40. Damit konnte bei der vorliegenden Stichprobe ein generelles lautsprachliches Defizit bei LRS-Kindern nicht nachgewiesen werden. Dennoch zeigten 67% der untersuchten Kinder neben der LRS auch eine USES, 15% hatten zusätzlich eine AVWS mit Schwerpunkt in der phonologischen Verarbeitung, und 18% zeigten keinerlei lautsprachliche Defizite.

Diskussion

Die Daten bestätigen die LRS und USES als komorbide Störungen und stützen das Modell von Bishop und Snowling. Demnach sind Kinder mit noch bestehenden Schwierigkeiten im semantisch-lexikalischen oder morpho-syntaktischen Bereich den USES zuzuordnen. Der hohe Anteil phonologisch und sprachlich auffälliger Kinder mit Lese-Rechtschreibproblemen bestätigt somit die LRS als überwiegend sprachliche Störung. Dennoch müssen die Daten aufgrund der Stichprobengröße und des klinischen Kollektivs mit Vorsicht interpretiert werden.

Die Korrelationsanalysen werfen kritische Fragen hinsichtlich der Testmaterialien auf. Es stellt sich die Frage, ob die einzelnen Testmaterialien die entsprechenden Leistungen in ausreichender Sensitivität und Spezifität erfassen. Auch führt die Art der Erfassung einer Fähigkeit möglicherweise zu unterschiedlichen Ergebnissen in den einzelnen Untertests und damit auch in deren Zusammenhang mit der Schriftsprache. Schlussendlich sollte bei der Interpretation auch die Problematik der unterschiedlichen Klassifikation der einzelnen Leistungen nicht außer Acht gelassen werden.

Fazit

Die Kinder der vorliegenden Untersuchung zeigten zu einem nicht unerheblichen Teil Störungen in sprachlichen Teilfunktionen. Dementsprechend sollten LRS-Kinder immer auch umfassend hinsichtlich ihrer Lautsprachkompetenz abgeklärt werden. Bei entsprechenden Defiziten ist eine sprachtherapeutische Intervention einzuleiten. Hinsichtlich einer evidenzbasierten Logopädie bedarf es dringend aussagekräftiger Therapiestudien hinsichtlich der Auswirkung sprachtherapeutischer Konzepte auf die schriftsprachlichen Leistungen.


Literatur

1.
Bishop DV, Snowling MJ. Developmental dyslexia and specific language impairment: same or different? Psychol Bull. 2004 Nov;130(6):858-86. Review. DOI: 10.1037/0033-2909.130.6.858 External link
2.
Interdisziplinäre S2k-Leitlinie. AWMF Reg.-Nr 049-006.
3.
Schulte-Körne G. Lese- und Rechtschreibstrung im Schulalter. Neuropsychologische Aspekte. Z Psychiatr Psychol Psychother. 2011;59:47-55. DOI: 10.1024/1661-4747/a000051 External link