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26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

11.09. - 13.09.2009, Leipzig

Zur Bedeutung permanenter minimaler Hörstörungen bei Kindern

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 11.-13.09.2009. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2009. Doc09dgppP05

doi: 10.3205/09dgpp08, urn:nbn:de:0183-09dgpp085

Published: September 7, 2009

© 2009 Massinger et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Permanente minimale Hörstörungen (MH) mit Hörschwellen zwischen 20–35 dB werden im Neugeborenen-Hörscreening oft übersehen. Die betroffenen Kinder scheinen jedoch insbesondere im Schulalter Nachteile durch eine unbehandelte MH zu erleiden.

Material, Methoden: Über eine Literaturrecherche wurde überprüft, welche Beeinträchtigungen im Hören, in besonderen Hörsituationen, in den Schul-, Intelligenz- und Sprachleistungen sowie im Sozialverhalten bei MH zu erwarten sind und welche Maßnahmen sinnvoll erscheinen.

Ergebnisse: Die Häufigkeit uni- und bilateraler MH wird zwischen 2,4 und 5,4% angegeben. Die Rate der Klassenwiederholer ist bei MH-Kindern mit 37% deutlich erhöht. Zusätzlich ist mit Einschränkungen in der Kommunikationsfähigkeit, der Aufmerksamkeit und des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses sowie im Vorschulalter auch der Sprachentwicklung zu rechnen.

Diskussion: Therapeutisch werden Hörgeräte, FM-Anlagen, spezielle Kommunikationsstrategien sowie Modifikationen der Hörumgebung empfohlen. Allerdings liegt keine Evidenz vor, die die frühe Versorgung mit Hörgeräten oder FM-Anlagen rechtfertigt, zumal die Hörgeräteakzeptanz bei 25% der versorgten Kinder nicht auf Dauer anhält. Bei MH sind bis zum Jugendalter regelmäßige Hör-, Sprach- und Entwicklungskontrollen sowie Beratungen der Eltern und des Lehrpersonals von besonderer Bedeutung. Derzeit bestehen zahlreiche offene Fragen hinsichtlich der günstigsten Behandlungsstrategien.


Text

Einleitung und Hintergrund

Permanente minimale Hörstörungen (MH) mit Hörschwellen zwischen 20–35 dB werden im Neugeborenen-Hörscreening oft übersehen. Eine unbehandelte MH scheint jedoch insbesondere im Schulalter nachteilig zu sein, so dass sich zwangsläufig die Frage nach der Indikation und Art einer Versorgung mit Hörhilfen ergibt.

Material und Methode

Über eine Literaturrecherche wurde überprüft, welche Beeinträchtigungen beim Hören, in besonderen Hörsituationen, in den Schul-, Intelligenz- und Sprachleistungen sowie im Sozialverhalten bei MH zu erwarten sind und welche Maßnahmen sinnvoll erscheinen.

Ergebnisse

Als minimale Hörstörungen (MH) werden in der Literatur folgende Konstellationen zusammengefasst [1], [2], [3], [4], [5]: Bilateraler minimaler Hörverlust (BMHV) mit permanenten Hörschwellen (Luftleitung) bezogen auf 500, 1000 und 2000 Hz von durchschnittlich 20–40 dB, ein- oder beidseitiger Hochfrequenzverlust (HFV) mit permanenten Hörschwellen (Luftleitung) von über 25 dB bei mindestens zwei Frequenzen über 2 kHz sowie unilaterale Hörverluste (UHV) mit permanenten einseitigen Hörschwellen (Luftleitung) von durchschnittlich mindestens 20 dB bei 500, 1000 und 2000 Hz im betroffenen Ohr mit Normalgehör der Gegenseite. Die Häufigkeit uni- und bilateraler MH wird zwischen 2,4 und 5,4% angegeben [1], [6]. Im Neugeborenenalter liegen die Erwartungsraten für UHV bei 0,08% bis 0,27% und für BMHV bei 0,036%, jedoch werden UHV und BMHV deutlich seltener als erwartet im Neugeborenen-Hörscreening identifiziert [4], [7], [8], [9]. Die Prävalenz von MH nimmt zum Schulalter hin zu, u. a. durch progrediente oder late-onset-Verläufe sowie erworbene Faktoren [4]. Zwischen 14% und 32,8% der Kinder mit UHV zeigen Hörverschlechterungen [10], [11]. Ätiologisch kommen bei MH zu 8% homozygote Connexin-Mutationen vor, so dass molekulargenetische Untersuchungen sinnvoll erscheinen [12]. Nur 23% der MH wurden bis einschließlich zum 4., nur 30% bis zum 5. Lebensjahr diagnostiziert, die meisten erst im Schulalter [13], [14]. Bei UHV lag das mittlere Diagnosealter bei 8¾ bzw. 5½ Jahren [15], [16], [17]. Da durch ein Neugeborenen-Hörscreening ein großer Teil der MH nicht erfasst wird, dürfte sich das Diagnosealter für MH in Zukunft nicht wesentlich zu einem geringeren Lebensalter hin verschieben.

Bei Kindern mit beidseitigen MH wurden Einschränkungen des Sprachverstehens im Störschall im Vergleich zu Normalhörenden (NH) nachgewiesen, ebenso bei UHV [18], [13], [19], [20]. Zusätzlich bestehen bei Kindern mit UHV Einschränkungen des Richtungsgehörs [14], [20], [21]. Darüber hinaus schneiden Kinder mit MH bei Dual-Task-Aufgaben schlechter im Vergleich zu NH ab, so dass die Höranstrengung bei MH erhöht zu sein scheint bzw. die Kinder in schwierigen Hörsituationen schlechter kompensieren können als NH [19], [22].

Die Rate der Klassenwiederholer ist bei MH mit 37% deutlich erhöht. Bei über 50% der Kinder mit UHV ist mit schulischen Problemen oder Verhaltensauffälligkeiten in der Schule zu rechnen [15]. Verbale und nonverbale Intelligenz von Kindern mit UHV unterschieden sich nicht im Vergleich zu NH, jedoch zeigten die Kinder mit Klassenwiederholungen eine schwächere verbale Intelligenz [23]. Bei Kindern mit MH waren pragmatische Auffälligkeiten und Missartikulationen von Frikativen häufiger als bei normal hörenden Kindern [24]. Bei Kindern mit MH und mittelgradigen Hörverlusten wurden Defizite im phonologischen Kurzzeitgedächtnis für Sinnloswörter mit zunehmender Wortlänge beschrieben sowie in der Phonemdifferenzierung, ohne dass sich Einschränkungen in der Sprachentwicklung oder im Lesen bzw. Schreiben ergaben [6], [25], [26].

Gemäß dem Pediatric Amplification Protocol sollten Schulkinder mit MH als Kandidaten für Hörgeräteversorgungen oder für FM-Anlagen angesehen werden, während bei Kindern mit UHV grundsätzlich Hörgeräte indiziert seien. Für Säuglinge und Kleinkinder mit MH können bei zurückgestellter Hörgeräteversorgung zunächst spezielle Kommunikationsstrategien (Störgeräuschreduktion, Positionierung des Kindes u. a.) nützlich sein [27]. Die Daten zur Hörgeräteakzeptanz bei MH differieren. Von den mit Hörgeräten versorgten Kindern (BMHV) akzeptierten in einer Studie nur 44% die Geräte ganztags, während ¼ der Kinder die Hörgeräte nach der Anpassung nicht mehr verwendeten [28]. Es liegt noch keine Evidenz vor, die rechtfertigt, alle Kinder mit MH mit Hörgeräten oder FM-Anlagen zu versorgen, ebenso gilt dies für den günstigsten Zeitpunkt der Versorgung [6], [28].

Diskussion

MH stellt für die betroffenen Kinder ein Risiko für die sprachliche, die allgemeine und die schulische Entwicklung dar. Es ist notwenig, dass ein Bewusstsein für dieses Risiko bei Eltern, Lehrern und Fachpersonen entsteht und Möglichkeiten zur Hilfe im Alltag angeboten werden. Eine Hörgeräteversorgung sollte u. E. bei MH gegen Ende des 1. Lebensjahres vorgesehen werden. Kinder mit MH benötigen bis zum Jugendalter regelmäßig Hör-, Sprach- und Entwicklungskontrollen sowie Beratungen der Eltern und des Lehrpersonals. Derzeit bestehen jedoch noch zahlreiche offene Fragen hinsichtlich der günstigsten Behandlungsstrategien und dem optimalen Zeitpunkt der Behandlung.


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