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Dreiländertagung D-A-CH
24. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28. - 30.09.2007, Innsbruck, Österreich

Phänotypisierung einer konsanguinen Familie mit oraler Dyspraxie bei angeborener Sprach- und Sprechstörung

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Jochen Rosenfeld - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • author Markus Schülke - Klinik für Neuropädiatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, CVK, Berlin, Deutschland
  • author Jörg Bohlender - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • author Bärbel Wohlleben - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
  • author Manfred Gross - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirugie. Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie. Dreiländertagung D-A-CH, 24. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V.. Innsbruck, Österreich, 28.-30.09.2007. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2007. Doc07dgppV27

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Published: August 28, 2007

© 2007 Rosenfeld et al.
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Zusammenfassung

Eine Strategie zur Identifikation molekulargenetischer Ursachen bei Sprach- und Sprechstörungen ist die Homozygotie-Kartierung bei Konsanguinität. Entscheidend dabei ist eine exakte Phänotypisierung, um ggf. gefundenen homologen Chromosomenabschnitten einem entsprechenden Phänotyp zuordnen zu können.

Im Rahmen der interdisziplinären Beschreibung (Neuropädiatrie, Humangenetik, Radiologie, Innere Medizin) einer 5-köpfigen, türkischen Familie mit konsanguinen Eltern wird eine Methode zur Phänotypisierung insbesondere kommunikativer, pädaudiologischer Aspekte wie Sprache, Sprechen, Mundmotorik, Hörvermögen und Intelligenz im Hinblick auf mögliche genetische Untersuchungen dargestellt.

Zwei der drei Kinder zeigten eine schwere orale Dyspraxie bei Sprach- und Sprechstörung. Auffällig war dabei insbesondere eine Bewegungsstörung im Bereich der Mundmotorik und der Zunge. Die non-verbale Überprüfung der kognitiven Entwicklung zeigte eine Intelligenz im Bereich der geistigen Behinderung. Die nicht-betroffenen Mitglieder besuchten eine normale Schule und hatten eine unauffällige Sprach- und Sprechentwicklung. Eine periphere Hörstörung konnte bei allen Familienmitgliedern ausgeschlossen werden.


Text

Einleitung

Eine Strategie zur Identifikation molekulargenetischer Ursachen bei Sprach- und Sprechstörungen ist die Homozygotie-Kartierung bei Konsanguinität. Blutsverwandte Eltern haben häufiger Kinder mit autosomal rezessiven Erbkrankheiten, da bei ihnen das Risiko dieselbe defekte Erbanlage zu tragen und weiterzugeben wie ihr Ehepartner sehr viel größer ist als bei nicht verwandten Eltern. Kranke Kinder aus solchen Verwandtenehen haben deshalb oft zwei identische Kopien desselben defekten Gens von ihren Eltern geerbt. Normalerweise unterscheiden sich homologe Chromosomenabschnitte durch eine Vielzahl von Bausteinen. Das Fehlen jeglicher genetischer Unterschiede zwischen zwei homologen Chromosomenabschnitten von Patienten ist daher sehr auffällig und läßt sich bei Kindern blutsverwandter Eltern zur Kartierung autosomal rezessiv vererbter Gendefekte nutzen [3].

Um ggf. gefundenen homologen Chromosomenabschnitten ein entsprechendes Merkmal zuordnen zu können, ist eine exakte, umfassende Phänotypisierung sowie dichotome Einteilung in auffällig oder unauffällig notwendig. Dabei gewinnt ein interdisziplinäres Vorgehen mehr und mehr an Bedeutung. Diese Interdisziplinarität ist sowohl im Bereich medizinischer Fachwissenschaften (z. B. Humangenetik, Kinderheilkunde, Neuropädiatrie, Phoniatrie/Pädaudiologie, Radiologie) als auch innerhalb der Phoniatrie/Pädaudiologie angrenzender Bereiche (Audiologie, Logopädie, Linguistik, Medizin, Psychologie) notwendig [2].

Die Darstellung von Merkmalen, die sich in Zahlenwerte fassen lassen (z.B. Laborwerte, IQ) und damit weitgehend definiert den relativen Stand eines Probanden innerhalb einer Verteilung zeigen, bereitet oft keine Probleme. Anatomisch-morphologische Gegebenheiten lassen sich in der Regel lediglich im Vergleich zu einem „normalen“ Phänotyp beschreiben oder bildlich darstellen [1]. Erschwert ist die wissenschaftliche Darstellung von Verhalten oder motorischen Bewegungsabläufen. Hier ist wiederum eine einfache Beschreibung oder als Alternative eine Video-Analyse zur Phänotypisierung möglich.

Unter Ausnutzung o.g. Möglichkeiten beschreiben wir die systematische, interdisziplinäre Phänotypisierung einer 5-köpfigen, türkischen Familie mit konsanguinen Eltern im Hinblick auf mögliche genetische Untersuchungen. Dabei wurde auf die Darstellung kommunikativer, pädaudiologischer Aspekte besonderer Wert gelegt.

Methode

Die Familie war uns erstmals Anfang 2007 von der Klinik für Neuropädiatrie der Charité mit der Bitte um Phänotypisierung im Hinblick auf kommunikative, pädaudiologische Aspekte vorgestellt worden. Dort war eine umfassende neuropädiatrische Abklärung (Anamnese, neurologischer Status, EEG) durchgeführt worden. In der Vorgeschichte waren ein MRT des Schädels, eine Chromosomenanalyse sowie laborchemische Untersuchungen auf metabolische Auffälligkeiten erfolgt.

In der Klinik für Audiologie und Phoniatrie der Charité wurde die Familie dreimal vorstellig. Bei der 1. Vorstellung wurden von ärztlicher Seite eine ausführliche Anamnese, ein halbstandardisiertes Elterninterview (orientiert an IDIS) sowie ein Spiegelbefund von Kopf-Hals unter besonderer Berücksichtigung der orofacialen Region erhoben. Weiterhin erfolgte die Erfassung eines informellen Sprach- und Sprechbefundes durch eine Logopädin sowie audiometrischer Daten (Tympanogramm, Tonaudiogramm, OAE). Die 2. Vorstellung diente der Bestimmung der non-verbalen Intelligenz (SON-R, SPM) aller Familienmitglieder. Bei der 3. Vorstellung wurden im Rahmen einer Video-Analyse nach einem festgelegten Schema (Torso, Mundbild, Zungenbewegung, einzelne Worte, Kauen und Schlucken) der orofaciale Bereich und die Mundmotorik für jedes einzelne Familienmitglied erfasst.

Ergebnisse

Die gesunden Eltern der untersuchten 5-köpfigen, türkischen Familie sind Cousin und Cousine 1. Grades. Sie sprechen beide deutsch und türkisch fließend. Der älteste 16-jährige Bruder ist normal entwickelt und besucht die 9. Klasse einer Realschule. Der mittlere 14-jährige Bruder (Pat. 1) und die jüngste 5-jährige Schwester (Pat. 2) sind beide körperlich, geistig und sprachlich retardiert.

Pat. 1 (männlich, 14 Jahre)

Die Geburt erfolgte nach unauffälliger Schwangerschaft nach 39+6 SSW, GG 2690g (<P10), KL 51 cm, KU 34,5 cm, APGAR 8/10/10 NA pH 7,33. Mit 2 Monaten wurde aufgrund einer Trinkschwäche abgestillt. Die motorische Entwicklung verlief verzögert: freies Sitzen mit 1½ Jahren, freies Gehen mit 3 Jahren. Trocken mit 4-5 Jahren. Seit etwa dem 8. Lebensjahr spricht der Junge 4 Worte (Papa, Opa, Mama auf Türkisch, Ball auf Deutsch). Das Sprachverständnis ist sowohl im Türkischen als auch im Deutschen wesentlich besser ausgeprägt. Mit den Eltern kommuniziert er in einer Gestensprache. Eine logopädische Betreuung bestand seit dem 3. Lebensjahr bis ins Alter von 13 Jahren. Bei gehäuften Mittelohraffektionen war im 3. Lebensjahr eine Adenotomie und Paukendrainage durchgeführt worden. Der Jugendliche besucht derzeit die 8. Klasse einer Schule für geistig Behinderte und arbeitet dort am Computer (Mal- und Musikprogramme). Schreiben und Lesen sind nicht möglich mit Ausnahme seines Namens. In der Interaktion zeigte sich der Jugendliche als sehr freundlich, Kontakt suchend und zugewandt.

Die interdisziplinäre Ursachenabklärung ergab von humangenetischer Seite einen normalen männlichen Chromosomensatz 46, XY. Eine Kernspintomographie des Schädels zeigte periventrikuläre Substanzdefekte mit leichter Erweiterung der Seitenventrikel. Wach- und Schlaf-EEG waren unauffällig, die Suche nach Mucopoly- und Oligosacchariden im Urin zeigten einen Normalbefund. Im neuropädiatrischen Befund fiel insbesondere eine zentrale Koordinationsstörung auf.

Der Spiegelbefund zeigte eine offene Mundhaltung bei Zahnfehlstellungen mit offenem Biss. In Ruheposition fand sich eine Hochwölbung der rechten Zungenhälfte, beim Herausstrecken der Zunge zunächst ein Abweichen nach links, dann eine Korrektur in Mittelposition. Die Mundmotorik war grundsätzlich aktiv, willkürlich möglich, insgesamt aber dyspraktisch verlangsamt. Infantiles Kau- und Schluckmuster. Eine Spaltbildung von Lippen, Kiefer oder Gaumen wurde ausgeschlossen. Weitgehend unauffälliger ohrmikroskopischer Befund.

Der Sprach- und Sprechbefund erbrachte produktiv neben den genannten 4 Worten lediglich Lautmalereien, keine Nachahmung. Bei der Überprüfung des passiven Wortschatzes konnten Worte wie Buch, Vogel, Ball etc. auf Bilderkarten gezeigt werden. Das Sprachverständnis für einfache Aufträge (z.B. „Gib die Karte Deiner Mama“) war vorhanden. Die audiometrischen Tests zeigten ein unauffälliges peripheres Hörvermögen. Die Einschätzung der kognitiven Entwicklung (SON-R 5½-17) erbrachte einen IQ von <50, einem Entwicklungsalter von <9;9 Jahren entsprechend.

Pat. 2 (weiblich, 5 Jahre)

Die Geburt erfolgte nach unauffälliger Schwangerschaft nach 40 SSW, GG 3200g, KL 51 cm, KU 36 cm, APGAR 10/10/9 NA pH 7,30. Das Mädchen wurde bis zum 18. Lebensmonat gestillt. Die motorische Entwicklung war im Vergleich zum Bruder verzögerter: Drehen im Alter von 1,5 Jahren, freies Sitzen mit etwa 3 Jahren, zum Zeitpunkt der Untersuchung kein freies Gehen. Eine krankengymnastische/ergotherapeutische Betreuung bestand seit den ersten Lebensmonaten bis heute. Bisher ist das Kind nicht trocken. Erste Worte (Mama und Papa auf Türkisch) im Alter von 5 Jahren bei Verständnis von sprachlichen Aufforderungen der Eltern. Eine Sprach- und Sprechbehandlung besteht seit 2 Monaten einmal wöchentlich. Nach gehäuften Mittelohraffektionen in der Vorgeschichte war eine Adenotomie durchgeführt worden. Das Mädchen besucht seit dem 2. Lebensjahr eine Kindertagesstätte (Integrationsstatus). In der Interaktion verhält sich das Kind fröhlich und zugewandt.

Die interdisziplinäre Ursachenabklärung ergab von humangenetischer Seite einen normalen weiblichen Chromosomensatz 46, XX. Eine Kernspintomographie zeigte weite innere und äußere Liquorräume sowie einen Myelinisierungsrückstand. Eine laborchemische Untersuchung erbrachte einen Normalbefund für überlangkettige Fettsäuren. Bei der klinisch-neuropädiatrischen Untersuchung wurde eine Entwicklungsretardierung von 4-5 Jahren festgestellt.

Im Spiegelbefund zeigte sich ein offener Mund mit mangelnder Speichelkontrolle (drooling) bei Milchgebiss mit Zahnfehlstellungen und fehlenden Zähnen. Auch hier fanden sich wie beim Bruder eine Hochwölbung der rechten Zungenhälfte sowie eine Abweichung der Zunge nach links beim Herausstrecken mit darauf folgender Korrektur zur Mittelposition. Die Mundmotorik zeigte ein dyspraktisches, verlangsamtes Bild. Ausgeprägtes infantiles Kau- und Schluckmuster. Eine Spaltbildung von Lippen, Kiefer oder Gaumen wurde ausgeschlossen. Weitgehend unauffälliger ohrmikroskopischer Befund.

Im Sprach- und Sprechbefund neben den genannten 2 Worten viele Geräusche mit der Zunge. Eingeschränktes Sprachverständnis für Hauptwörter, die Patientin benötigte mehrere Anläufe beim Zeigen von Bildkarten. Die audiometrischen Tests zeigten ein unauffälliges peripheres Hörvermögen. Die Einschätzung der kognitiven Entwicklung (SON-R 2½-7) erbrachte einen IQ von <50, einem Entwicklungsalter von <2 Jahren entsprechend.

Nichtbetroffene Familienmitglieder

Bei den nichtbetroffenen Familienmitgliedern war die Sprachentwicklung unauffällig verlaufen, eine therapeutische Unterstützung hatte zu keiner Zeit bestanden.

Die Eltern der Familie besuchten beide eine Regelschule, die sie mit einem Hauptschulabschluss (9. Klasse) beendeten. Zu Lernproblemen oder dem Wiederholen einer Klasse war es während der gesamten Schulzeit nicht gekommen. Die Überprüfung der non-verbalen Intelligenz (SPM) erbrachte für den Vater einen IQ von 110, für die Mutter von 95 und für den ältesten Bruder von 92. Eine periphere Hörstörung konnte ausgeschlossen werden.

Diskussion

Die systematische, interdisziplinäre Phänotypisierung einer 5-köpfigen türkischen Familie mit konsanguinen Eltern wurde dargestellt. Durchschnittlich 1/8 des Genpools sind bei Verbindungen zwischen Cousin und Cousine ersten Grades identisch. Die Wahrscheinlichkeit für Homozygotie eines bestimmten Gens bei den Kindern beträgt somit 1/16.

Zunächst stellt sich nun die Frage, ob – falls es sich um eine genetische Erkrankung handelt – die beiden jüngsten Kinder die gleiche Erkrankung haben. Genetische Erkrankungen können in ihrer Ausprägung zwischen Geschwistern zum Teil erheblich variieren. Auffällig bei den beiden betroffenen Geschwistern ist ein ähnlicher Phänotyp. Die geistige Retardierung, die eingeschränkte Sprach- und Sprechentwicklung sowie die orofaciale Symptomatik sprechen für die Hypothese einer gemeinsamen genetischen Ursache. Auch die MRT-Veränderungen sind beiden Kindern gemeinsam.

Findet man nun im Rahmen einer Homozygotie-Kartierung bei den beiden betroffenen Familienmitgliedern nahezu identische, weitgehend überlappende homozygote Genabschnitte, kann das für den den Phänotyp verursachenden Gendefekt sprechen. Um diese Zuordnung möglichst genau zu stellen, ist als Grundlage für weiterführende molekulargenetische Untersuchungen wie Homozygotie-Kartierung oder Array-CGH (Suche nach sehr kleinen unbalancierten Chromosomenaberrationen) eine exakte, systematische Phänotypisierung notwendig.


Literatur

1.
Doerfler W, Wieczorek D, Gillessen-Kaesbach G, Albrecht B, Passarge E. Three brothers with mental and physical retardation, hydrocephalus, microcephaly, internal malformations, speech disorder, and facial anomalies: Mutchinick syndrome. Am J Med Genet. 1997;73(2):210-6. Review.
2.
Rosenfeld J, Wohlleben B, Gross M. Eine Methode zur Phänotypisierung der spezifischen Sprachentwicklungsstörung bei 4- bis 5jährigen deutschsprachigen Kindern. In: 100 Jahre Phoniatrie in Deutschland. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc 05dgppV12. http://www.egms.de/en/meetings/dgpp2005/05dgpp048.shtml.
3.
Tzschach A, Ropers H. Genetics of mental retardation. Dtsch Arztebl. 2007;104(20):A 1400-5.