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100 Jahre Phoniatrie in Deutschland
22. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
24. Kongress der Union Europäischer Phoniater

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

16. bis 18.09.2005, Berlin

Stottern/Poltern oder Asperger Syndrom?

Fluency disorder or Asperger Syndrom?

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Monika Brunner - HNO-Universitätsklinik, Abt. Stimm- und Sprachstörungen und Pädaudiologie, Heidelberg, BRD
  • Graciela Lozano - HNO-Universitätsklinik, Abt. Stimm- und Sprachstörungen und Pädaudiologie, Heidelberg, BRD
  • author Ute Pröschel - HNO-Universitätsklinik, Abt. Stimm- und Sprachstörungen und Pädaudiologie, Heidelberg, BRD

100 Jahre Phoniatrie in Deutschland. 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 24. Kongress der Union der Europäischen Phoniater. Berlin, 16.-18.09.2005. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc05dgppV04

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/meetings/dgpp2005/05dgpp056.shtml

Published: September 15, 2005

© 2005 Brunner et al.
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Zusammenfassung

Kinder mit Asperger Syndrom (AS) werden häufig zu spät oder fehldiagnostiziert und damit auch fehltherapiert. Die Diagnose eines AS innerhalb der phoniatrischen Ambulanz wird dadurch erschwert, dass die Kernsymptome, die sozialkommunikativen Auffälligkeiten, auch als Folgeerscheinung bei Sprachentwicklungsverzögerung (SEV) und Stottern/Poltern auftreten können. Bezüglich des Kriteriums "gestörte Sprachentwicklung" herrschen in der Literatur zum Asperger Syndrom divergente Auffassungen. Auch wird „Stottern/Poltern" als Symptom innerhalb des autistischen Spektrums nur am Rande erwähnt. Dennoch finden wir unter den phoniatrischen Störungsbildern immer wieder einzelne Fälle, bei denen Redeflussstörungen im Zusammenhang mit AS auftreten.

Anhand von Videoaufzeichnungen werden in dem Vortrag die sprachlichen Symptome bei AS spezifiziert und die differentialdiagnostischen Kriterien aufgezeigt, anhand derer die Redeflussstörung innerhalb des autistischen Spektrums von isoliertem Stottern/Poltern zu unterscheiden sind. Diese Kriterien beziehen sich auf inhaltsanalytische Aspekte der Sprache und auf die anamnestischen Daten.


Text

Einleitung

Kinder mit Asperger Syndrom (AS) werden häufig zu spät oder fehl-diagnostiziert und damit auch fehl-therapiert. Die Diagnose eines AS innerhalb der phoniatrischen Ambulanz wird dadurch erschwert, dass die Kernsymptome, die sozialkommunikativen Auffälligkeiten, auch als Folgeerscheinung bei Sprachentwicklungsverzögerung und Stottern/Poltern auftreten können. Bezüglich des Kriterium "gestörte Sprachentwicklung und Sprachauffälligkeiten" herrschen in der Literatur zum Asperger Syndrom divergente Auffassungen. Einerseits wird das Fehlen von Sprachentwicklungsstörungen und Sprech- und Sprachauffälligkeiten als ein Wesensmerkmal des Asperger Syndrom im Unterschied zum High Functioning Autismus betrachtet (so in den internationalen Klassifikationsschemata DSM 5 und ICD 10). Andererseits gibt es mehrere neuere Untersuchungen, die dieses Abgrenzungskriterium anzweifeln und auch beim Asperger Syndrom Sprachentwicklungsstörungen und Sprechauffälligkeiten vorfinden, die über die pragmatischen Aspekte der Sprachbenutzung hinaus gehen. „Stottern/Poltern" als Symptom innerhalb des autistischen Spektrums wird jedoch in der Literatur nur am Rande erwähnt. Dennoch finden wir unter den phoniatrischen Störungsbildern immer wieder einzelne Fälle, bei denen Redeflussstörungen und Symptome aus dem autistischen Spektrum auftreten. Es stellt sich die Frage, ob die Symptome des Stotterns, die im Zusammenhang mit Asperger Syndrom auftreten, von den Symptomen des nicht-syndromalen Stotterns zu unterscheiden sind, bzw. welche Kriterien das Entscheidende sind, um die Diagnose Asperger Syndrom zu stellen und das Stottern somit als sekundäres Behandlungsziel zu bewerten.

Methode

Es wurden Videoaufzeichnungen von vier Kindern, die aufgrund von Sprechunflüssigkeiten in die phoniatrische Ambulanz kamen, unabhängig von zwei erfahrenen Sprachtherapeutinnen auf Stottersymptome und weitere Sprechauffälligkeiten hin analysiert. Zur Kategorisierung der Auffälligkeiten wurden Beschreibungen hinsichtlich Sprechfluss und Sprachmelodie aus einzelnen Autismus Studien zusammengestellt, sowie die üblichen Kriterien der Stottersymptomatik verwendet. Überlappungen zwischen den Kategorien wurden zugelassen. Ein Eintrag in eine Beschreibungskategorie wurde dann als gültig bewertet, wenn beide Beobachter in der Kategorisierung übereinstimmten. Die Besonderheiten in Verhalten, Interaktion und Kommunikation ermittelten wir aus der Verhaltensbeobachtung bei spezifisch konfigurierten Spiel- und Interaktionssituationen und aus den anamnestischen Daten. Die Auffälligkeiten in Kommunikation und Interaktion sowie stereotype Verhaltensweisen ließen alle Patienten als Asperger Syndrom klassifizieren.

Ergebnisse

Aus Tabelle 1 [Tab. 1] wird ersichtlich, dass neben den üblichen Stottersymptomen von tonisch-klonischen Unflüssigkeiten weitere Auffälligkeiten in der Sprechmelodie und Prosodie auftraten. Wir fanden die Merkmale langsam und stockend oder unangemessen schnell, zudem abgehackt und unregelmäßig im Rhythmus, so dass Verständnisschwierigkeiten auftreten. Weiterhin: Merkwürdige Sprechmelodie, z.T. näher präzisierbar als fehlende Variation in der Tonhöhe, auch durchgehend abnorme Lautstärke. Repetitives, auch stereotypes oder idiosynkrates Sprechen trat auf, Phrasierung und Betonung waren unangemessen, bei den meisten Patienten gab es unkodierbare Äußerungen. Artikulationsfehler traten jedoch nur bei einem Patienten auf. Die typischen Stotter-Symptome wie Wort-, Silben- und Lautwiederholungen, Vokaldehnungen, Blocks und Mitbewegungen fanden wir überwiegend bei drei Patienten, von denen einer jedoch nur leichte Wortwiederholungen aufwies.

Diskussion

Es konnte aufgezeigt werden, dass die Patienten mit Asperger Syndrom hinsichtlich des Sprachflusses zusätzlich zu den typischen Stottersymptomen weitere Auffälligkeiten zeigen. Diese liegen in Prosodie und Stimmgebung. Auffällige Prosodie, Stimmgebung und Dysrhythmie ist allerdings auch beim Poltern vorfindbar. Insofern ist die differentialdiagnostische Abgrenzung von isoliertem Stottern nicht einfach. Uns scheint das wesentliche Merkmal nicht so sehr in den formalen Aspekten der Rede zu liegen, sondern darin, dass die Erschwernis im Kontaktaufbau und der sozialkommunikativen Seite der Sprache bei Asperger im Vordergrund steht, wobei der soziale Rückzug hier nicht Folge der Sprechstörung ist - wie bei Stottern/Poltern - sondern Kernsymptom der Störung. Eine reine Sprachtherapie, ohne dass sie in eine spezifische Therapie des Autismus eingebettet wäre, ist in solchen Fällen nicht indiziert.

In der Literatur finden sich kaum Untersuchungen zum Phänomen des Stotterns bei Asperger, wohl aber ein Hinweise auf Ursachen möglicher Störungen des Redeflusses. Attwood (2000) [1] schreibt: „Manche Erwachsene mit Asperger Syndrom neigen zum Stottern, wenn sie ängstlich sind. Hier ist das Problem genau genommen nicht eine Beeinträchtigung der sprachlichen Fähigkeiten, sondern besteht in der Wirkung einer Emotion auf die Sprechfähigkeit". Eine weitere Interpretation wäre, die Sprechunflüssigkeit als einen Ausdruck der abweichenden fronto-striatalen Verarbeitung zu sehen. Diese äußert sich darin, dass Patienten mit Asperger Syndrom bekanntermaßen Schwierigkeiten haben, repetitive Gedanken und Handlungen zu inhibieren. Somit könnten auch Wortwiederholungen durch die fehlerhaften Inhibitationsprozesse erklärt werden.


Literatur

1.
Attwood T (2000) Das Asperger Syndrom, Trias, Stuttgart
2.
Büttner C (1995) Autistische Sprachstörungen, Gabel, Köln
3.
Dilling H, Mombour W, Schmidt MH.(2000) Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD 10, Huber, Bern
4.
Mayes SD, Calhoun SL, Crites DL. (2001) Does DSM-IV Asperger's disorder exist? Journal of Abnormal Child Psychology Vol 29 (3):263-271
5.
McAlonan GM, Daly E, Kumari V, Critchley HD, van Amelsvoort T, Suckling J, Simmons A, Sigmundsson T, Greewood K, Russel,A, Schmitz N, Happe F, Howling P, Murphy DG (2002). Brain anatomy and sensorimotor gating in Asperger's syndrome. Brain 125 (7):1594-606
6.
Saß H, Wittchen HU, Zaudig M, Houben I (Hrsg.) (2003). Diagnostische Kriterien des diagnostischen und statistischen Manuals Psychischer Störungen DSM-IV-TR. Hogrefe, Göttingen