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20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Zusammenhang zwischen Verbverstehen und aktivem Wortschatz bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen

Vortrag

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  • corresponding author Petra Schulz - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin, DFG-Forschergruppe "Frühkindliche Sprachentwickung und Spezifische Sprachentwicklungsstörungen", Fabeckstr. 62, 14195 Berlin
  • author Christiane Kiese-Himmel - Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie der Georg-August-Universität Göttingen, Robert-Koch-Str. 40, D-37075 Goettingen, Tel. 0551/392811, Fax 0551/392812

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocV55

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Published: September 12, 2003

© 2003 Schulz et al.
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Zusammenfassung

SES-Kinder zeigen gravierende Defizite im Verbverstehen, die aus der fehlenden Nutzung des lexikalischen Erwerbsprinzips der Endzustandsorientierung resultieren [1]. Fragestellung: Besteht ein Zusammenhang zw. Defiziten im Verbverstehen und aktivem Wortschatzumfang? Stichprobe u. Methodik: 20 SES-Kinder zw. 3 u. 5 Jahren (MW: 56.5, SD 8.8 Mon.; Diagn. Abt. Phoniatrie/Pädaudiologie Göttingen). Der aktive Wortschatz wurde mit dem AWST [2] erhoben, das Verbverstehen mit einem Test von Schulz et al. [1], [3]. Für den AWST liegen als Maßzahl die Verbbenennungen (Max=17) sowie der Gesamtwortschatzumfang (T-Wert) vor. Für das Verbverstehen wurde die Zahl richtiger Antworten in den Bedingungen "Endzustand" (EZ) u. "Kein Endzustand" (kein EZ) berechnet. Kinder mit mindestens 75% richtigen Antworten in beiden Bedingungen gelten als "Kinder mit EZ-Orientierung". Ergebnisse: Der mittl. AWST-T-Wert beträgt 44, der mittl. Verb-Rohwert 9.2. 10 Kinder zeigen eine EZ-Orientierung. Kinder mit u. ohne EZ-Orientierung unterscheiden sich weder im aktiven Gesamtwortschatzumfang (F=.217, p=.65) noch im aktiven Verbwortschatz (F=.693, p =.416) signifikant voneinander. Fazit: Defizite im Verbverstehen als Folge mangelnder Endzustandorientierung spiegeln sich nicht zwangsläufig in der Größe des aktiven Lexikons wider; quantitative Verfahren zur Erfassung des aktiven Wortschatzes bei SES-Kindern sind durch qualitative Verfahren zum Wortverstehen zu ergänzen.


Text

Einleitung

Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) zeigen noch bis zum Alter von 7 Jahren gravierende Defizite im Verbverstehen, die aus der fehlenden Nutzung des Erwerbsprinzips der Endzustandsorientierung resultieren [1]. Diese Kinder repräsentieren Tätigkeiten mit einem definitiven Endzustand nicht als solche, sondern interpretieren resultative Verben wie z. B. aufmachen oder zumachen als prozessorientiert.

Untersuchungen darüber, ob und wie sich diese Probleme mit lexikalischen Erwerbsstrategien im Wortschatzumfang widerspiegeln, liegen jedoch nicht vor. Einerseits ist zu vermuten, dass beim Lexikonerwerb qualitative Aspekte wie die Nutzung von Erwerbsprinzipien nicht mit quantitativen Aspekten wie Wortschatzgröße korrespondieren, andererseits wird argumentiert, dass lexikalische Erwerbsstörungen sich in quantitativen Ergebnissen von Wortschatztests widerspiegeln sollten (vgl. [4]). In der vorliegenden Studie wurde daher der Zusammenhang zwischen Defiziten im Verbverstehen und dem produktiven Wortschatzumfang systematisch untersucht.

Stichprobe und Methodik

An der Untersuchung nahmen 20 sprachentwicklungsgestörte Kinder mit expressiver Symptomatik (primär in der Morpho-Syntax und Artikulation) im Alter zwischen 3 und 5 Jahren teil (15 Jungen, 5 Mädchen; mittleres Alter 56.6 Monate, SD 8.8 Monate; Min 38, Max 70). Sie waren alle in der Abteilung Phoniatrie/Pädaudiologie Göttingen phoniatrisch und logopädisch als ausschließlich sprachentwicklungsgestört diagnostiziert worden. 17 der 20 Kinder besuchten zum Untersuchungszeitpunkt einen Kindergarten.

Der produktive Wortschatz-Inhaltswörter wurde mit dem „Aktiven Wortschatztest für 3-6jährige Kinder" erhoben (AWST 3-6, [2]), einem Bildbenennungstest mit 82 Items (64 Nomen, 17 Verben, 1 Adjektiv), der ca. 20 Minuten in der Durchführung beansprucht. Die Summe der von einem Kind richtig benannten Bilder wird in eine alters- und geschlechtsspezifische Norm (T-Wert) transformiert (Mittelwert 50, SD 10).

Das Verbverstehen wurde gem. des experimentellen Untersuchungssettings von Schulz et al. [1], [3] untersucht, was ebenfalls etwa 20 Minuten dauert. Einem Kind werden 8 Bildfolgen mit verschiedenen Handlungen gezeigt, in denen in der Hälfte der Fälle ein Endzustand eintritt und in der anderen Hälfte der Fälle kein Endzustand erreicht wird. Bspw. wird der Deckel eines Behälters manipuliert, aber nicht geöffnet; das Kind muss dann mittels einer Ja/Nein-Frage entscheiden, ob ein genanntes Verb (z. B. aufmachen) zur Handlung passt oder nicht. 4 weitere Bildfolgen dienen als Kontrollitems und enthalten keinen Endzustandskontrast. Vor der Durchführung des Verbtests wird das Verstehen von Ja/Nein-Fragen in einem Vortest anhand 4 einfacher Items überprüft.

Für das Verbverstehen wurde die Anzahl zielsprachlicher Antworten in den beiden Bedingungen „Endzustand" und „kein Endzustand" berechnet. Kinder mit mindestens 75 % korrekten Antworten in beiden Bedingungen wurden als Kinder mit Endzustandsorientierung klassifiziert. Für den AWST 3-6 wurden der T-Wert als allgemeines Maß des Wortschatzumfangs ermittelt und der Rohwert für die zu benennenden Tätigkeiten (Max=17) bestimmt. Diese Variablen wurden auch für definierte Untergruppen berechnet, indem die Stichprobe nach ihrer Gesamtleistung im AWST wie folgt klassifiziert wurde: Kinder mit kleinem Wortschatz (T-Wert <40), Kinder mit durchschnittlichem Wortschatz (T-Wert zwischen 40 und 60), Kinder mit großem Wortschatz (T-Wert >60).

Ergebnisse

Im Vortest zur Überprüfung des Verstehens von Ja/Nein-Fragen liegt die Anzahl korrekter Antworten bei 97.5 %. Die Kontrollitems im Test wurden ebenfalls überwiegend zielsprachlich beantwortet (90 % korrekte Antworten). Die mittlere Anzahl korrekter Antworten im Verbverstehen liegt in der Bedingung „Kein Endzustand" nur knapp über dem Zufallsniveau (62.5 % korrekt), während die Anzahl korrekter Antworten in der Bedingung „Endzustand" 95 % beträgt. Eine Endzustandsorientierung weisen insgesamt lediglich 10 der 20 Kinder auf (50 %).

Der mittlere AWST T-Wert insgesamt beträgt 44.0 (SD 13.2, Min 23, Max 65), was einen durchschnittlichen produktiven Wortschatzumfang im unteren Normbereich belegt, der mittlere Verb-Rohwert 9.2 (Min 0, Max 15). Der mittlere AWST T-Wert der „Kinder mit Endzustandsorientierung" beläuft sich auf 45.4 (SD 12.8), der mittlere AWST T-Wert der „Kinder ohne Endzustandsorientierung" beträgt 42.6 (SD 14.1). Eine Varianzanalyse mit Endzustandsorientierung als unabhängige Variable zeigt jedoch, dass sich Kinder mit und ohne Endzustandsorientierung in ihrem produktiven Gesamtwortschatzumfang nicht statistisch signifikant voneinander unterscheiden (F=.217, p=.65). Ebenso ist der produktive Verbwortschatz von Kindern mit und ohne Endzustandsorientierung nicht signifikant verschieden (F = .693, p = .416). Der mittlere Verb-Rohwert beträgt für die „Gruppe mit Endzustandsorientierung" 10.0/17, für die „Gruppe ohne Endzustandsorientierung" 8.4/17.

Ein Vergleich der Kinder nach ihrer Gesamtleistung im AWST 3-6 bestätigt die weitgehende Unabhängigkeit von Leistungen im Verbverstehen resp. im AWST. Von den 7 Kindern mit einem kleinen Wortschatz weisen 3 (42.9 %) eine Endzustandsorientierung auf. Von den 11 Kindern mit einem durchschnittlichen Wortschatz zeigen 5 (45.5 %) eine Endzustandsorientierung, und von den 2 Kindern mit einem großen Wortschatz weisen beide (100 %) eine Endzustandsorientierung auf.

Diskussion

In der frühen Kindersprache überwiegt die Wortart der Nomen. Mit dem allmählich zunehmenden Erwerb anderer Wörter nimmt der Anteil dieser Wortklasse am Gesamtwortschatz ab. Verben sind unter der Perspektive der Syntax von zentraler Bedeutung, da erst sie die Satzbildung ermöglichen. Um Verben zu lernen, muss ein Kind in der Lage sein, Handlungen zu erkennen und diese einem Verb zuzuordnen.

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie im Verbverstehen bestätigen unsere früheren Studien, die zeigten, dass Kinder mit SES gravierende Defizite in der zielsprachlichen Repräsentation von Verben besitzen, die noch bis zum Alter von 7 Jahren andauern können [5].

Defizite im Verbverstehen als Folge mangelnder Endzustandsorientierung spiegeln sich in der Gruppenbetrachtung, aber nicht unbedingt in der Größe des produktiven Wortschatzes, wider. Während die Kinder mit überdurchschnittlichem Wortschatz ausnahmslos in der Lage sind, den Endzustand als Bestandteil der Bedeutung resultativer Verben zu identifizieren, ist das Verbverstehen von Kindern mit durchschnittlichem Wortschatz uneinheitlich. 54.5 % dieser Kinder haben trotz gravierender Defizite im Verbverstehen einen Wortschatzumfang im Normbereich.

Dass die gefundenen Störungen im Erwerb resultativer Verben nur teilweise mit den Ergebnissen des Wortschatztests übereinstimmen, deutet darauf hin, dass die Korrespondenz zwischen qualitativen und quantitativen Aspekten des Lexikonerwerbs nicht grundsätzlich so eng ist wie bspw. von Rothweiler [4] angenommen. Die zielsprachliche Repräsentation von Verben ist ein unabhängiger Aspekt des Lexikonerwerbs, der sich nicht notwendigerweise aus der Wortschatzgröße ableiten lässt.

Weiterhin ist davon auszugehen, dass der im AWST überprüfte produktive Wortschatz nicht mit der rezeptiven Wortschatzgröße der Kinder identisch ist. Entwicklungspsychologisch ist von einer Asymmetrie in der Entwicklung von Sprachrezeption und Sprachproduktion dergestalt auszugehen, dass die rezeptive Entwicklung der expressiven vorangeht und der rezeptive Wortschatz stets größer ist als der produktive. Ein eingeschränkter produktiver Wortschatzumfang sagt insofern nichts über den Umfang und die Qualität des rezeptiven Wortschatzes aus.

Nicht zuletzt können die Ergebnisse auch in der hier gewählten Methode zur produktiven Wortschatzmessung begründet sein. In Bildbenennungstests liegt wegen der eingeschränkten bildnerischen Darstellbarkeit von Tätigkeiten der Schwerpunkt auf Objektwörtern (Substantive), sodass der expressive Verbwortschatz am Gesamtwortschatz nicht mit einer genügend großen Testwortzahl überprüft wird. Überdies sind die 17 Verb-Items im AWST 3-6 spezifische Verben wie Bewegungs- oder Handlungsverben, die mehrheitlich Prozesscharakter haben (z. B. malen).

Fazit: Quantitative Verfahren zur Beurteilung des produktiven Wortschatzes bei Kindern mit SES sollten durch quantitative und qualitative Verfahren zum Wortverstehen ergänzt werden.


Literatur

1.
Schulz, P., Wymann, K. & Penner, Z. (2001). The Early Acquisition of Verb Meaning in German by Normally Developing and Language Impaired Children". Brain and Language, 77, 407-418.
2.
Kiese, C. & Kozielski, P.-M. (1996). AWST 3-6. Aktiver Wortschatztest für 3-6jährige Kinder. Göttingen: Beltz Test GmbH.
3.
Schulz, P., Penner, Z. & Wymann, K. (2002). Comprehension of Resultative Verbs in Normally Developing and Language Impaired Children. In F. Windsor, M. L. Kelly & N. Hewlett (Hrsg.), Investigations in Clinical Phonetics and Linguistics, 115-129. Mahwah, New Jersey: Erlbaum.
4.
Rothweiler, M. (2001). Wortschatz und Störungen des lexikalischen Erwerbs bei spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kindern. Heidelberg: Winter (Edition S).
5.
Penner, Z., Schulz, P. & Wymann, K. (2003). Learning the Meaning of Verbs: What Distinguishes Language Impaired from Normally Developing Children? Special issue of Linguistics, 41:2, 289-319.