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20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Medikamentöse Speichelreduktion bei Neurogener Dysphagie (ND)

Vortrag

  • corresponding author Leonhard Fischbacher - Abteilung Physikalische Medizin und Medizinische Rehabilitation, Städtisches Krankenhaus München-Bogenhausen. Englschalkinger Str. 77, D-81925 München, Tel. +49 89 9270 2401, FAX +49 89 9270 2115
  • author Heidrun Schröter-Morasch - Abteilung Neuropsychologie, Abteilung Physikalische Medizin und Medizinische Rehabilitation, Städtisches Krankenhaus München-Bogenhausen. Englschalkinger Str. 77, D-81925 München, Tel. +49 89 9270 2437, FAX +49 89 9270 2089

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocHT05

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Published: September 12, 2003

© 2003 Fischbacher et al.
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Zusammenfassung

Das Unvermögen des Abschluckens von Speichel und nasopharyngealem Sekret stellt die schwerste Form einer Schluckstörung dar. Trotz Vermeidung oraler Nahungs- und Flüssigkeitsaufnahme sind diese Patienten durch akute und chronische Aspiration lebensbedrohlich gefährdet, zumal bei neurologischen Erkrankungen, insbesondere nach Schlaganfall, häufig die Speichelproduktion erhöht ist. Der Aufstau und das Herauslaufen und/oder das notwendige Hochhusten und Ausspucken von Speichel bedeuten jedoch auch ein großes soziales Problem für die Patienten und ihr gesamtes Umfeld. Vielfach sind Tracheotomie und der Einsatz einer blockbaren Trachealkanüle unumgänglich, aufgrund der massiven Speichelansammlung ein frühzeitiger Beginn der Funktionellen Therapie erschwert. Wir entwickelten daher ein Behandlungsschema mit Scopolamin, welches eine individuelle Anpassung erlaubt und die Gefahr von Nebenwirkungen minimiert. Indikationen, Anwendungsformen und klinische Ergebnisse werden bei einer Gruppe von 16 Patienten aufgezeigt und im Vergleich mit alternativen Behandlungsmöglichkeiten diskutiert.


Text

Einleitung

Das Unvermögen des Abschluckens von Speichel und nasopharyngealem Sekret stellt die schwerste Form einer Schluckstörung dar [1], [2]. Die Patienten sind trotz Vermeidung oraler Nahungs- und Flüssigkeitsaufnahme durch akute und chronische Aspiration lebensbedrohlich gefährdet, zumal bei neurologischen Erkrankungen, insbesondere nach Schlaganfall die Speichelproduktion erhöht ist. Vielfach sind Tracheotomie und der Einsatz einer blockbaren Trachealkanüle unumgänglich und haben schwerwiegende Einschränkungen der sprechsprachlichen Kommunikationsfähigkeit zur Folge. Aber selbst bei geblockter Kanüle kann bei ausgeprägtem Speichelaufstau oberhalb der Kanülenmanschette zwischen Trachea und Manschette Speichel in die Trachea gelangen, v.a. bei intrathorakaler Druckerhöhung während des Hustens, Pressens oder Erbrechens. Häufig lässt sich auch eine anhaltende Aspiration von Speichel beobachten, obwohl für Nahrung und Flüssigkeit keine oder nur noch eine geringe Aspirationsneigung besteht [3]. Dies lässt sich durch den „geringen sensorischen Input" erklären, den der geschmacksneutrale körperwarme Speichel offenbar ausübt und damit durch ihn keine ausreichende Triggerung eines effektiven Schluckablaufes erfolgt [4]. Der Aufstau, das Herauslaufen und/oder notwendiges Ausspucken von Speichel erschweren jedoch auch einen frühzeitigen Beginn der funktionellen Therapie und stellen durch die ästhetische Beeinträchtigung ein großes soziales Problem für die Patienten und ihr gesamtes Umfeld dar. Die bisher bereits bestehende Behandlungsmöglichkeit mit einem Scopolaminpflaster [5] oder Spray [6] wird eingeschränkt durch die ungenügende Dosierbarkeit sowie Unverträglichkeitsreaktionen auf das Pflaster. Wir entwickelten daher ein Behandlungsschema mit Scopolamintropfen, welches eine individuelle Anpassung erlaubt und die Gefahr von Nebenwirkungen minimiert.

Anatomische und physiologische Grundlagen, Pharmakologie

Die drei großen Speicheldrüsen Glandula parotis, submandibularis und sublingualis sowie zahlreiche kleine Speicheldrüsen in Mundschleimhaut und Zungengrund produzieren täglich 500-1500 ml Speichel. Er setzt sich aus unterschiedlichen Anteilen und Konsistenzen zusammen:1/4 dünnflüssiger eiweißarmer »Parotisspeichel« (»Verdünnungs-Speichel«), 2/3 klarer, eiweißhaltiger, schwach fadenziehender Submandibularis-Speichel und 1/20 eiweißreicher fadenziehender Sublingualis-Speichel (»Gleit-Speichel«). Speichel enthält pro Liter ca. 1,4-1,6 g Eiweiß als Schleim (Mucoproteine und Mucopolysaccharide). Der Eiweißgehalt nimmt bei Reizung des Parasympathikus ab und bei Reizung des Sympathikus zu. Der Wassergehalt kann bis zu 99% betragen. Die Speichelsekretion kann durch verschiedene Stimuli ausgelöst werden: zum Einen wird schon durch Vorstellung von Speisen sowie visuelle und olfaktorische Wahrnehmungen eine merkliche Speichelvermehrung ausgelöst. Andererseits wird durch in den Mund eingebrachte Nahrung über kinästhetische, olfaktorische und gustatorische Reize die Speichelproduktion stimuliert und der Art der Nahrung angepasst, in Abhängigkeit von Volumen, Konsistenz und Beschaffenheit (z.B. werden bei vegetarischer Nahrung mehr die serösen Drüsen zur Produktion von dünnflüssigem Speichel, bei Fleisch mehr die mukösen Drüsen für dickflüssigen Speichel angeregt). Dies erfolgt über entsprechende sensible und sensorische Hirnnervenbahnen nach Umschaltung über die Formatio reticularis zu den parasympathischen Kernen Nc. salivatorius superior et inferior und Nc. dorsalis n. vagi. Von diesen aus erfolgt die Erregung durch Fasern des N. facialis und N. glossopharyngeus über das Ganglion oticum und das Ganglion submandibulare. Die sympathische Versorgung erfolgt über das Geflecht der A. carotis und der A. meningea media. Die Aktivierung der Drüsenzellen erfolgt durch Freisetzung von Acetylcholin aus den postganglionären Fasern und dessen Bindung an die Acetylcholinrezeptoren. Diese sind in den postganglionären Synapsen Muskarinrezeptoren (im Gegensatz zu den Nikotinrezeptoren in der quergestreiften Muskulatur) und lassen sich in drei Untergruppen mit unterschiedlicher Hemmbarkeit durch verschiedene Muskarinrezeptorantagonisten differenzieren. Die überwiegenden Acetylcholinrezeptoren der glatten Muskulatur und der sekretorischen Drüsen sind M3 Rezeptoren. Atropin und Scopolamin hemmen dosisabhängig reversibel durch Konkurrenz mit Acetylcholin um die Bindungsstelle am M3 Rezeptor die parasympathische Aktivierung der Speicheldrüsen und damit die Bildung von dünnflüssigem eiweißarmen Speichel sowie die Schweißsekretion und die glatte Muskulatur. Scopolamin wirkt stärker hemmend auf die Speichelproduktion als Atropin, wodurch die Indikation zur Wahl dieser Substanz gegeben ist.

Material und Methode

Die von uns entwickelte Scopolaminlösung muss in einer Apotheke nach ärztlicher Verordnung hergestellt werden:

Scopolaminlösung: 7,5 mg Scopolaminbromid auf 250 ml Aqua conservans (p-Hydroxybenzoesäurepropylester 0,0625g und p-Hydroxybenzoe-säuremethylester 0,1875 g und gereinigtes Wasser ad 250,0g). 1 ml dieser Lösung enthält 30 µg Scopolamin. Lichtgeschütz ist diese Lösung mehrere Monate haltbar. Sie wird nach oraler Gabe schnell und vollständig resorbiert.

Zur Behandlung mit Scopolamin wurden 15 stationäre Patienten mit einer Indikation zur Speichelreduktion aufgrund einer Dysphagie ausgewählt. Erfasst wurden Alter, Geschlecht, Ätiologie der Schluckstörung, Tracheostoma, Art der Ernährung, Hauptsymptomatik der Schluckstörung, Indikation zur Speichelreduktion, Behandlungsdauer, Nebenwirkungen, Behandlungsergebnis. Basisuntersuchungen waren: 1) Klinische Untersuchung 2) Video-Pharyngolaryngoskopie zur Überprüfung der Effektivität der Medikation und der Abnahme des Speichelaufstaus bzw. des Speichelflusses 3) Videofluoroskopie zur Erfassung der Ursachen der gestörten Schluckfunktion, 4) ggf. Bronchoskopie zur Erfassung von Aspirationssymptomen und -folgen . Alle Patienten erhielten während der medikamentösen Behandlung gleichzeitig eine intensive Behandlung nach den Prinzipien der Funktionellen Dysphagietherapie.

Ergebnisse

Die empirisch nach klinischer Wirkung gefundenen Tagesdosen lagen bisher zwischen 4 x 3 ml = 0,36 mg/Tag und 4 x 8 ml = 0,96 mg/Tag

Bei mehrmonatiger Behandlungszeit zeigte sich eine Abschwächung der Wirkung, die durch eine Höherdosierung ausgeglichen wurde. Eine verminderte Wirkung aufgrund zu langer Dosisintervalle bei Bolusgabe konnte durch eine Verkürzung dieser Intervalle bei gleichzeitiger Verminderung der Dosis ausgeglichen werden. Im Einzelfall wurde auch die Scopolamindosis der Sondennahrung beigemischt und mit einer Ernährungspumpe jeweils über mehrere Stunden appliziert, um einen gleichmäßigen Wirkspiegel zu erreichen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen erzielten wir dosisabhängig eine Reduktion des Speichelvolumens und eine Erhöhung der Konsistenz des Speichels mit einer daraus resultierenden Verbesserung der Reflexauslösung. Nachweisbar dafür waren:

·Verminderung der notwendigen Absaugfrequenz durch die Trachealkanüle

·Verminderung des abgesaugten Speichelvolumens oberhalb der Kanülenmanschette bei geblockter Kanüle (nur möglich bei Mallinckrodt Evac Kanülen)

·Reduktion des Speichelaufstaus im Oropharynx

·Reduktion der Speichelretention in Valleculae und Sinus piriformes

·Reduktion der Frequenz des Speichelausspuckens (mit Abnahme des Taschentuchverbrauches)

Bei 4 Patienten konnte unmittelbar nach Behandlungsbeginn die Dekanülierung erfolgen, 2 Patienten davon waren bereits seit über 1 ½ Jahren Kanülenträger (mit geblockter Kanüle!). Bei 4 Patienten ließ sich eine Tracheotomie vermeiden, bei 5 Patienten war eine Dekanülierung nach mehrwöchiger intensiver Funktioneller Therapie möglich, 2 Patienten blieben Kanülenträger. In allen Fällen empfanden die Patienten die Abnahme der Speichelmenge, die ausgespuckt werden musste, als Erleichterung.

An Nebenwirkungen traten auf: zu starke Mundtrockenheit, zu große Zunahme der Zähigkeit des Speichels bzw. des Bronchialsekretes mit erschwerten Abschlucken bzw. Absaugen, einmal eine Akkomodationsstörung, sowie ein Harnverhalt. In einem Falle bestand der V.a. eine Verstärkung einer vorbestehenden Bradykardie. Tachykarde Rhythmusstörungen, kognitive Störungen, Störungen der Magen-Darm-Passage wurden bisher nicht beobachtet. Wiederholt trat eine Besserung von bewegungsabhängigem Erbrechen bei Hirnstamm/Kleinhirnläsionen unter Scopolamintherapie ein.

Diskussion

Die individuelle Dosierbarkeit, die günstige therapeutische Breite, die gute Kalkulierbarkeit der Nebenwirkungen machen Scopolaminlösung zu einem geeigneten Medikament zur Speichelreduktion bei Dysphagiepatienten. Alternative Anticholinergika (Glycopyrrolat, Atropin) müssen injiziert werden oder haben ein ungünstigeres Wirkungsspektrum. Die Injektion von Botulinumtoxin [7] in die Speicheldrüsen ist invasiv, weniger gut dosierbar und hemmt irreversibel die Acetylcholinfreisetzung für ca. 2-3 Monate. Eine Radiotherapie (400-1000 rad zur Reduktion des Speichelflusses, 4000 rad zur Atrophie) sowie Denervierungen oder Excisionen der Drüsen sind risikoreich und irreversibel.


Literatur

1.
Miller FR, Eliachar I (1994) Managing the Aspirating Patient. Am J of Otolaryngol; 15: 1-17
2.
Murray J, SE Langmore, S Ginsberg, A Dostie (1996) The Significance of Accumulated Oropharyngeal Secretions and Swallowing Frequency in Predicting Aspiration. Dysphagia, 11:99-103
3.
Schröter-Morasch H, Bartolome G, Troppmann N, Ziegler W (1999) Folia Phoniatr Logopäd;51:172-182
4.
Kaatzke-McDonald MN, Post E, Davis PJ (1996) The effects of cold, touch, and chemical stimulation of the anterior faucial pillar on human swallowing. Dysphagia 11:198-206
5.
Talmi YP, Finkelstein Y, Zohar Y (1990) Reduction of salivary flow with transdermal scopolamin: a four-year experience. Otolaryngology-Head and Neck Surgery;103:615-618
6.
Klocker N, Hanschke W, Toussaint S, Verse T (2001) Scopolamine nasal spray in motion sickness: a randomised, controlled, and crossover study for the comparison of two scopolamine nasal sprays. Eur J Pharm Sci.;13 (2):227 -32
7.
Reichel G (1999) Botulinum-Toxin-A Therapie bei Sialorrhö. Aktuelle Neurologie 26:325-26