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60. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Handchirurgie

Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie

08. bis 10. Oktober 2020, Münster

Widersprechen sich avancierte Handchirurgie und therapierefraktäre Autoaggression? Eine Fallbeschreibung

Meeting Abstract

  • corresponding author presenting/speaker Moritz Scholtes - Kantonsspital Münsterlingen, Abteilung für Hand- und Plastische Chirurgie, Münsterlingen, Switzerland
  • Janine Keller - Kantonsspital Münsterlingen, Abteilung für Physio- und Ergotherapie, Münsterlingen, Switzerland
  • Joachim Ganser - Kantonsspital Münsterlingen, Abteilung für Hand- und Plastische Chirurgie, Münsterlingen, Switzerland
  • Thomas Holzbach - Kantonsspital Münsterlingen, Abteilung für Hand- und Plastische Chirurgie, Münsterlingen, Switzerland

Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie. 60. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Handchirurgie. Münster, 08.-10.10.2020. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2020. Doc20dgh39

doi: 10.3205/20dgh39, urn:nbn:de:0183-20dgh393

Published: October 9, 2020

© 2020 Scholtes et al.
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Text

Fragestellung: Höhergradige autoaggressive Psychosen können die Erfolge avancierter Handchirurgie sofort zunichte machen. Wenn jedoch kein anderer Ausweg aus dem Dilemma des zu erwartenden Nutzens und der Ungewissheit des Ausgangs gefunden wird: darf man oder muss man dann sogar einen solch komplexeren Eingriff, in unserem Fall einen Strecksehnenersatz mit Flexor-carpi-radialis (FCR)-Sehnentransfer, dennoch anbieten?

Methodik: Wir präsentieren den Fall einer 27-jährigen Patientin mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ. Diese Patientin unternahm mit 22 Jahren ihren ersten Suizidversuch. Mit 24 Jahren begann sie, sich in monatlichen Abständen zumeist streckseitige Schnittwunden an den Extremitäten zuzufügen. An beiden Unterarmen führte das zu mehrfachen kompletten Durchtrennungen der Handgelenks- und Langfingerstrecksehnen. Die operative Versorgung, später unter Zwischenschaltung von Palmaris-longus Transplantaten, gestaltete sich zunehmend schwieriger. Sequentiell, zuerst rechts und 8 Monate später links, wurde zur Behebung des kompletten Streckausfalls von Mittel-, Ring- und Kleinfinger die jeweilige FCR-Sehne proximal des Handgelenks auf die entsprechenden Langfingerstrecksehnen transferiert. Die ergotherapeutische Nachbehandlung der rechten Hand begann planmässig nach 6-wöchiger Schienenruhigstellung. Die Nachbehandlung der linken Hand wegen der Corona-Krise verzögert und selbständig.

Ergebnisse: Die Resultate waren nahezu seitengleich. An der rechten, zuerst operierten Hand wurden sie 10 Wochen nach Operation und ergotherapeutischer Beübung erzielt, an der linken Hand unmittelbar nach Gipsabnahme. In Neutralstellung des Handgelenks wiesen die Langfingergrundgelenke aktiv ein Streckdefizit von bis zu 10 Grad auf. Der Faustschluss war komplett. Bei neuen Schnittverletzungen hat die Patientin bislang die Sehnentransfers respektiert und deren Funktion nicht beeinträchtigt.

Schlussfolgerung: Die obligate Abwägung der Nutzen-Risiko-Relation hält uns Handchirurgen gerade beim autoaggressiven Patienten vor avancierten operativen Eingriffen zurück. Ein gescheiterter FCR-Strecksehnentransfer verletzt andererseits nicht fundamental das Nihil-nocere-Prinzip. Ethisch ist es zudem nicht vertretbar, psychisch kranken Patienten ihre fehlende Mitarbeit vorzuwerfen. Wir plädieren deshalb dafür, die psychische Erkrankung im Behandlungsplan zu berücksichtigen, sie aber nicht als Ausschlusskriterium zu verwenden.