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GMS Zeitschrift für Audiologie — Audiological Acoustics

Deutsche Gesellschaft für Audiologie (DGA)

ISSN 2628-9083

Wenn die Hörgeräte laufen lernen …

Editorial

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  • corresponding author Inga Holube - Institut für Hörtechnik und Audiologie, Jade Hochschule, Oldenburg, Deutschland

GMS Z Audiol (Audiol Acoust) 2023;5:Doc09

doi: 10.3205/zaud000035, urn:nbn:de:0183-zaud0000350

Published: September 20, 2023

© 2023 Holube.
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Editorial

Vor ein paar Wochen durfte ich bei einer Livesendung des WDR5 Hörerfragen beantworten. Vorab bekam ich von einem Redakteur eine Reihe von Fragen zugeschickt, auf die die Moderatorin bei ausbleibenden Höreranrufen zurückgreifen würde. Einige Fragen drehten sich um das Stigma von Hörgeräten, z.B.: „Man hört, dass manche Menschen Hörgeräte nicht gerne tragen. Woran liegt das?“ „Was müsste sich ändern, damit Hörgeräte ihr schlechtes Image loswerden?“ Die Radiosendung nahm dann jedoch eine ganz andere Richtung. Die ersten beiden Anruferinnen berichteten, dass sie subjektiv hörbeeinträchtigt wären und gerne Hörgeräte tragen würden. Sie bekamen jedoch keine Verordnung von ihren HNO-Ärzten. Das Argument der Ärzte: Mit einem Rollator würde man auch nicht trainieren, bevor man ihn benötigt.

Wir kennen alle die Indikationskriterien der Hilfsmittelrichtlinie [1]. Neben dem Hörverlust von mindestens 30 dB bei einer der Prüffrequenzen zwischen 500 Hz und 4 kHz darf das Einsilberverstehen in Ruhe nicht über 80% liegen. Dieses Kriterium ist maßgeblich für die Kostenerstattung durch die Krankenkassen. Aber ist es dazu geeignet, in normal- und schwerhörig zu differenzieren? In Deutschland werden bei der Begutachtung einer Hörstörung die Tabellen nach Röser [2] verwendet, die neben der Tonaudiometrie auch das Einsilberverstehen in Ruhe heranziehen. In anderem Kontext kommen aber durchaus auch andere Kriterien zum Einsatz. Bei Forschungsprojekten in der Psychoakustik wird z.B. häufig für die Kategorisierung „normalhörend“ allein ein Tonhörverlust von maximal 20 dB bei allen audiometrischen Messfrequenzen verlangt, während bei der Ermittlung von Bezugskurven nach DIN EN ISO 8253-3 [3] nur bei maximal zwei Frequenzen ein Tonhörverlust von 15 dB erlaubt ist. Bei den anderen Frequenzen darf 10 dB nicht überschritten werden. Die WHO nutzt für epidemiologische Zwecke eine Klassifikation von Hörverlusten, die auf dem Mittelwert der tonaudiometrischen Hörschwellen bei den Frequenzen 0,5, 1, 2 und 4 kHz (PTA-4) des besseren Ohrs beruht. Im World Report on Hearing von 2021 [4] wurde die Grenze für Normalhörigkeit auf 20 dB HL reduziert. Sowohl die modifizierte Grenze der WHO als auch die Begutachtung nach Röser bei Beschränkung auf die Tonaudiometrie führte in [5] zu einer Prävalenz von Schwerhörigkeit von ca. 40% in einer Studiengruppe, in der höhere Altersgruppen im Vergleich zur Allgemeinpopulation überrepräsentiert waren. Die Klassifizierung der WHO ist für epidemiologische Studien sehr hilfreich, aber wird ein tonaudiometrisches Kriterium selbst bei Ergänzung mit dem Kriterium „Sprachverstehen in Ruhe“ der Indikationsstellung für eine Hörgeräteversorgung allen Patienten gerecht? Vermutlich kennen Sie auch Fälle mit „normalem“ Tonaudiogramm und extrem schlechtem Sprachverstehen im Störgeräusch z.B. aufgrund auditorischer Synaptopathie bzw. Neuropathie.

Der Hörverlustbereich zwischen 20 und 35 dB HL im PTA-4 wird im World Report on Hearing als der Bereich beschrieben, bei dem Sprachkommunikation in Ruhe problemlos möglich ist, jedoch Schwierigkeiten im Störgeräusch auftreten können. Die Hilfsmittelrichtlinie von 2021 [1] beschreibt in §19(1) als Ziel einer Hörgeräteversorgung, „unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts, ein Funktionsdefizit des Hörvermögens möglichst weitgehend auszugleichen und dabei – soweit möglich – ein Sprachverstehen bei Umgebungsgeräuschen und in größeren Personengruppen zu erreichen“. Konsequenterweise wurden zur Überprüfung einer Hörgeräteversorgung Sprachtests im Störgeräusch eingeführt – jedoch nicht für die Indikationsstellung. Es ist wohl endlich an der Zeit, dem Fortschritt in der Hörgerätetechnik Folge zu leisten und das Sprachverstehen bei Umgebungsgeräuschen zu berücksichtigen.

Müssten die Krankenkassen bei Änderung der Indikationsstellung einen Run auf Hörgeräte und damit übermäßige Ausgabensteigerungen befürchten? Ich glaube nicht. Die Hilfsmittelrichtlinie setzt in §27 als weiteres Kriterium „den Entschluss der Versicherten, das Hörgerät, bzw. die Hörgeräte zu tragen“ voraus. Wäre es nicht an der Zeit, Personen mit Hörbeeinträchtigung im Sinne der Personenzentrierung im Rahmen des Patienten-Empowerments [6] als Menschen mit individuellen Bedarfen und Fähigkeiten in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen und die Indikationsentscheidung nicht nur auf die Tonaudiometrie und das Sprachverstehen ohne Störschall zu beschränken? Für die Krankenkassen wäre dies vermutlich eine gute Investition – auch vor dem Hintergrund des Zusammenhangs mit Demenzerkrankungen [7]. Den beiden Anruferinnen in der Radiosendung wäre jedenfalls vermutlich geholfen.


Literatur

1.
G-BA. Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung; 2021.
2.
Feldmann H, Brusis T. Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. 7. Auflage. Stuttgart, New York: Thieme; 2012. DOI: 10.1055/b-002-35705 External link
3.
DIN EN ISO 8253-3:2022-11: Akustik – Audiometrische Prüfverfahren – Teil 3: Sprachaudiometrie (ISO 8253-3:2022). Berlin: Beuth Verlag; 2022. DOI: 10.31030/3296501 External link
4.
WHO. World Report on Hearing. Geneva: WHO; 2021 [Zugriff am: 2023 Aug 21]. Verfügbar unter: https://www.who.int/publications/i/item/9789240020481 External link
5.
Döge J, Hackenberg B, O Brien K, Bohnert A, Rader T, Beutel ME, Münzel T, Pfeiffer N, Nagler M, Schmidtmann I, Wild PS, Matthias C, Bahr K. Hörgeräteversorgung in der Gutenberg-Gesundheitsstudie [The Prevalence of Hearing Loss and Provision With Hearing Aids in the Gutenberg Health Study]. Dtsch Arztebl Int. 2023 Feb 17;120:99-106. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0385 External link
6.
Cramer K, Frenzel C, Härter M, Hildebrandt H, Hostenkamp G, Kittlick C, Leppin G, Lipinski J, Sinha M, Stahl K, Stutenbecker V, Ulbrich J, Weber W. Positionspapier der Arbeitsgruppe „Patienten-Empowerment“. Berlin: Bundesverband Managed Care; 2019 [Zugriff am: 2023 Aug 19]. Verfügber unter https://www.bmcev.de/wp-content/uploads/Positionspapier-AG-Patienten-Empowerment-4.pdf External link
7.
Lin FR, Pike JR, Albert MS, Arnold M, Burgard S, Chisolm T, Couper D, Deal JA, Goman AM, Glynn NW, Gmelin T, Gravens-Mueller L, Hayden KM, Huang AR, Knopman D, Mitchell CM, Mosley T, Pankow JS, Reed NS, Sanchez V, Schrack JA, Windham BG, Coresh J; ACHIEVE Collaborative Research Group. Hearing intervention versus health education control to reduce cognitive decline in older adults with hearing loss in the USA (ACHIEVE): a multicentre, randomised controlled trial. Lancet. 2023 Jul 17:S0140-6736(23)01406-X. DOI: 10.1016/S0140-6736(23)01406-X External link