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GMS Zeitschrift für Audiologie — Audiological Acoustics

Deutsche Gesellschaft für Audiologie (DGA)

ISSN 2628-9083

Irgendwas mit Sprache

Editoral

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  • corresponding author Sebastian Hoth - GMS Zeitschrift für Audiologie — Audiological Acoustics, Schriftleitung, Heidelberg, Deutschland

GMS Z Audiol (Audiol Acoust) 2023;5:Doc07

doi: 10.3205/zaud000033, urn:nbn:de:0183-zaud0000339

Published: June 26, 2023

© 2023 Hoth.
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Editorial

Die Nutzung der Lautsprache erfolgt bekanntlich auf vielen Ebenen. Am unteren Ende der Skala gelingt es dem Hörer zu erkennen, dass es sich bei dem akustischen Ereignis um Lautsprache handelt; Identifizierung und Differenzierung von Sprachlauten erfordern schon ein etwas höheres Niveau und wiederum anspruchsvoller ist die Entschlüsselung der Bedeutung (Semantik). Die Beherrschung von Deklination und syntaktischen Regeln ist kaum – aber nicht etwa gar nicht – Gegenstand der praktischen Sprachaudiometrie (z.B. „Den treuen Hund tadelt die nasse Ente“ in den Oldenburg linguistically and audiologically controlled sentences [OLACS]).

Als Folge dieser Vielschichtigkeit ist es gar nicht einfach und wahrscheinlich auch nicht möglich, für die in den verschiedenen sprachaudiometrischen Tests interessierenden Zielgrößen eine einheitliche und exakt passende Bezeichnung zu finden. Seit der Einführung des „Freiburger Sprachverständlichkeitstests“ durch Karl-Heinz Hahlbrock im Jahr 1953 ist die relative Anzahl der vom Probanden korrekt nachgesprochenen Testwörter die wichtigste das Ergebnis des Tests beschreibende Messgröße [1]. Nun haben liebe Kinder bekanntlich viele Namen, unter denen „Sprachverständlichkeit“ der bis heute gebräuchlichste ist. Die am häufigsten anzutreffenden Mitbewerber sind Sprachverständnis, Sprachverstehen, Verstehensquote, Perzeption, Diskrimination und Unterscheidung.

Die Vielzahl der in Gebrauch befindlichen Bezeichnungen spiegelt die der Messgröße „Sprachverständlichkeit“ innewohnende Problematik wider. Keiner der aufgezählten Begriffe trifft exakt das, was in einem audiometrischen Sprachtest erfasst wird, und für praktisch jede mit diesen Begriffen verknüpfte kognitive Leistung existieren spezielle eigene Ansätze (z.B. die Auswertung von Phonemverwechslungen für die Prüfung der Fähigkeit zur Unterscheidung von Sprachlauten). Der Begriff der Verständlichkeit charakterisiert in der Umgangssprache eher die Güte etwa einer Lautsprecherdurchsage als ihre Perzeption; „Verständnis“ ist gefordert für Zugverspätungen oder jugendlichen Übermut, und „Verstehen“ bedeutet für gewöhnlich, dass an heißes mit Rum angereichertes Wasser denkt, wer dem Prüfreiz „Grog“ ausgesetzt ist – was aber für das korrekte Nachsprechen des Testwortes keineswegs erforderlich ist.

In den Sprachwissenschaften bezieht sich die Sprachverständlichkeit auf die phonetisch-phonologische Struktur eines Wortes oder eines Satzes, wohingegen Sprachverständnis und Sprachverstehen mit der Erfassung von Sinn und Bedeutung von Wörtern und Sätzen zu tun haben.

Glücklicherweise ist die Sprachaudiometrie weniger komplex als die Linguistik. Die primäre Messgröße ist eindeutig definiert als der Anteil der nach Einschätzung des Untersuchers korrekt nachgesprochenen Testwörter. Es ist nicht schön, aber üblich, diese Größe als Verständlichkeit oder Verständnisquote zu bezeichnen; „Verstehensquote“ trifft jedoch eher das, was hier gemeint ist. Für die Beschriftung der Ergebnisachse des Sprachaudiogramms – kurioserweise seit jeher eine horizontal verlaufende Abszisse an Stelle einer vertikalen Ordinate – existieren viele Optionen, unter denen ausschließlich „Prozent korrekt“ das wiedergibt, was im Diagramm dargestellt ist. Die Bezeichnung „Diskrimination“ ist beliebt, aber falsch – weil zumindest im Freiburger Test die Aufgabe nicht darin besteht, konkurrierende Testelemente oder Sprachlaute voneinander zu unterscheiden.

Indessen lohnt sich die Verfolgung des Gedankens, was wir eigentlich unter „Verstehen“ verstehen. Die Einbeziehung des Verstandes impliziert, dass dem gehörten Testelement eine Bedeutung zugeordnet wird. Dieser Mechanismus ist aber bei der Verwendung sinnfreier Testwörter sicherlich nicht beteiligt. Die Antwort des Prüflings „ich habe Bongo verstanden“ hat mit der Entschlüsselung des Wortes nichts zu tun. Die Antwort auf den Prüfreiz „gusa wumve gariyamoshi“ könnte lauten „verstehe nur Bahnhof“ – was ebenfalls mit „Verstehen“ im soeben definierten Sinn nichts zu tun hat (und übrigens dann und nur dann korrekt ist, wenn der Proband Kinyarwanda beherrscht). Was gibt es bei „Ring Spott Farm“ zu verstehen? Außer Anhängern der zeitgenössischen Lyrik wird es niemandem vergönnt sein, hierin eine sinnstiftende Wortfolge zu erkennen.

Wesentlich präziser als in Linguistik und Sprachaudiometrie sind die Begriffsdefinitionen in der Welt der Industrienormen. Laut DIN EN ISO 8253-3 [2] ist das Sprachverstehen die prozentuale Angabe der richtig erkannten Test-Elemente. Hier ist der Begriff „Sprachverstehen“ vom „Verstehen“ im oben definierten Sinn losgelöst, und er ist nach Einschätzung des Autors dieser Zeilen treffender als „Sprachverständlichkeit“ oder gar „Sprachverständnis“. In der praktischen Audiometrie haben wir jedoch nicht die Freiheit, Normen je nach persönlichem Geschmack zu befolgen oder zu missachten. Es ist somit unabwendbar, die gängige Beschriftung der Sprachaudiogramme zumindest zu überdenken und die Nomenklatur in unseren Fachpublikationen zu vereinheitlichen.

Sebastian Hoth


Anmerkung

Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Literatur

1.
Hahlbrock KH. Über Sprachaudiometrie und neue Wörterteste. Archiv für Ohren-, Nasen- und Kehlkopfheilkunde. 1953;162(5):394-431. DOI: 10.1007/BF02105664 External link
2.
DIN EN ISO 8253-3:2022. Akustik – Audiometrische Prüfverfahren – Teil 3: Sprachaudiometrie. Berlin: Beuth Verlag; 2022. DOI: 10.31030/3296501 External link