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GMS Onkologische Rehabilitation und Sozialmedizin

Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie e. V. (DGHO)

ISSN 2194-2919

Sozialmedizinische Beurteilung psychischer Folgen von Krebserkrankungen

The role of psychological comorbidities in cancer patients for socio-medical appraisal

Übersichtsarbeit

  • corresponding author Imke Strohscheer - VAMED Rehaklinik Lehmrade, Deutschland
  • Monika Steimann - Strandklinik Boltenhagen, Deutschland
  • Anne Piening-Lemberg - Psychotherapeutische Praxis Ahrensburg, Deutschland
  • Corinna Bergelt - Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Eppendorf, Hamburg, Deutschland

GMS Onkol Rehabil Sozialmed 2021;10:Doc01

doi: 10.3205/ors000041, urn:nbn:de:0183-ors0000417

Published: May 6, 2021

© 2021 Strohscheer et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Da bei malignen Erkrankungen mit psychischen Begleiterkrankungen zu rechnen ist, können diese für die sozialmedizinische Begutachtung von Patienten auch eine Rolle spielen. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Differenzierung psychischer Folgen, diagnostische Hinweise sowie die Einordnung für die Bedeutung in der sozialmedizinischen Begutachtung.

Schlüsselwörter: Sozialmedizinische Begutachtung, maligne Erkrankungen, psychische Komorbiditäten

Abstract

Patients with a diagnosis of cancer suffer from several psychosocial distress und sometime psychiatric comorbidities. Relevant task after oncological rehabilitation is the sociomedical assessment for working-age patients. This article gives advises whether and how psychosocial burden or a psychiatric diagnosis can be classified in the sociomedical assessment from oncologists.

Keywords: socio-medical appraisal, cancer, psychiatric comorbidities


Definition

Patienten mit Krebserkrankungen sind durch ihre Erkrankung und Behandlung vielfältigen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Auf psychischer Ebene spielen neben unspezifischen Belastungen (Distress) vor allem Ängste und Depressivität eine große Rolle. Psychische Belastungen von Krebspatienten reichen von „normalen“ adaptiven Emotionen bis hin zu schweren und klinisch relevanten Symptomen, die die diagnostischen Kriterien einer psychischen Erkrankung erfüllen.

Für die sozialmedizinische Beurteilung onkologischer Patienten sind psychische Beeinträchtigungen insofern diagnostisch besonders relevant, da psychische Belastungen und körperliche Funktionsstörungen in enger Wechselwirkung stehen, manchmal schwer unterscheidbar sind und das gemeinsame Vorliegen (Komorbidität) einer onkologischen und psychiatrischen Diagnose den Behandlungsverlauf und die Rehabilitation deutlich beeinträchtigen können. Bei der Beurteilung psychischer Komorbiditäten sollte zwischen vorbestehenden psychischen Erkrankungen und solchen Erkrankungen, die in Zusammenhang mit oder als Folge von Tumordiagnose, -behandlung und Krankheitsverlauf auftreten, unterschieden werden. In beiden Kategorien findet sich eine große Variabilität der Schwere der psychischen Beeinträchtigungen, angefangen von subsyndromalen psychosozialen Belastungen bis hin zu manifesten psychischen Erkrankungen. In Zusammenhang mit der sozialmedizinischen Beurteilung ist jedoch besonders zu beachten, dass viele Krebspatienten zwar nicht die diagnostischen Kriterien für eine psychische Erkrankung nach ICD-10 oder DSM-V erfüllen, aber dennoch eine relevante psychische Belastung aufweisen, die in der Beurteilung berücksichtigt werden sollte.


Epidemiologie

Aktuelle Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen schätzen, dass bei ca. einem Drittel aller Patienten mit einer malignen Erkrankung eine psychische Komorbidität vorliegt [1], [2]. Eine aktuelle deutsche epidemiologische Studie an über 4.000 Patienten aus verschiedenen Versorgungssettings berichtet eine 4-Wochen-Prävalenz von insgesamt 32% für alle psychischen Erkrankungen, die häufigsten Diagnosen entfallen dabei auf Angststörungen (12%), Anpassungsstörungen (11%) und affektive Störungen (7%) [3].

Zu den häufigsten dieser sogenannten subsyndromalen Belastungen bei Krebspatienten gehören Distress (bis zu 59% der Patienten), (Progredienz-)Ängste (bis zu 32%) und Depressivität (bis zu 58%). Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei onkologischen Patienten (Punktprävalenz) zählen Angststörungen (ICD-10 Code F41; 14%), affektive Störungen (ICD-10 Code F30-32; 11%), Anpassungsstörungen (ICD-10 Code F43.2; 8%) und akute Belastungsreaktionen (F43.0; 4%) [4].


Diagnostik

Die Überschneidung körperlicher Symptome mit psychischen Symptomen und krankheits- und therapiebedingten Symptomen stellt bei der Diagnostik psychischer Beeinträchtigungen bei onkologischen Patienten eine besondere Herausforderung dar und erfordert eine differenzierte Differentialdiagnostik [4]. Psychische Symptome müssten demnach von somatischen Beschwerden, einer angemessenen seelischen und emotionalen Reaktion auf die schwere psychosoziale Belastung einer Krebserkrankung sowie von den biologisch-organischen Folgen von Erkrankung und Therapie abgegrenzt werden.

Im diagnostischen Prozess empfiehlt sich ein stufenweises Vorgehen. Zunächst sollte ein Screening der Belastung erfolgen. Dies kann für Depressivität z.B. im ärztlichen Gespräch durch die beiden Fragen

  • „Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos?“ und
  • „Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?“

geschehen [5]. Bei zwei positiven Antworten ist eine weitere klinische Diagnostik erforderlich.

Darüber hinaus haben sich validierte Screeninginstrumente etabliert. Für die Einschätzung der allgemeinen Belastung empfiehlt sich die Nutzung des Distress Thermometers [6] oder der Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D) [7]. Im weiteren diagnostischen Prozess muss bei positivem Screening in jedem Fall ein diagnostisches Gespräch zur differenzierten Abklärung psychosozialer Belastungen und psychischer Komorbidität erfolgen. Weitere validierte differenzierte Screeninginstrumente sind bspw. der PHQ-9 zur Messung von Depressivität sowie der GAD-7 zum Differentialscreening von Patienten mit ausgeprägten Ängsten. Beide Instrumente sind Bestandteile des PHQ-D [8].

Spätestens bei positivem erweitertem Screening sollte die Vorstellung bei einem in psychiatrischer Diagnostik erfahrenen Facharzt oder Psychotherapeuten erfolgen, um gegebenenfalls eine Diagnose nach den Kriterien des ICD-10 zu sichern. Dieser wird im Rahmen eines klinischen diagnostischen Gesprächs und ggf. anhand spezifischer weiterführender Assessments eine Diagnose stellen.

Im Folgenden finden sich die ICD10-Kriterien der häufigsten psychischen Erkrankungen bei onkologischen Patienten.

Depression

Eine depressive Episode wird dann diagnostiziert, wenn mindestens zwei der drei Hauptsymptome

  • gedrückte depressive Stimmung,
  • Interessenverlust/Freudlosigkeit,
  • Antriebsmangel/erhöhte Ermüdbarkeit

sowie mindestens zwei der Zusatzsymptome

  • verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit,
  • vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen,
  • Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit,
  • negative und pessimistische Zukunftsperspektive,
  • Suizidgedanken oder -handlungen,
  • Schlafstörungen,
  • verminderter Appetit

über mindestens zwei Wochen vorliegen. Je nach Kombination, Anzahl und Ausprägung der Haupt- und Zusatzsymptome wird eine leichte, mittelgradige oder schwere depressive Episode diagnostiziert.

Anpassungsstörungen

Anpassungsstörungen treten als direkte Folge innerhalb eines Monats nach einem belastenden Lebensereignis auf und dauern (Ausnahme längere depressive Reaktion) nicht länger als sechs Monate an. Erfolgreiche Bewältigungsstrategien erscheinen blockiert. Es resultiert eine emotionale Beeinträchtigung und Reduktion der sozialen Leistungsfähigkeit, die jedoch in Schwere und Dauer nicht die Kriterien einer depressiven Episode oder einer anderen psychischen Erkrankung erfüllen (Tabelle 1 [Tab. 1]). Anpassungsstörungen werden bei Krebserkrankungen vergleichsweise häufig als komorbide psychische Erkrankung diagnostiziert. Dies liegt zum einen darin begründet, dass die Krebserkrankung per Definition als Auslöser der Anpassungsstörung infrage kommt. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist auch, dass ein kausaler Zusammenhang von psychischer Belastung und Krebserkrankung von Patientinnen und Patienten gut akzeptiert [9] und als vergleichsweise wenig stigmatisierend wahrgenommen wird.

Angststörungen

Ängste sind gerade im Rahmen einer schweren somatischen Erkrankung verständlich und erfüllen oft die Kriterien einer Realangst. Insbesondere sei an dieser Stelle auf die Progredienzangst verwiesen. Darunter verstehen wir eine reaktive Angst, die aus der realen Erfahrung der potentiell lebensbedrohlichen Erkrankung und ihrer Behandlung entsteht. Progredienzangst kann damit sowohl ein relevantes Symptom in der sozialmedizinischen Begutachtung sein, welches Leistungseinschränkungen nach sich ziehen kann, als auch funktional, da ihre Funktion unter anderem darin besteht, Kraft und Motivation zur Selbstfürsorge zu mobilisieren. Höhere Progredienzangst ist assoziiert mit jüngerem Alter, weiblichem Geschlecht, schlechter wirtschaftlicher Situation der Familie, höherer Anzahl von jährlichen Krankheitstagen, Häufigkeit von Arztbesuchen, progredientem Krankheitsverlauf und der Behandlung mit Chemotherapie [10].

Angststörungen (= pathologische Ängste) zeichnen sich durch exzessive Angstreaktionen bei gleichzeitiger Abwesenheit realer Gefahr aus. Die Abgrenzung gegenüber der Realangst ergibt sich weniger aus der Angstsymptomatik als aus den Umständen und den Folgen des Auftretens der Angstreaktion [11]. In Tabelle 2 [Tab. 2] findet sich die Auflistung der ICD-10 Kriterien der häufigsten bei onkologischen Patienten auftretenden Angststörungen.


Sozialmedizinische Begutachtung

Bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit ist zu unterscheiden, ob prinzipiell eine von der Tumorerkrankung abhängige psychische Erkrankung und/oder eine bereits vorbestehende psychiatrische Komorbidität vorliegen. In letzterem Falle wäre, bei gegebenem Einfluss auf die Leistungsfähigkeit, eine Begutachtung durch einen Facharzt für Psychiatrie erforderlich. Bei tumorassoziierten psychischen Symptomen oder Erkrankungen hingegen sollten die begutachtenden Fachärzte in der Lage sein, auch diesbezüglich differenzierte Diagnosen zu stellen und die Begutachtung durchzuführen.

Im Rahmen der Diagnose und Behandlung einer Tumorerkrankung spielen im Wesentlichen die bereits genannten psychischen Begleiterkrankungen/-phänomene eine Rolle. Sie sollten im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung benannt und klar umschrieben werden:

  • Depression/Depressivität,
  • Anpassungsstörungen,
  • Angstsyndrome,
  • Erschöpfungssyndrome/Fatigue.

Bezüglich der Diagnose und Einschätzung des Fatiguesyndroms verweisen wir auf das diesbezügliche Kapitel. Selbiges gilt für die kognitiven Einschränkungen nach malignen Erkrankungen (sogen. „Chemobrain“).

Bei der Beurteilung ist ein entscheidender Aspekt, inwieweit das Vorliegen einer psychischen Belastung tatsächlich die Leistungsfähigkeit eines Menschen beeinträchtigt. So könnte z.B. das Vorliegen einer leichten Depression oder Depressivität keine Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit bei bestimmten Berufen haben und eine negative Einschätzung sich eher kontraproduktiv auf den weiteren Verlauf auswirken, da sich eine regelmäßige Betätigung krankheitsstabilisierend auswirken kann [12]. Weiterhin ist es erforderlich, die Leistungsfähigkeit für den aktuellen spezifischen Beruf bzw. die Tätigkeit der Patienten sowie ihre potentielle Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erfassen. So können aufgrund von psychischen Erkrankungen mit ungünstiger Prognose (Dauer >6 Monate) Leistungen zur Teilhabe indiziert sein.

Psychische Begleiterkrankungen bei Tumorpatienten, insbesondere das Vorhandensein einer Depression, spielen hinsichtlich der Rückkehr in das Arbeitsleben nachweislich eine Rolle [13], [14], [15].

Zur Erfassung der Einschränkungen und Beeinträchtigungen werden 4 Ebenen unterschieden:

  • emotional,
  • sozial,
  • kognitiv,
  • körperlich.

Oftmals interagieren Symptome miteinander. Schmerzen, Depressionen und soziale Sorgen können zu Schlafstörungen führen, die sich wiederum negativ auf das Erleben von Tumorpatienten auswirken [16]. Insofern ist eine sorgfältige Anamnese und das Abschätzen von Behandlungsmöglichkeiten bzw. Linderung eine Grundvoraussetzung für eine sozialmedizinische Begutachtung.

Weiterhin spielen die Prognose und die Behandelbarkeit der beschriebenen psychischen Symptome eine relevante Rolle. So kann z.B. eine Depression im Rahmen einer bösartigen Erkrankung in aller Regel durch eine geeignete Therapie suffizient behandelt werden. Zur Prognoseabschätzung ist eine genaue Anamnese erforderlich, die den Zeitpunkt des Auftretens und den Verlauf erfasst, weiterhin den bereits erfolgten oder laufenden Einsatz therapeutischer Methoden (Medikamente, Psychotherapie) sowie deren Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit.

Zur Erfassung von tatsächlichen Einschränkungen sind klare Kriterien erforderlich. Für die Einschätzung des diesbezüglichen Einflusses auf die Leistungsfähigkeit hat die WHO 2001 die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) empfohlen [17]. Diese berücksichtigen neben der Aktivität als Durchführung einer Handlung und/oder Aufgabe auch die Partizipation (Teilhabe) als Einbezogensein in eine Lebenssituation sowie die Beeinträchtigung beider. Diesem zugrunde liegt das bio-psychosoziale Modell von Krankheit und Gesundheit. Unabhängig von Diagnosen stellen die Items der ICFs eine Funktionsbeschreibung dar und können somit u.U. eine bessere Vorstellung der Teilhabebeeinträchtigungen abbilden. Zudem ist es möglich, eine Funktionseinschränkung auch ohne psychiatrische Diagnose zu erfassen.

Analog den Kriterien der Deutschen Rentenversicherung zur sozialmedizinischen Begutachtung bei psychischen Störungen [18] enthalten Tabelle 3 [Tab. 3] und Tabelle 4 [Tab. 4], in Anlehnung an die entsprechenden Items der ICF, Merkmale aus dem Kapitel der Funktionen (b) und Aktivitäten/Teilhabe (d) [17].


Leistungsbeurteilung zur Erwerbsfähigkeit

Das positive Leistungsvermögen beschreibt die zumutbaren qualitativen und quantitativen Leistungsmerkmale u.a. bezüglich der Arbeitsschwere, -haltung und -organisation. Bei psychischen Komorbiditäten können passagere Einschränkungen hinsichtlich der Arbeitsorganisation auftreten. Das kann Antrieb, Konzentrationsfähigkeit, sowie Planungs- und Entscheidungsfähigkeit betreffen, ebenso die Daueraufmerksamkeit. Beeinträchtigungen mit gestörtem Tag-Nacht-Rhythmus können dazu führen, dass Tätigkeiten im Schichtdienst nicht möglich sind. Die beschriebenen Auswirkungen sind mit den konkreten Anforderungen für die aktuelle berufliche Tätigkeit abzugleichen und im weiteren in Bezug auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Im Rahmen einer stationären Rehabilitationsmaßnahme gelingt es oftmals besser eine Beurteilung durchzuführen, da unterschiedliche Berufsgruppen im Verlauf einen Eindruck über die tatsächliche Leistungsfähigkeit eines Menschen erhalten können. Beispielsweise: Wie ausdauernd kann sich ein Patient konzentrieren und beteiligen oder sich auf die Anforderungen der Rehabilitation einlassen? Ob die Betroffenen erhöhten Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen, an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen oder die Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge gewachsen sind, kann im Verlauf auch einfacher zu beurteilen sein – insbesondere, wenn es sich um passagere Phänomene handelt.

Die Beobachtungen können helfen, eine volle Leistungsfähigkeit von Teilleistungsfähigkeit und Leistungsunfähigkeit abzugrenzen. Wegen des halt- und strukturgebenden Effekts von Arbeit [12] ist insbesondere die Aufrechterhaltung einer Teilleistungsfähigkeit eine wichtige Option in der Sozialmedizinischen Beurteilung.

Weitere, davon unabhängige, körperliche Einschränkungen (orthopädische Probleme, Stomata, etc.) müssen gesondert betrachtet werden.

Das negative Leistungsvermögen muss anhand der Prognose, bisheriger Interventionen und Behandlungserfolge individuell eingeschätzt werden. Eine negative Leistungseinschätzung wird in die Beurteilung eingehen, wenn zu erwarten ist, dass die Einschränkungen über einen Zeitraum von 6 Monaten hinweg bestehen werden. Negative Kontextfaktoren (z.B. fehlende soziale Unterstützung, schlechtes Arbeitsklima oder ungünstige Krankheitsverarbeitung) spielen für die Prognose eine relevante Rolle.

Bezüglich der Einschätzung der Erwerbsfähigkeit stehen folgende Tätigkeiten bzw. Tätigkeitsmerkmale im Besonderen im Vordergrund [18]:

  • Besondere Anforderungen an geistige und psychische Belastbarkeit:
    • Konzentrations- und Reaktionsvermögen
    • Umstellungs- und Anpassungsvermögen
    • Verantwortung für Personen und Maschinen, Überwachung und Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge
  • pädagogische/soziale/therapeutische Tätigkeiten
  • vorwiegend Publikumsverkehr
  • häufige Reisetätigkeiten oder Außendienst
  • besonderer Zeitdruck
  • Nacht-/Wechselschichten

Unter einer konsequenten Behandlung und einem stabilen sozialen Umfeld führen die psychischen Komorbiditäten oder psychischen Minderbelastungen bei Tumorerkrankungen in der Regel nicht zu einer langfristigen Einschränkung der Leistungsfähigkeit und können kompensiert werden.


Fazit

Viele an Krebs erkrankte Menschen leiden unter subsyndromalen psychischen Belastungen, die nicht die Kriterien einer psychischen Diagnose im Sinne der ICD erfüllen, aber dennoch sowohl für die Krankheitsbewältigung als auch die sozialmedizinische Leistungseinschätzung relevant sind.

Zentrale Aufgabe bei der onkologischen sozialmedizinischen Leistungseinschätzung ist die Beschreibung der Auswirkungen sowohl der seelischen Minderbelastbarkeit als auch der sekundären psychischen Erkrankungen auf den Alltag und die beruflichen Anforderungen. Die entsprechenden Beschreibungen der Fähigkeits- und Funktionseinschränkungen (ICF) geben konkrete Hilfestellungen zur Begutachtung.

Psychische Komorbidität kann bei betroffenen Patienten einen großen Einfluss auf den Krankheitsverlauf, die psychische Krankheitsbewältigung und die berufliche und soziale Wiedereingliederung haben. Für diese Patienten ist eine psychiatrische oder psychotherapeutische Mitversorgung und Begutachtung erforderlich.


Anmerkungen

Interessenkonflikte

Die Autorinnen erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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