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GMS Onkologische Rehabilitation und Sozialmedizin

Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie e. V. (DGHO)

ISSN 2194-2919

Chemotherapieinduzierte Polyneuropathie: Grundlagen, Diagnostik und Prävention

Chemotherapy induced polyneuropathy: Basics, diagnostics and prevention

Übersichtsarbeit Cancer Survivorship

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GMS Onkol Rehabil Sozialmed 2014;3:Doc05

doi: 10.3205/ors000013, urn:nbn:de:0183-ors0000139

Published: June 4, 2014

© 2014 Steimann.
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Zusammenfassung

Dem therapeutischen Nihilismus gegenüber einer chemotherapieinduzierten Polyneuropathie (CIRN) kann mit modernen Rehabilitationsstrategien begegnet werden. Zwar werden die unterschiedlichen Pathomechanismen und Kumulativdosen allgemein beachtet, wenig Augenmerk gilt der rechtzeitigen Prävention mittels Sensorimotortraining und der frühzeitigen Diagnose einer CIPN.

Die Quantifizierung einer manifesten CIPN mittels üblicher Gradeinteilungen, wie z.B. den common toxicity criteria verweist auf die Bedeutung funktioneller Trainingsansätze für die Aktivitäten des täglichen Lebens und Teilhabe an der Gesellschaft. Funktionsdiagnostik und Rehabilitationsverlauf sind Grundlage für die sozialmedizinische Einschätzung.

Abstract

Modern rehabilitation offers strategies against the therapeutic nihilism towards chemotherapy induced polyneuropathy (CIPN). Whereas the different pathomechanisms and cumulative doses are well known, little attention is payed to prevention through sensorimotortraining and early diagnose of a CIPN.

Quantification of a manifest CIPN with common gradings as the common toxicity criteria shows the importance of functional trainings for the activities of daily living and participation in society. Functional diagnostics and the rehabilitation process are the basis for social medical reports.


Definition

Eine typische Nebenwirkung vieler moderner Zytostatika und Biologicals ist eine periphere Polyneuropathie. Die in der Regel distal betonte symmetrische Schädigung peripherer Nerven geht typischerweise mit sensorischen strumpf- und handschuhförmigen Ausfällen, Parästhesien und brennenden Schmerzen einher. Im Verlauf kann es auch zu Kraftdefiziten und insbesondere Funktionseinschränkungen kommen.


Ursachen, Pathomechanismen und Differentialdiagnose

Die wichtigsten neurotoxischen Zytostatika lassen sich in drei Klassen einteilen: Platinabkömmlinge, Vincaalkaloide und Taxane.

Neurotoxizität wird auch von vielen Biologicals beschrieben: Signalweghemmer (Sunitinib, Sorafenib), dem Proteasomeninhibitor Bortezomib und Thalidomid.

Der typische Pathomechanismus der Platinderivate ist die Demyelinisierung, also die Schädigung der Myelinscheiden der peripheren Nerven. Bei Oxaliplatin löst dies typischerweise akut kälteabhängige Dysästhesien aus, später eine kumulative sensorische Neuropathie. Bei Cisplatin steht die sensomotorische Polyneuropathie im Vordergrund, die Ototoxizität des Cisplatins beruht ebenfalls auf einer Demyelinisierung.

Der Verlauf der oxaliplatinindizierten Neurotoxozität kann sehr unterschiedlich sein. Die sensomotorische Polyneuropathie tritt meist erst verzögert nach mehreren Behandlungszyklen auf, regelhaft nach einer kumulativen Gesamtdosis von 510 mg/m². Polyneuropathische Schmerzen kommen in 10,5% der Fälle hinzu. Insgesamt ist eine partielle oder komplette Rückbildung in 75% der Fälle im Median innerhalb von 13 Wochen zu erwarten [1]. Vorbeugen lässt sich der oxaliplatininduzierten Neurotoxozität durch Modifikation der Protokolle. Dazu gehört die zweiwöchentliche Gabe von 85 mg/m² Oxaliplatin, die Wahl einer höheren Frequenz, die Verlängerung der Infusionszeit oder kontinuierlich Gabe bzw. aufwändigere Protokolle mit Chronomodulation [2].

Von der Demyelinisierung ist der Pathomechanismus der axonalen Degeneration abzugrenzen. Prinzipiell weist die axonale Degeneration eine schlechtere Prognose auf. Die axonale Degeneration liegt der Polyneuropathie bei Vinca-Alkaloiden und Taxanen zugrunde. Vor allem bei Vincristin, weniger bei Vinorelbin, kommt es akut und verzögert zu einem herabgesetzten Vibrationsempfinden, Reflexausfällen, Parästhesien, Hyperästhesien, autonomen Neuropathien, Hirnnervenausfällen und selten Enzephalopathien oder einem Schwartz-Bartter-Syndrom. Die axonale Degeneration bei Taxanen führt zum klinischen Bild einer dominant sensomotorisch und autonomen Polyneuropathie.

Differentialdiagnostisch sind andere Ursachen einer Polyneuropathie abzugrenzen. Alkoholmissbrauch, ein vorbestehender Diabetes mellitus aber auch andere Stoffwechselstörungen (wie z.B. eine Niereninsuffizienz) können eine chemotherapieinduzierte Polyneuropathie begünstigen. Infektionskrankheiten (HIV, Diphterie, Borreliose, Herpes Zoster) können ebenfalls Ursache einer Polyneuropathie sein. In der Onkologie ist darüber hinaus an paraneoplastische Syndrome, MGUS aber auch Resorptionsstörungen von Vit. B12 bzw. Folsäure im Rahmen von Mangelernährung zu denken. Neben den Tumortherapien können aber auch Medikamente wie Metronidazol, INH, Amiodaron und Diphenylhydantoin eine Polyneuropathie auslösen.


Charakteristika

Die Inzidenz einer chemotherapieinduzierten Polyneuropathie schwankt zwischen 3% bei Monotherapien bis zu 38% nach Polychemotherapien (Tabelle 1 [Tab. 1]) [3]. Ein Fortschreiten ist nach dem letzten Zyklus bzw. dem Absetzen des Zytostatikums möglich (Coasting-Effekt). Das Risiko steigt in höherem Alter und bei den beschriebenen Begleiterkrankungen.


Klassifikation

Ausprägung und Schweregrad der Polyneuropathie lässt sich gut mit den common toxicity criteria (CTCAE v4.03) beschreiben (Tabelle 2 [Tab. 2]). Die minimale Quantifizierung mit dieser Gradeinteilung wird in der Onkologie als Standard angesehen [4] .


Anamnese

Die Anamnese zielt auf die Erfassung relevanter Fähigkeits- und Funktionsstörungen und geht in die Gradeinteilung ein. Angaben zur Alltagsbelastbarkeit lassen sich vorzugsweise durch Nennung von Beispielen erheben: Knöpfen, Schuhe binden etc. Ist das taktile Empfinden und die Feinmotorik ausreichend für besondere Anforderungen wie z.B. Injektionen, Nähen und Sortieren.

Bei den unteren Extremitäten geht es um Koordinationsstörungen, Gang und Standsicherheit, die sich auch auf die Gehstrecke auswirken. Darüber hinaus kann eine vegetative Beteiligung mit trophischen Hautveränderungen und verminderter Schweißsekretion vorliegen.


Diagnostik

Die typischen sensiblen Defizite werden bei der Oberflächensensibilitätsprüfung beschrieben. Minussymptome (Überprüfung mit dem Weinsteinfilament) werden von Plussymptomen (Hyperalgesie, Brennen) abgegrenzt, die sich mit einem Wattebausch testen lassen. Zur Testung des Kalt-Warm-Empfindens eignen sich Stäbchen mit je einem Ende aus Metall und Plastik. Frühwarnzeichen einer Polyneuropathie ist neben dem Verlust der Muskeleigenreflexe das Nachlassen des Vibrationsempfindens. Deshalb sollte Vibration nach jedem Chemotherapiezyklus mit der Stimmgabel nach Rydel-Seiffer überprüft werden [5].

Klinische Funktionstests untersuchen die Auswirkungen auf den Alltag. Dazu gehören eine Schriftprobe, das Greifen nach Büroklammern, der Romberg’sche Stehversuch [6], die Beschreibung des Gangbildes und die Testung des Tandem-Stands bzw. Tandem-Gangs. Neuropathische Schmerzen können mit einfachen visuellen Analogskalen (Quantifizierung von Null bis Zehn) dokumentiert und im Verlauf überprüft werden. Um sekundäre Kraftdefizite zu objektivieren, empfiehlt sich eine einfache Hand-Kraft-Messung.


Prävention

Um einem schweren Bild der Polyneuropathie mit den typischen Komplikationen vorzubeugen empfehlen sich aktive Präventionsstrategien mittels Sensorimotortraining. Bei ausgeprägter Polyneuropathie kann die zunehmende Muskelschwäche und Muskelatrophie zur Immobilität der Patienten führen. Durch die Sensibilitätsdefizite kommt es zu kleineren Verletzungen, die sich sekundär infizieren können. An der Universität Freiburg konnte der günstige Einfluss eines vor Beginn einer potentiellen neurotoxischen Chemotherapie durchgeführten Sensorimotortrainings belegt werden. Vor Beginn der Chemotherapie können ca. 70% der Patienten auf einem Bein balancieren. Während Patienten die vor einer potentiell neurotoxischen Chemotherapie kein gezieltes Gleichgewichtstraining durchführten, diese Fähigkeit fast vollständig verloren, konnten Patienten mit dem Sensorimotortraining bei Abschluss der Chemotherapie und in der Nachbeobachtung zu 100% auf einem Bein balancieren, obwohl sie ebenfalls sensible Defizite unter Chemotherapie ausbildeten. Ebenso wurden in der genannten Studie die Stolperreflexe im Einbeinstand überprüft. 40% der Patienten konnten vor Beginn der Chemotherapie einen Stolperreflex auf einem Bein stehend ausbalancieren. Wenn Patienten vor der Chemotherapie kein Gleichgewichtstraining durchführten, verloren sie diese Fähigkeit vollständig. Patienten, die im Rahmen des Sensorimotortrainings die Stolperreflexe trainierten, konnten am Ende der Chemotherapie und in der Nachbeobachtung zu 100% einen Stolperreflex im Einbeinstand halten [7]. Diese Daten sind ein wichtiger Hinweis auf die Bedeutung eines frühzeitigen Funktions- und Gleichgewichtstrainings, möglichst vor Einleitung einer potentiellen neurotoxischen Chemotherapie.


Sozialmedizinische Beurteilung

Ist jedoch eine ausgeprägte Polyneuropathie eingetreten, gilt es insbesondere im Schweregrad III die alltags- und berufsrelevanten Einschränkungen der Teilhabe unter Berücksichtigung der individuellen Kontextfaktoren genau zu beschreiben (Tabelle 3 [Tab. 3]) [8]. Im Einzelfall können dazu berufsbezogene Assessments wie die Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit nach Susann Iserhagen oder das ERGOS-Verfahren in den Berufsförderungswerken (z.B. Hamburg) hilfreich sein.

Bei einer Polyneuropathie Grad I und II wird man in der Regel von einer vollen Leistungsfähigkeit (über 6 Stunden) für den allgemeinen Arbeitsmarkt ausgehen. Bei einer Polyneuropathie Grad 3 und 4 ist eine individuelle Entscheidung in Abhängigkeit von den Kontextfaktoren erforderlich. In qualitativer Hinsicht wird berücksichtig, ob die Funktionsstörungen als dauerhaft (jedenfalls über 6 Monate) bestehen werden. Soweit möglich sollten Ergebnisse aus der Arbeitsplatzberatung und -erprobung eingehen, um die Relevanz für die Teilhabe beurteilen zu können. Bei unklarer Befundlage kann eine stufenweise Wiedereingliederung zur weiteren Klärung beitragen.

Bei der Beurteilung der Wegefähigkeit sollte ein besonderes Augenmerk auf der Fahrtüchtigkeit liegen. Ähnliches gilt beim Führen von Maschinen. Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung geben dazu eindeutige Anhaltspunkte. Wer an neuropathischen Schädigungen leidet, die zu einer relevanten Beeinträchtigung der motorischen Funktionen (Kraftgrad 4) führen, wird in der Regel nicht in der Lage sein, dem Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden. Dabei ist zu berücksichtigen, ob die erforderlichen Bewegungen in ausreichendem Umfang mit ausreichender Schnelligkeit durchgeführt werden können und ob zusätzliche sensible Vorstörungen vorliegen, die die Koordination beeinträchtigen [7].


Empfehlungen für die Praxis

Das Schädigungsmuster (axonal vs. demyelinisierend) beeinflusst den Verlauf der chemotherapieinduzierten Polyneuropathie. Die Testung des Vibrationsempfindens und der Muskeleigenreflexe ermöglicht eine Früherkennung und rechtzeitige Anpassung der Chemotherapie. Einfache klinische Aktivitätsbeurteilungen ermöglichen eine Gradeinteilung der Polyneuropathie nach den common toxicity criteria. Eine effektive Therapie ist auf messbare Funktionsverbesserung ausgerichtet. In der Regel sollte im Rahmen einer aktiven Rehabilitationsstrategie die Verbesserung um einen Grad (nach CTCAE) erreicht werden. Prognose und Rehabilitationsverlauf gehen in die sozialmedizinische Beurteilung ein.


Anmerkungen

Interessenkonflikte

Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.

Zusammenhang

Der Artikel ist die Zusammenfassung eines Vortrags anlässlich der Veranstaltung der Wilsede-Schule „Cancer Survivorship – oder wie sieht das Leben nach der Krebserkrankung und deren Behandlung aus“, 26.09.–28.09.2013 (https://www.wilsede-schule-akademie.de/cancersurvivorship.html).


Literatur

1.
Cassidy J, Misset JL. Oxaliplatin-related side effects: characteristics and management. Semin Oncol. 2002 Oct;29(5 Suppl 15):11-20. DOI: 10.1053/sonc.2002.35524 External link
2.
Giacchetti S, Perpoint B, Zidani R, Le Bail N, Faggiuolo R, Focan C, Chollet P, Llory JF, Letourneau Y, Coudert B, Bertheaut-Cvitkovic F, Larregain-Fournier D, Le Rol A, Walter S, Adam R, Misset JL, Lévi F. Phase III multicenter randomized trial of oxaliplatin added to chronomodulated fluorouracil-leucovorin as first-line treatment of metastatic colorectal cancer. J Clin Oncol. 2000 Jan;18(1):136-47.
3.
Köppen S. Tumortherapie-bedingte Neuropathie. Was ist bei neuen Konzepten zu beachten. Onkologe. 2009;15:142-8.
4.
Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE v4.03). National Cancer Institute; 2010. Available from: http://evs.nci.nih.gov/ftp1/CTCAE/CTCAE_4.03_2010-06-14_QuickReference_5x7.pdf External link
5.
Cavaletti G, Bogliun G, Marzorati L, Zincone A, Piatti M, Colombo N, Franchi D, La Presa MT, Lissoni A, Buda A, Fei F, Cundari S, Zanna C. Early predictors of peripheral neurotoxicity in cisplatin and paclitaxel combination chemotherapy. Ann Oncol. 2004 Sep;15(9):1439-42. DOI: 10.1093/annonc/mdh348 External link
6.
Kaden B, Vogt T, Körber J, Berger D, Barth J. Therapieassoziierte Polyneuropathien bei Patienten mit Tumorerkrankungen, Folgen für die Teilhabe am Alltag und im Beruf. In: Deutsche Rentenversicherung Bund, Hrsg. 20. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium. Berlin: DRV; 2011. S. 413-4. (DRV Schriftenreihe; 93.) Verfügbar unter: http://forschung.deutsche-rentenversicherung.de/ForschPortalWeb/ressource?key=tagungsband_20_reha_kolloqu.pdf External link
7.
Streckmann F, Kleber M, Gollhofer A, Kneis S, Bertz H, Leifert JA. Sensorimotor Training has a positive influence on Patients with Malignant Lymphoma Receiving Chemotherapy. Onkologie. 2011;34:46-8.
8.
Steimann M, Kerschgens C, Barth J. Rehabilitation bei chemotherapieinduzierter Polyneuropathie. Onkologe. 2011;17:940–7.
9.
Schubert W, Schneider W, Eisenmenger W, Stefan E. Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung. 2. Aufl. Bonn: Kirschbaum; 2005. S.115-6.