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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik – wo stehen die beiden Disziplinen und wie stehen sie zueinander?

Business informatics and medical informatics – what are the foundations of these disciplines and how are they related?

Systematischer Rückblick und Perspektiven

  • corresponding author Alfred Winter - Universität Leipzig, Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie, Leipzig, Deutschland
  • Reinhold Haux - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der TU Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover, Braunschweig, Deutschland
  • Barbara Paech - Universität Heidelberg, Institut für Informatik, Heidelberg, Deutschland
  • Frank Teuteberg - Universität Osnabrück, Fachgebiet Unternehmensrechnung und Wirtschaftsinformatik, Osnabrück, Deutschland
  • Ursula Hübner - Hochschule Osnabrück, Forschungsgruppe Informatik im Gesundheitswesen, Osnabrück, Deutschland

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2019;15(1):Doc07

doi: 10.3205/mibe000201, urn:nbn:de:0183-mibe0002015

Published: October 11, 2019

© 2019 Winter et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik gehören zu den sogenannten Bindestrich-Informatik-Fächern, die sich mit der Anwendung der Methoden und Erkenntnisse der Informatik, aber auch mit der Weiterentwicklung solcher Methoden und Erkenntnisse für gewisse Anwendungsgebiete befassen. Auf einer Podiumsdiskussion der Jahrestagung 2018 der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) wurde für Wirtschaftsinformatik, Medizinische Informatik und Informatik analysiert wie sie zueinander stehen. Die Analyse erfolgte anhand von fünf Fragen:

1.
Welche grundlegenden Ziele bestimmen die jeweilige wissenschaftliche Arbeit?
2.
Wie ist der Praxisbezug ausgeprägt?
3.
Inwieweit sind Besonderheiten von Medizin bzw. Ökonomie prägend für die jeweilige wissenschaftliche Arbeit?
4.
Welche Rolle spielen Theoriefundierung und Evidenz?
5.
Was können Wirtschaftsinformatik und Informatik von Medizinischer Informatik und Medizin lernen – und umgekehrt?

Die Analyse zeigt, dass die drei Disziplinen von einem systematischen wechselseitigen Austausch profitieren können. Das „Lernende Gesundheitssystem“ bietet Ansätze für einen entsprechenden Rahmen.

Schlüsselwörter: Medizinische Informatik, Wirtschaftsinformatik, Informatik, Gestaltungsorientierung, Evaluation

Abstract

Business informatics and medical informatics adopt and adapt methods and knowledge from computer science and further develop appropriate methods for the particular needs in their application domains. A panel discussion at the 2018 conference of the German Society for Medical Informatics, Biometry and Epidemiology (GMDS) analyzed the relationship between business informatics, medical informatics and computer science. Five questions guided the discussion:

1.
What are the basic goals of these disciplines?
2.
To what extent does practical application of results shape the disciplines?
3.
Do medicine and economy demand for particular methods in informatics and computer science?
4.
How important is foundation by theory and evidence?
5.
Can the disciplines learn from each other?

The analysis made clear that business informatics, medical informatics and computer science would gain profit from a more systematic mutual exchange. The “Learning Healthcare System” could provide a useful framework.

Keywords: medical informatics, business informatics, computer science, design science, evaluation


Einleitung

Die beiden Disziplinen Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik gehören zu den sogenannten Bindestrich-Informatik-Fächern, die sich mit der Anwendung der Methoden und Erkenntnisse der Informatik, aber auch mit der Weiterentwicklung solcher Methoden und Erkenntnisse für gewisse Anwendungsgebiete befassen.

Einerseits erscheinen die Forschungsgegenstände klar voneinander getrennt. Die Unterschiede werden deutlich, wenn es in der Wirtschaftsinformatik beispielsweise um die Bewertung von Risiken, Kosten und Nutzen bei der Gestaltung und dem Einsatz von Informationssystemen in der Energie- oder Mobilitätswirtschaft geht und sich die Medizinische Informatik zum Beispiel mit der Entwicklung von Ontologien zur Beschreibung von Erkrankungen, medizinischen Prozeduren und anatomischen Strukturen befasst.

Andererseits überlagern sich die Forschungsgegenstände. So werden Fragen nach der bestmöglichen Architektur komplexer Informationssysteme in beiden Disziplinen diskutiert. Die eingesetzten Methoden sind ähnlich oder gar identisch, auch wenn sich die Branche der betrachteten Unternehmen unterscheidet: In der Medizinischen Informatik ist es in der Regel die Gesundheitswirtschaft [1] während es in der Wirtschaftsinformatik z.B. die Mobilitätswirtschaft [2] oder die Energiewirtschaft sein kann. Erst recht kommt es zu Überlagerungen beim gemeinsamen Einsatz von Methoden, die aus der „Mutterdisziplin“ Informatik stammen, wie z.B. bei der Softwareentwicklung.

Es liegt nahe, Gemeinsamkeiten und Unterschiede auszuloten und Felder zu identifizieren, auf denen ein gegenseitiges Lernen möglich und sinnvoll ist. Als Basis eines Vergleichs ist es sinnvoll, sich in jeder der beiden Disziplinen zunächst der eigenen Position zu vergewissern. Einen Beitrag dazu leistete vor fünf Jahren eine Podiumsdiskussion „Methodenpluralismus in der WI” auf der Konferenz „Wirtschaftsinformatik 2013“ [3]. Die Diskutanten nahmen die Wirtschaftsinformatik unter anderem aus der Perspektive der Medizinischen Informatik in den Blick und setzten sich insbesondere damit auseinander, wie die Wirtschaftsinformatik ihre eigene Identität definieren könne.

Auf der Jahrestagung 2018 der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) in Osnabrück fanden sich nun die AutorInnen dieses Artikels zu einer Podiumsdiskussion zusammen. Für Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik war zu analysieren, wo die beiden Disziplinen stehen und wie sie zueinander stehen. Dabei vertraten Frank Teuteberg (FT) die Wirtschaftsinformatik, Ursula Hübner (UH) und Reinhold Haux (RH) die Medizinische Informatik. Barbara Paech (BP), die sich in der „Mutterdisziplin“ Informatik mit Softwareengineering befasst, ergänzte eine neutralere Sichtweise. Alfred Winter (AW) aus der Medizinischen Informatik hatte die Gesprächsleitung.

Ziel der Podiumsdiskussion war und der vorliegenden Arbeit ist es, die durchaus subjektiven Sichtweisen der Diskutanten auf Informatik, Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik anhand ihrer Antworten auf die folgenden fünf Fragen zu dokumentieren:

1.
Welche grundlegenden Ziele bestimmen die jeweilige wissenschaftliche Arbeit?
2.
Wie ist der Praxisbezug ausgeprägt?
3.
Inwieweit sind Besonderheiten von Medizin bzw. Ökonomie prägend für die jeweilige wissenschaftliche Arbeit?
4.
Welche Rolle spielen Theoriefundierung und Evidenz?
5.
Was können Wirtschaftsinformatik und Informatik von Medizinischer Informatik und Medizin lernen – und umgekehrt?

Im folgenden Abschnitt zu den verwendeten Methoden wird zunächst erläutert, wie diese Fragen und die zugehörigen Antworten entstanden sind. Der darauf folgende Abschnitt führt die Fragen im Blick auf die einzelnen Disziplinen und ihre VertreterInnen weiter aus und gibt die Antworten der Diskutanten auf diese Fragen aus der Perspektive der jeweiligen Disziplin wieder. Nachfolgend werden die Antworten auf die fünf Fragen zusammengefasst und die Validität der Aussagen bzw. deren Limitationen diskutiert.


Methoden

Die Podiumsdiskussion „Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik“ fand am 5.9.2018 in Osnabrück statt. Die Vorbereitung lag bei den Autoren AW und UH, die auch die Einladungen für die anderen TeilnehmerInnen FT, RH und BP ausgesprochen hatten. Die TeilnehmerInnen erhielten zur Vorbereitung einige Wochen vor der Veranstaltung die oben genannten Fragen mit den im folgenden Abschnitt enthaltenen Erläuterungen.

Bei der Veranstaltung führte der Gesprächsleiter durch die Fragen und gab bei jeder Frage allen PodiumsteilnehmerInnen Gelegenheit, die Fragen aus ihrer je eigenen Sicht zu beantworten. Dabei nutzten sie schriftliche Notizen, die sie zur Vorbereitung der Veranstaltung angefertigt hatten. Nach jeder Frage hatte das Publikum die Möglichkeit, Fragen zu stellen, eigene Sichtweisen einzubringen und so mit den PodiumsteilnehmerInnen zu diskutieren. Der Verlauf der Veranstaltung wurde nicht protokolliert.

Nach der Veranstaltung wurden die TeilnehmerInnen aufgefordert, Ihre Antworten auf die Fragen auf der Basis ihrer Vorbereitungsnotizen und ihrer Erinnerung an den Diskussionsverlauf auszuformulieren. Dabei waren die TeilnehmerInnen ermuntert worden, bei Ihren Antworten auf eigene Literatur zu verweisen, wenn dort ausführlichere Begründungen zu den Antworten schon gegeben wurden, die aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Die Antworten wurden vom Gesprächsleiter gesammelt und zusammengefasst. In einer Review-Runde hatten die Teilnehmer Gelegenheit, diese Sammlung noch einmal zu überarbeiten.

Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis der abschließenden redaktionellen Überarbeitung mit den TeilnehmerInnen als AutorInnen.


Wo stehen Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik – und wie stehen sie zueinander?

3.1 Die grundlegenden Ziele

Nach den Ethischen Leitlinien der GMDS [4] befasst sich die Medizinische Informatik „mit der systematischen Verarbeitung, Speicherung und dem Transport von Informationen in Medizin und Gesundheitswesen. Sie untersucht dort die Prinzipien der Informationsverarbeitung und beschreibt, analysiert, konstruiert oder betreibt informationsverarbeitende Systeme.“ Die Ethischen Leitlinien formulieren als Ziel, „Gesunde und Kranke sowie die medizinisch Tätigen und Forschenden darin zu unterstützen, Krankheiten vorbeugen, heilen und lindern sowie deren Ursachen und Wirkungen besser verstehen zu können“.

AW: Teilen Sie in der Medizinischen Informatik diese Zielsetzung für Ihre wissenschaftliche Arbeit oder sehen Sie andere, näherliegende oder konkretere Ziele?

RH: Ja. In diesem Ziel wird das Anwendungsgebiet unserer Disziplin genannt. Ergänzen könnte man noch, dass immer mehr auch das Thema Lebensqualität eine Rolle spielt. Neben der Relevanz für die Medizin kommt insbesondere bei der Entwicklung von Methoden der Anspruch der Originalität hinzu.

UH: Medizinische Informatik orientiert sich an der Bezugsdomäne Medizin und Gesundheitswesen und damit an ihren AkteurInnen einschließlich der PatientInnen, den Prozessen und den zu erreichenden Ergebnissen. Dabei tritt die Medizinische Informatik als Methodendisziplin sowohl für die Versorgung wie für die Forschung (und Lehre) ein. Daher ist die obige Zielformulierung vollkommen zutreffend.

Aus dem Namen „Wirtschaftsinformatik“ könnte man analog zum Namen „Medizinische Informatik“ ableiten, dass es in der Wirtschaftsinformatik um die Bezugsdomäne der Ökonomie gehe. Analog zu den Ethischen Leitlinien der GMDS könnte man dann für die Wirtschaftsinformatik als Ziel formulieren, BürgerInnen und WirtschaftswissenschaftlerInnen darin zu unterstützen, Armut und wirtschaftliche Not vorbeugen, beheben und verringern sowie deren Ursachen besser verstehen zu können.

AW: Ist es dieses Ziel oder sind es andere, näherliegende oder konkretere Ziele, von denen Sie sich in der Wirtschaftsinformatik leiten lassen?

FT: Es sind näherliegende bzw. konkretere Ziele von denen ich mich leiten lasse. Zum einen erfüllt die Wirtschaftsinformatik die gesellschaftliche Aufgabe, durch zunehmende sinnhafte Digitalisierung bzw. Automation die Ressourceneffizienz und Produktivität einer Volkswirtschaft zu erhöhen und somit letztlich auch wohlstandsmehrend zu wirken und Armut und wirtschaftliche Not zu verringern bzw. deren Ursachen besser zu verstehen. Zum anderen stehen jedoch ganz konkret die Konzeption, Entwicklung, Einführung und Nutzung von sozio-technischen Informationssystemen sowie generell das Management der Ressource „Information“ in unterschiedlichen Anwendungsbereichen in Wirtschaft, Verwaltung und auch im Privathaushalt im Fokus. Hierbei geht es nicht nur um die Entwicklung von Anwendungssystemen bis zum Prototyp (im Sinne einer Konstruktions- oder Gestaltungsorientierung), sondern auch um die Wirkung und Akzeptanz von Systemen, die durch andere geschaffen wurden, wobei u.a. Forschungsmethoden der sozialwissenschaftlichen Feldforschung (Verhaltensorientierung, Empirische Orientierung) zum Einsatz kommen.
Konkrete Ziele, die ich dabei verfolge, sind (in Anlehnung an die „Rahmenempfehlungen für die Ausbildung in Wirtschaftsinformatik an Hochschulen“ aus dem Jahr 2017 [5]):

  • die gestaltungsorientierte Konstruktion von Artefakten wie z.B. die (Weiter-)Entwicklung von Konzepten, Vorgehensweisen, Modellen, Methoden, Werkzeugen und (Modellierungs-)Sprachen zur Gewinnung von neuen Erkenntnissen über sowie zur Entwicklung von sozio-technischen Informationssystemen,
  • die Erzielung eines Verständnisses von (Technologie-)Akzeptanz und Beherrschbarkeit von sozio-technischen Informationssystemen im Hinblick auf das Verhalten von Akteuren in und mit diesen Systemen sowie
  • die Bewertung von Risiko-, Nutzen- und Wirtschaftlichkeitsfaktoren bei der Gestaltung und dem Einsatz von sozio-technischen Informationssystemen und der durch sie veränderten Wertschöpfungsprozesse und Auswirkungen auf Individuen (Mikro-Ebene), Gruppen, Organisationen und Branchen (Meso-Ebene) sowie auf ganze Wirtschaftsräume (Makro-Ebene).

In der Informatik fehlt im Namen ein Anwendungsbezug wie Medizin oder Wirtschaft.

AW: Geht es in der Informatik und konkreter bei Ihren Forschungsarbeiten also vor allem um die Grundlagen z.B. für die „Bindestrich-Informatiken“? Von welchem Ziel lassen Sie sich leiten?

BP: Informatik ist die „Wissenschaft von der systematischen Darstellung, Speicherung, Verarbeitung und Übertragung von Informationen, besonders der automatischen Verarbeitung mithilfe von Digitalrechnern“ [6]. Informatik hat das Ziel, geistige Tätigkeiten von Lebewesen und nicht-physikalische Prozesse in Gesellschaften und Organisationen zu unterstützen und zu automatisieren. Dies ist durchaus vergleichbar mit der Unterstützung, die der Maschinenbau für körperliche Tätigkeiten entwickelt hat und noch entwickelt [7]. InformatikerInnen sollen mit ihrem Know-how die Grundlage für hochwertige Güter oder verlässliche Dienstleistungsangebote schaffen [8]. Die Gesellschaft für Informatik (GI) bindet diesen inhärenten Anwendungsbezug in ihren Ethischen Leitlinien an die Forderung an ihre Mitglieder, mit Entwurf, Herstellung, Betrieb und Verwendung von IT-Systemen zur Verbesserung der lokalen und globalen Lebensbedingungen beizutragen und Verantwortung für die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Arbeit zu übernehmen [9].
Für mein Arbeitsgebiet, das Software Engineering, setze ich mir die innovative Unterstützung der SoftwareentwicklerInnen (also geistiger Tätigkeiten und Prozesse bei der Softwareentwicklung) zum Ziel. Ergebnisse der Arbeit sind nicht eine Lösung für ein einzelnes Unternehmen, sondern Grundideen, die die Unternehmen anpassen können.

3.2 Der Praxisbezug

Offenbar haben sowohl die Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik als auch die Informatik einen inhärenten Praxisbezug. Die Disziplinen erarbeiten Lösungen oder Methoden für die praktische Anwendung und bewerten ihre Arbeitsergebnisse im Hinblick auf eine Anwendbarkeit in der Praxis. Der Austausch mit den Anwendungsfeldern (Praxis) kann jedoch unterschiedlich gelebt werden: Einerseits kann bei der wissenschaftlichen Arbeit auf ein Problem in der Anwendungsdomäne reagiert und dann gezielt nach Lösungen (z.B. Methoden und Algorithmen) gesucht werden. Andererseits können Anwendungen gesucht werden, um gefundene Theorien auf Ihre Gültigkeit zu überprüfen.

AW: Welche dieser Vorgehensweisen bevorzugen Sie? Sehen Sie überhaupt einen Gegensatz zwischen diesen beiden Vorgehensweisen?

RH: Medizinische Informatik ohne Austausch mit dem „Anwendungsfeld“ Medizin (und darin enthalten ist auch die Gesundheitsversorgung in all ihren Facetten) ist ein Widerspruch in sich und wäre dann auch keine Medizinische Informatik. Es ergeben sich immer wieder konkrete medizinische Probleme, die zumindest meine Arbeit motivieren. Bei der Ausrichtung der Forschung ist aber auch immer auf Originalität zu achten, also darauf, dass nicht nur die bloße Anwendung bekannter Methodik auf ein existierendes medizinisches Problem im Vordergrund steht. Entsprechende Forschungsgebiete für die Medizinische Informatik gibt es reichlich [10].
In der Medizinischen Informatik besteht ein ständiges Ringen um hohe Relevanz durch bestmöglich passende Methodik. Dies kann beispielsweise im Rahmen prolektiver Evaluationsstudien erfolgen. Das sind üblicherweise Studien mit Patienten, deren Studienpläne durch Ethikkommissionen unserer Fakultäten geprüft und freigegeben wurden. Insofern sehe ich keine Gegensätze. Wichtig erscheint mir vielmehr darauf zu achten, dass Medizininformatik-Forschung sowohl relevant als auch originell sein sollte. Das ist ein sehr hoher Anspruch.

UH: Als Anwendungsfeld der Informatik in Medizin und Gesundheitswesen ist Medizinische Informatik per definitionem eng verbunden mit ihrem Anwendungsfeld. Hierbei können Forschungsthemen durch die Experten der Domäne Medizin initiiert werden oder aber durch andere Knowhow-Träger, also auch durch Vertreter der Medizinischen Informatik selbst. Dabei ist der Prozess der Kommunikation mit den Anwendern zur Identifikation der Fragestellung sowie der Prozess der Rückspiegelung der Antworten vonseiten der Wissenschaft in die Anwendung kein selbstverständlicher Automatismus, sondern eine geplante Aktivität, die im Sinne der Wissenschaft des Transfers aktiv zu gestalten ist. Das Konzept des „Lernenden Gesundheitssystems“ [11] mit seinem formalisierten Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis und den Feedbackschleifen zur Schaffung von praxisbasierter Evidenz ist ein Beispiel eines solchen Transfermechanismus. Er beruht insbesondere auf dem Austausch von Daten und Informationen aus der Praxis, die u.a. mit Methoden der Medizinischen Informatik verarbeitet werden. Dieses Konzept nutzt die Medizinische Informatik in erster Linie als reichen Methodenbaukasten für die Beforschung von Themen aus Medizin und Gesundheitswesen.
In gleicher Art und Weise beforscht die Medizinischen Informatik auch Themen aus der Informatik und Nachbarwissenschaften – also vorrangig ihre eigenen Methoden. Dazu gehören beispielsweise Themen des Informationsmanagements [12], des Requirements Engineering [13], [14], der Qualität und des Nutzens von Informationssystemen z.B. über Evaluationen, Repräsentierung von Wissen, Verbreitung und Akzeptanz von Innovationen [15] und viele weitere Themen. Hier bieten sich Theorien und Modelle der Informatik und weiterer Nachbarwissenschaften an. Sie können dazu beitragen, die eigenen Arbeiten z.B. durch Hypothesenbildung zu leiten oder die eigenen Ergebnisse einem allgemeineren Konzept zuzuordnen, um damit ihre Verallgemeinerbarkeit zu untermauern. Natürlich können die Ergebnisse auch der Theorienbildung dienen, indem sie Theorien stützen oder ihnen widersprechen bzw. zu Modifikationen anregen.
Sich sowohl durch Theorien als auch durch praktische Anforderungen stimulieren zu lassen, ist kein Gegensatz, sondern eine gute Praxis wissenschaftlichen Arbeitens.

FT: Das Selbstverständnis der Wirtschaftsinformatik zeichnet sich durch eine hohe Praxis- und Anwendungsorientierung aus. Als Wirtschaftsinformatiker bin ich sehr häufig in innovative durch Drittmittel finanzierte Konsortial- oder Verbundforschungsprojekte mit zahlreichen Praxispartnern involviert. Hierbei greifen wir konkrete Probleme und Handlungsfelder aus der Praxis auf und suchen dann nach Lösungen durch Konzeption und Entwicklung sozio-technischer Informationssysteme bzw. Prozessverbesserungen. Selten werden dabei ganz neue Theorien entwickelt, sondern vielmehr identifizierte Sachverhalte anhand etablierter Theorien erklärt bzw. allenfalls etablierte Theorien modifiziert und weiterentwickelt. Wir suchen dabei nicht nach praktischen Anwendungsfeldern um existierende Theorien zu überprüfen. Vielmehr lassen wir uns von konkreten Problemstellungen in bestimmten Anwendungsdomänen leiten und dann machen wir uns im Forschungsteam daran, diese zu verstehen und konkrete (Interventions-)Maßnahmen durch Einsatz von sozio-technischen Informationssystemen umzusetzen und zu evaluieren.
Ja, zwischen diesem Ansatz und dem Ansatz „gefundene Theorien auf ihre Gültigkeit zu überprüfen“ sehe ich einen Gegensatz. Beim letzteren Ansatz steht nicht mehr das eigentliche Problem oder konkrete Handlungsfelder in einer Anwendungsdomäne im Fokus. Es ist eher Verhaltensforschung und weniger eine gestaltungsorientierte Herangehensweise, welche bei mir im Fokus steht. Ich möchte konkrete Probleme durch die gestaltungsorientierte Konstruktion von Informationssystemen lösen und diese nicht nur erklären.

BP: Die Anwendungsfelder und damit die Art des Praxisbezugs unterscheiden sich je nach Arbeitsgebiet durch die adressierte Zielgruppe. In der Medizinischen Informatik sind die Zielgruppen für die Anwendung z.B. das medizinische Personal, die Patienten oder das Personal in IT-Abteilungen von Gesundheitsversorgungseinrichtungen. In der Softwareentwicklung ist allgemein zu unterscheiden zwischen den AnwenderInnen der Software auf der einen und den Auftraggebern und EntwicklerInnen auf der anderen Seite. Die Anwendungsdomäne ist oft auch durch spezifische Systemaspekte und spezifische Prozesse charakterisiert, z.B. eingebettete Software, klinische Software.
Der Austausch mit der Praxis folgt in der Softwareentwicklung oft den Prinzipien der „Design Science“ [16], d.h. ausgehend von einem allgemeinen Problem (z.B. schlechte Traceability (Rückverfolgbarkeit) von Anforderungen zu Code) erfolgt zunächst eine detailliertere Untersuchung in einem Unternehmen (meist Interviews), dann die Entwicklung einer Lösung und erste Evaluation (oft durch Rückmeldung zu Ideen, Prototypen).

Für die im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit entstehenden Software-Artefakte (z.B. Werkzeuge zur Verbesserung der Traceability) ist ein wirklicher Einsatz in der Praxis allerdings selten möglich, da sie eher den Charakter von Prototypen haben und nicht produktreif sind.

3.3 Besonderheiten von Medizin und Ökonomie

Ganz offensichtlich ist die Beschreibung, Analyse, Konstruktion und der Betrieb von Informationssystemen keine Besonderheit der Medizin beziehungsweise der Medizinischen Informatik. Allerdings zeigt das Anwendungsgebiet Medizin und Gesundheitswesen Besonderheiten gegenüber anderen Anwendungsgebieten wie z.B. die andauernde, unmittelbare Auseinandersetzung mit und die Verantwortung für Leben und Tod [17], die komplexen Personalstrukturen und die hohe ärztliche Eigenverantwortlichkeit auch in hierarchischen Rollensystemen oder die enorme volkswirtschaftliche Bedeutung der Medizin und des Gesundheitswesens.

AW: Machen aber solche Besonderheiten der Probleme in der medizinischen Versorgung und Forschung besondere Methoden der Informatik zu ihrer Lösung notwendig?

RH: Diese Frage wurde schon häufig diskutiert. Eine kurze Antwort darauf ist meines Erachtens die folgende: Wenn gegebene Methoden der Informatik ausreichen, ein relevantes medizinisches Problem zu lösen, dann sind keine besonderen Methoden nötig. Es hat sich gezeigt, dass Methoden häufig nicht ausreichen und Neu- oder Weiterentwicklungen stattfinden, die dann wiederum die Informatik-Forschung stimulieren können. Ein Beispiel waren die regelbasierten Systeme zur wissensbasierten Diagnose- und Therapieunterstützung in den 1970er Jahren. Zudem passt das jeweils als Informatik-Methoden umgrenzte Methodenspektrum nicht immer auch auf die benötigten Methoden zur Organisation, Repräsentation und Analyse von Daten. Aus sehr guten Gründen hat die GMDS nicht nur einen Fachbereich Medizinische Informatik in ihrer Fachgesellschaft, sondern auch die Fachbereiche Biometrie und Epidemiologie. Eine ausführlichere Antwort von mir hierzu (wie auch zu der Thematik Wissenschaftlichkeit, Originalität und Relevanz in der Medizinischen Informatik) befindet sich neben in [10] auch in [18].

UH: Geht man von den Daten und ihren Quellen in der medizinischen Versorgung und Forschung aus, so muss man festhalten, dass diese sehr unterschiedlich sein können, da sie sowohl auf der zellulären und subzellulären Ebene wie auch auf der Populationsebene, der Organisationsebene und der Ebene des Gesundheitssystems angesiedelt sein können. Dies spricht zumindest für einen Bedarf nach sehr heterogenen Methoden der Informatik. Mit den Daten geht auch Kontextwissen einher (der Daten-Information-Wissen-Komplex [19]), das die Medizinische Informatik nicht vernachlässigen darf, wenn sie die Methoden angemessen einsetzen will. Nur dann kann sie die Ergebnisse richtig interpretieren. Insofern sind es nicht unbedingt eigene oder besondere Methoden der Informatik, sondern eher deren sachgerechte Anwendung in dem Anwendungsfeld. Wenn allerdings diese Anwendungen in einem bisher noch nicht dagewesenen Maße fordernd sind, kann diese Anwendung wiederum Rückwirkungen auf die Entwicklung von neuen Methoden der Informatik und anderer Nachbarwissenschaften besitzen.

AW: Gibt es Besonderheiten der Probleme in Wirtschaftsunternehmen und Verwaltungen, welche in der Wirtschaftsinformatik ganz besondere Methoden der Informatik zu ihrer Lösung notwendig machen?

FT: Man muss berücksichtigen, dass Wirtschaftsunternehmen und Verwaltungen ökonomischen Zwängen unterliegen und somit Lösungen, die eine gewisse Ressourceneffizienz sowie eine gewisse Technologieakzeptanz bzw. Bedürfnisse und Emotionen der Anwender nicht berücksichtigen, langfristig nicht funktionieren werden bzw. sich nicht etablieren werden. Ressourceneffizienz, Technologieakzeptanz, Kosten-Nutzen-Kalküle und die konkreten Bedürfnisse und Anforderungen der Anwender sind daher sehr wichtige Faktoren für die (Weiter-)Entwicklung von Methoden, Vorgehensweisen und anderen (Software-)Artefakten. Insofern sind m.E. Methoden zur Entwicklung von sozio-technischen Informationssystemen wichtig, die Anwenderzentriert sind, die agil sind und die die ökonomischen Nebenbedingungen und Umweltfaktoren im Fokus haben. Aber auch Emotionen und psychologische Faktoren (Digital Nudging) also Anreize für ein bestimmtes Verhalten durch die Software-Ergonomie oder Compliance-by-Design sollten m.E. im Requirements Engineering und bei der Konzeption und Entwicklung von sozio-technischen Informationssystemen besonders beachtet werden.

Im Requirements Engineering werden Methoden und Werkzeuge für die Entwicklung von Software entwickelt. Solche Software könnte in medizinischen Einrichtungen oder in Wirtschaftsunternehmen oder Verwaltungen zum Einsatz kommen.

AW: Sehen Sie Besonderheiten in der Medizin, welche andere Methoden erfordern als solche in der Wirtschaftsinformatik?

BP: Requirements Engineering ist immer kontextspezifisch, d.h. Methoden werden angepasst an Charakteristika wie z.B. besondere Qualitätsanforderungen (Vertraulichkeit, Sicherheit). Dabei müssen auch die Kommunikationsweisen mit den AnwenderInnen angepasst werden. Medizin ist wegen der vielen Beteiligten und gesamtgesellschaftlichen Ziele besonders komplex. Das gab es allerdings in Großprojekten anderer Branchen (z.B. auch Verkehr) schon immer und gilt immer mehr.

Für das Requirements Engineering ist die Unterscheidung wichtig, ob es um die Marktentwicklung von Standardsoftware (getrieben von Herstellern, wie im Automobilbau, aber auch in der Medizin) oder um die Individualentwicklung (spezifisch zugeschnitten auf AnwenderInnen und Prozesse eines Kunden (Firma, Klinik)) geht.

3.4 Theorie und Evidenz

Als Wissenschaften entwickeln alle hier vertretenen Disziplinen Theorien, von denen zu hoffen ist, dass sie Lösungen für bestimmte Problemklassen in Praxis und Anwendung liefern.

AW: Welche Rolle spielt die Theoriefundierung in der Formulierung von Forschungsfragen und welche Rolle spielt eine breite Evaluation einer prototypischen Entwicklung/eines Artefaktes für Ihre Disziplin?

RH: Meine Antworten dazu sind in der vorherigen Antwort enthalten. Sicherlich brauchen wir eine Theoriefundierung (die aber relevant für die Praxis ist). Und natürlich sind auch neben der Methodenentwicklung die empirische Evaluation wie auch die Konstruktion von Werkzeugen von Bedeutung.

UH: Gerade in der empirischen Arbeit, beispielsweise zur Evaluation der Wirkung von Informationssystemen, ist eine Theorieorientierung ein notwendiger Gegenpol zu dem Ozean an Daten. Schließlich gibt es ja einerseits hypothesengeleitetes Arbeiten und andererseits explorative Vorgehensweisen. Beide bereichern das wissenschaftliche Arbeiten.

FT: In der Schwesterdisziplin Information Systems sowie in anglo-amerikanischen hoch gerankten Journals ist die Theoriefundierung in der Formulierung von Forschungsfragen gerade bei den empirischen Analysen schon sehr elementar. Doch auch dort hat unter dem Etikett „Design Science“ der konstruktionsorientierte bzw. gestaltungsorientierte Forschungsansatz in den letzten Jahren eine größere Resonanz erfahren.
In meiner Forschung setze ich mir das Ziel, existierende Theorien für menschliches Verhalten, Verhaltensmuster und soziale Prozesse realitätsnäher weiter zu entwickeln, zu modifizieren (Abwandlung/Einschränkung), um diese für die Praxis auch anwendbarer zu machen und insofern auch die Theorie-Praxis-Schere weiter zu mindern. Im Fokus steht daher die Mensch-Technik-Interaktion, das Sozialverhalten und die Erfahrungen von Akteuren in bzw. mit sozio-technischen Informationssystemen.
Aus meiner Sicht bietet Forschung, die sich allein auf die Analyse der bestehenden Formen der Entwicklung und der Nutzung von sozio-technischen Informationssystemen beschränkt, im Vergleich zu konstruktionsorientierter bzw. gestaltungsorientierter Forschung ein geringeres Potential, innovatives Handeln bzw. Veränderungsprozesse im Sinne einer digitalen Transformation in der Praxis anzuregen.
In der Wirtschaftsinformatik spielt Evaluation aufgrund ihres starken Praxis- und Anwendungsbezugs eine wichtige Rolle. Die Beurteilung von sozio-technischen Informationssystemen in technischer wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht bringt jedoch erhebliche Herausforderungen mit sich. Artefakte in der Wirtschaftsinformatik sind wegen der zunehmenden Vernetzung von Akteursgruppen durch eine erhebliche Komplexität gekennzeichnet, die eine Evaluierung erschwert. Bei einschlägigen Konferenzen hat man bisweilen den Eindruck, dass die Forschung eine „Spielwiese“ für die Schaffung von Artefakten ist, die primär der Befriedigung der Konstrukteure dienen und weniger konkrete reale Probleme von Anwendern lösen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen bzw. Wirkmechanismen von sozio-technischen Informationssystemen oder ein Vergleich mit verwandten Arbeiten bleibt dabei vielfach aus. Insofern ist ein gewisser Enthusiasten-Bias bei der Evaluation der selbst entwickelten (Software-)Artefakte bei vielen Konstrukteuren feststellbar. Wünschenswert wäre daher die (Weiter-)Entwicklung von Regelwerken und Standards zur Evaluation von (Software-)Artefakten.
Bei der Evaluation sollten neben dem direkten Aufwand einer Intervention durch sozio-technische Informationssysteme auch die indirekten Kosten und zusätzlichen Koordinationserfordernissen sowie mögliche negative gesellschaftliche Auswirkungen der Innovation berücksichtigt werden.

BP: Es gibt in der Softwareentwicklung wenig Theorien. Der Gegenstand ändert sich sehr schnell und der Einbezug von Menschen macht generelle Aussagen schwierig. Für einzelne Fragestellungen können Theorien aus anderen Disziplinen (Psychologie, Soziologie) einbezogen werden. Empirische Forschung im Software Engineering dient einerseits dazu, Effekte und Phänomene eines Problems zu verstehen, und andererseits dazu, die Güte der Methoden und Werkzeuge für die Problemlösung zu evaluieren. Die Nutzung empirischer Forschung in der Softwareentwicklung wird insbesondere durch Faktoren wie Langlebigkeit und sehr unterschiedliche Entwicklungskontexte erschwert.
Empirische Forschung in Bezug auf Evolution von Software haben wir in [20] beleuchtet. Sie müsste Modelle bereitstellen, um (a) die Zukunft (in gewissen Grenzen), aufbauend auf Informationen über Vergangenheit und Gegenwart, vorherzusagen und um (b) zukünftige Einflüsse und gute von schlechter Evolution zu unterscheiden, d.h. also Vergangenheit und Gegenwart zu bewerten. Schließlich sind (c) Maßnahmen für gute Evolution zu identifizieren.
Anhand dieser Modelle können neue Ansätze zur Unterstützung der Software-Evolution entwickelt und wissenschaftlich fundiert untersucht werden. Allerdings ist es sehr aufwändig, repräsentative Untersuchungsobjekte zu finden und diese von ihrem Kontext zu trennen.

3.5 Lernende Wissenschaft

Was können Wirtschaftsinformatik und Informatik von Medizinischer Informatik und Medizin lernen – und umgekehrt?

RH: Medizinische Informatik muss wie jede wissenschaftliche Disziplin neugierig sein und bleiben. Der interdisziplinäre Austausch mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist für alle Disziplinen von Bedeutung, natürlich auch für die Medizinische Informatik. Dazu gehört der Austausch mit der Informatik und der Wirtschaftsinformatik. Dazu gehört aber ebenso der Austausch mit zahlreichen anderen Disziplinen.

UH: Der gegenseitige Austausch ist immer stimulierend, um eigene Lücken zu erkennen, aber auch um sich selbst zu vergewissern, dass der eigene Ansatz sinnhaft ist. Insofern ist ein Dialog wie dieser immer anregend. Darüber hinaus ließe sich der Vergleich der beiden Disziplinen beispielsweise aus der Perspektive von einzelnen Studien zu ein und demselben Thema, z.B. Einsatz neuer Technologie wie Virtual Reality Brillen oder Evaluation von entscheidungsunterstützenden Systemen in einem bestimmten klinischen Anwendungsfeld realisieren, um den Blick zu schärfen und damit erneut in den Dialog zu treten. Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik haben sich viel zu sagen. Dafür ist auch sicherzustellen, dass der Wissenskörper des jeweiligen Nachbarfaches berücksichtigt wird, sonst entstehen Parallelwelten der Wissenschaft ohne Kommunikation und Diffusion.

FT: Wirtschaftsinformatiker steigen vielfach in die praktischen Probleme von Akteursgruppen und Organisationen ein und führen sie zu formalen Lösungen. Dazu ist es erforderlich, dass sie sowohl mit Wirtschaftswissenschaftlern als auch mit (Medizin-)Informatikern und anderen Disziplinen fachlich kommunizieren können.
Die Wirtschaftsinformatik kann von anderen Disziplinen lernen, eine noch bessere methodische Basis in der Ausbildung, z.B. durch statistische, empirische Methoden, zu legen und diese dann auch vermehrt in der Forschung und Praxis anzuwenden. Insbesondere im Rahmen der Evaluation von Artefakten (Modellen, Software, Konzepten, Theorien, etc.) sollten derartige Methoden auch vermehrt zum Einsatz kommen und auch gewisse Regelwerke und (methodische) Standards bzw. Vorgehensweisen (weiter-)entwickelt und eingesetzt werden.
Zudem neigt die Wirtschaftsinformatik bisweilen dazu, immer wieder neue Begrifflichkeiten für bewährte Methoden, Konzepte, etc. einzuführen bzw. zu sehr bestimmten Modebegriffen/Modethemen aus der Praxis hinterherzulaufen.
Von der Wirtschaftsinformatik können m.E. andere Disziplinen lernen, indem sie vermehrt Fragestellungen und Probleme aus der Praxis aufnehmen sowie die ökonomische Relevanz von Forschungsfragen noch stärker beachten bzw. bei der Entwicklung von Artefakten berücksichtigen.
Letztendlich sollte man sich m.E. gar nicht zu sehr angleichen. Es geht vielmehr darum, mit Respekt vor den jeweils anderen Disziplinen die Stärken „seiner“ Disziplin weiter auszubauen und durch interdisziplinäre Forschungsarbeit die Stärken der einzelnen Disziplinen zu ergänzen und die Schwächen auszugleichen und das Wissen im Rahmen von interdisziplinären Forschungsformaten (Konferenzen, Publikationsorgane, Fächer übergreifende Lehrformate) zu teilen.

BP: Die Disziplin Informatik ist die Grundlage der Bindestrich-Informatiken. Sie hat einen stärkeren Fokus auf die allgemeinen Prinzipien und Technologien der Informationsverarbeitung. Das Software Engineering fokussiert auf Prinzipien und Technologien für die Entwicklung und Pflege von Software. Von den Bindestrich-Informatiken kommen Erfahrungen aus einem umfassenden Einsatz in einem konkreten Kontext und die daraus folgenden Anforderungen. Aus der Wirtschaftsinformatik können wir über den Kontext der Unternehmen lernen. Aus der Medizin allgemein können wir sicher in Bezug auf empirische Forschung viel lernen. Die medizinische Informatik hat viel Erfahrung im Umgang mit Daten. Der gegenseitige Austausch ist in jedem Fall bereichernd. Die Frage ist allerdings, wie man das gut umsetzen kann. Zum einen brauchen wir (wie bei interdisziplinärem Austausch allgemein) das Bewusstsein, was die andere Disziplin auszeichnet, und eine gemeinsame Sprache. Zum anderen brauchen wir die Zeit, uns mit der anderen Disziplin zu befassen. Die Update-Sessions auf dieser Tagung sind ein gutes Beispiel, wie man wichtige Entwicklungen einer (Teil-)Disziplin für andere aufbereiten kann. Ansonsten bleibt der Austausch dem Zufall überlassen.


Fazit

Zusammenfassend lassen sich die Fragen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Informatik, Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik so beantworten:

1.
Welche grundlegenden Ziele bestimmen die jeweilige wissenschaftliche Arbeit?
InformatikerInnen sollen mit Entwurf, Herstellung, Betrieb und Verwendung von IT-Systemen zur Verbesserung der lokalen und globalen Lebensbedingungen beitragen. Bei der Medizinischen Informatik bedeutet dies, unter anderem mit Informatik-Methoden, zu besserer Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft beizutragen. Wirtschaftsinformatik, Medizinische Informatik und Informatik haben gemeinsam, dass zu diesem Zweck Informatik-Artefakte konstruiert, ihre Einbettung in sozio-technische Systeme untersucht und ihr Nutzen evaluiert werden.
Während sich die Medizinischen Informatik um die Unterstützung der mit Gesundheit und Krankheit befassten Menschen und die Wirtschaftsinformatik um die Unterstützung der wirtschaftenden Bürger als Teil der Volkswirtschaft bemühen, sucht das Software Engineering nach Unterstützung für Software EntwicklerInnen.
2.
Wie ist der Praxisbezug ausgeprägt?
Alle drei Disziplinen haben einen klaren Praxis- und Anwendungsbezug, auch wenn sich Domänen und betrachtete Personengruppen unterscheiden. Dabei ist es erforderlich, sowohl für gegebene Probleme in der Anwendungsdomäne die vorhandenen Methoden auszuwählen und anzuwenden als auch entwickelte Theorien in der Domäne zu validieren. Es ist gute wissenschaftliche Praxis, dies im steten Wechselspiel zu tun. Medizinischer Informatik, Wirtschaftsinformatik und Software Engineering nutzen dafür gleichermaßen den gestaltungsorientierten Ansatz.
3.
Inwieweit sind Besonderheiten von Medizin bzw. Ökonomie prägend für die jeweilige wissenschaftliche Arbeit?
Für keine betrachtete Anwendungsdomäne einschließlich der Medizin ist per se eine spezielle Methode der Informatik erforderlich. Allerdings zeigt sich immer wieder die Notwendigkeit, für bestimmte Probleme adäquate, spezifische Lösungsmethoden zu entwickeln. Die Medizinische Informatik profitiert hier von der Erfahrung mit empirischen Methoden in der Medizin. Die Wirtschaftsinformatik ist besonders durch das Beachten wirtschaftlicher Zwänge und Effizienzüberlegungen geprägt. Angesichts der immer wieder aktuellen gesellschaftlichen Debatten um die Finanzierung des Gesundheitswesens ist dies der Medizinischen Informatik aber auch nicht fremd.
4.
Welche Rolle spielen Theoriefundierung und Evidenz?
Der gestaltungsorientierte Ansatz bzw. die Prinzipien der Design Sciene haben in allen drei Disziplinen eine große Bedeutung. Damit ist untrennbar die Evaluation gestalteter Artefakte und damit die Generierung von Evidenz verbunden. Bei Software muss sich die Evaluation auch auf die Evolution der Software nach der initialen Fertigstellung beziehen. Die Evaluationsergebnisse und die damit verbundenen Erkenntnisse werden Grundlage der Theorie für die Realisierung neuer Artefakte und ggf. ihrer Evolution.
5.
Was können Wirtschaftsinformatik und Informatik von Medizinischer Informatik und Medizin lernen – und umgekehrt?
Medizinische Informatik und Wirtschaftsinformatik müssen wechselseitig neugierig sein. So kann man Methoden kennenlernen, von Erfahrungen profitieren und eigene Ansätze und Positionen kritisch hinterfragen. Dabei geht es nicht um Angleichung, sondern um die wechselseitige Stimulanz durch die je anderen Schwerpunkte und Perspektiven. Die „Mutterdisziplin“ Informatik stellt den „Bindestrich“-Informatiken Methoden zur Verfügung und erhält aus den Anwendungen wertvolle Rückmeldung über die Validität der Methoden. Allerdings benötigt der wechselseitige Austausch aller Disziplinen auch einen systematischen Rahmen; sonst bleibt er dem Zufall überlassen. Das „Lernende Gesundheitssystem“ bietet Ansätze für einen solchen Rahmen.

Diese Arbeit stellt die subjektive Sicht einzelner, vorher ausgewählter ExpertInnen auf die Informatik, Medizinische Informatik und Wirtschaftsinformatik und ihre Zusammenhänge dar. Es zeigte sich, dass bei die Sichtweisen der ExpertInnen durchaus unterschiedlich, aber komplementär und nicht widersprüchlich sind. Es ergaben sich auch keine Widersprüche zu den Aussagen einer vorangegangenen Diskussion zum Selbstverständnis der Wirtschaftsinformatik [3]. Diese Kohärenz der Sichtweisen ist möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass die PodiumsteilnehmerInnen einschließlich des Gesprächsleiters in verschiedenen Konstellationen bereits miteinander zusammengearbeitet und auch gemeinsam publiziert haben.

Es ist nicht auszuschließen, dass andere VertreterInnen der Fächer kontroverse Ansichten vertreten.

Die von den AutorInnen zitierte Literatur dient der weiteren Erläuterung ihrer Aussagen und der Vermeidung von Wiederholungen bereits publizierter Erkenntnisse. Sie liefert keine Evidenz für die Gültigkeit der Aussagen.

Bei aller Begrenztheit der Verallgemeinerbarkeit kann die Arbeit aber dennoch für eine enge Zusammenarbeit von Informatik, Medizinische Informatik und Wirtschaftsinformatik motivieren. Sie ist als Anregung gedacht, die Fächer in ihrer Abgrenzung und ihren Gemeinsamkeiten systematisch zu untersuchen und soll so Brückenbauer sein bei der zunehmend eingeforderten Digitalisierung.


Anmerkung

Diese Arbeit fasst die gleichnamige Podiumsdiskussion der AutorInnen auf der GMDS-Jahrestagung 2018 in Osnabrück zusammen.


Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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