gms | German Medical Science

GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Gruppenarbeit mit Wikis – Hausaufgabenbearbeitung im Propädeutikum des Modellstudiengangs Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover

Group work with wikis – homework in the first academic year in medicine at the Hannover Medical School

Originalarbeit

  • corresponding author Marianne Behrends - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der TU Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover, Deutschland
  • author Jörn Krückeberg - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der TU Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover, Deutschland
  • author Hermann Haller - Klinik für Nieren- und Hochdruckerkrankungen, Medizinische Hochschule Hannover, Deutschland
  • author Herbert K. Matthies - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der TU Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover, Deutschland

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2010;6(2):Doc09

doi: 10.3205/mibe000109, urn:nbn:de:0183-mibe0001098

Published: December 20, 2010

© 2010 Behrends et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution License (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.en). You are free: to Share – to copy, distribute and transmit the work, provided the original author and source are credited.


Zusammenfassung

Wikis bieten für das kollaborative Verfassen von Texten eine einfach zu bedienende Arbeitsumgebung. Die Verwendung von Wikis für die Gruppenarbeit im Rahmen einer Hausaufgabe zu Beginn des Medizinstudiums wird im Beitrag geschildert. Die Evaluationsdaten zeigen dabei, dass Wikis zwar einfach zu bedienen sind, dass die interpersonelle Zusammenarbeit aber der Unterstützung bedarf, um zu Ergebnissen bei der Gruppenarbeit zu gelangen, die für alle Beteiligten befriedigend sind. Das Interesse der Studierenden ebenso wie auch die Fachdiskussionen lassen es dabei notwendig erscheinen, über einen vermehrten Einsatz sogenannter Web 2.0-Software in der Lehre nachzudenken, um den Studierenden zu ermöglichen, die für sie langfristig erforderlichen Erfahrungen und sozialen Kompetenzen damit zu erwerben.

Schlüsselwörter: eLearning, Lernmanagementsysteme, Social Web, Web 2.0, Wiki, medizinische Ausbildung

Abstract

With wikis, an easy to use working environment for collaborative writing can be designed. This paper describes the experience of using wikis for collaborative home work during the first academic year of medicine. The evaluation shows that a wiki in fact is simple to use, but additional support for interpersonal cooperation is necessary in order to organise the collaborative group work in a satisfactory way for all participants. The concerns expressed by the students as well as the discussions among experts seem to necessitate an increased use of so called social software technologies in teaching. This way, the students can gain experiences and social skills that are essential in the long run.

Keywords: e-learning, learning management system, social web, wiki, medical education


Einleitung

Medizinische Problemstellungen stehen in komplexen Zusammenhängen. Ethische und normative Fragen, wie auch soziale und wirtschaftliche Aspekte sind ebenso Teil des ärztlichen Handelns wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse [1]. Dabei geht es in der Medizin jedoch in erster Linie um menschenbezogenes Handeln. Im Curriculum des Modellstudiengangs HannibaL [2], der 2006 an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) etabliert wurde, steht daher der Patient und seine Erkrankungen im Mittelpunkt der Ausbildung. Darüber hinaus wurde der Prozess der Selbstreflexion des eigenen ärztlichen Handelns von Anfang an in das Unterrichtskonzept integriert.

Das Studium der Humanmedizin beginnt in Hannover mit einem mehrwöchigen interdisziplinären Propädeutikum, in dem die Studierenden erste Patientenkontakte erleben und sich mit den verschiedenen Aufgaben- und Verantwortungsgebieten einer ärztlich handelnden Person auseinandersetzen. Durch Vorlesungen, Übungen und in Kursen lernen die Studierenden wöchentlich unterschiedliche Krankheitsbilder kennen und werden so in die klinischen und ambulanten Aspekte der Humanmedizin eingeführt.

Im Wintersemester 2009/2010 sollten die Studierenden des 1. Studienjahres anhand von vier Fallbeschreibungen die ärztliche Rolle in unterschiedlichen historischen und soziokulturellen Zusammenhängen analysieren. Die Fallbeispiele stellten dabei ärztliches Handeln in zum Teil sehr fremdartigen gesellschaftlichen und medizinischen Zusammenhängen dar. Der erste Fall beschrieb den langwierigen Anamnese- und Therapieprozess eines Schamanen in Afrika bei der Behandlung einer Epilepsie, ein anderer Fall war zu Beginn des 11. Jahrhunderts angesiedelt und beschrieb das ärztliche Handeln einer kräuterkundigen Nonne. Die anderen beiden Fallbeispiele stellten dagegen die gegenwärtigen Bedingungen des ärztlichen Alltags in einer Notfallaufnahme und in einer Arztpraxis dar. In allen Fallbeispielen wurde den Studierenden eine teilnehmende Rolle im Geschehen zugewiesen. So wurde z.B. das Zusammentreffen mit dem Medizinmann im Rahmen eines studentischen Austauschsprogramms beschrieben. Der Bezug zum eigenen Selbstverständnis über das ärztliche Handeln sollte durch die persönliche Einbindung erhöht werden.

Die Studierenden erhielten die Aufgabe, in Form einer einwöchigen Hausarbeit schriftlich zu den Fallbeispielen Stellung zu nehmen. Dabei sollten sie sich mit der Rolle des Arztes innerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung auseinandersetzen und der Frage nachgehen, welche Vorstellung des Arztes und der Krankheit jeweils in den Fallbeispielen sichtbar werden. Die Fallbeispiele bildeten so die Grundlage für eine auf das ärztliche Handeln ausgerichtete Selbst- und Weltreflexion der Studierenden.

Die Bearbeitung der Fallbeispiele erfolgte als einwöchige Hausaufgabe, die nicht benotet wurde. Sie konnte in Einzel- oder Gruppenarbeit durchgeführt werden. Für die Gruppenarbeiten sollten die Studierenden je Arbeitsgruppe ein Wiki im Lernmanagementsystem (LMS) ILIAS der MHH nutzen.

Die Wiki-Technologie kann als Werkzeug gesehen werden, mit dem Hypertexte erstellt werden können, die frei und direkt über das Internet editierbar sind [3]. Wikis eignen sich besonders für kollaboratives und reflexives Schreiben, da der Prozess der Textbearbeitung stets protokolliert wird [4]. Als internetbasierte Software für das kollaborative Erstellen von Texten bietet ein Wiki die Möglichkeit, dass verschiedene Personen zeit- und ortsunabhängig zusammenarbeiten. Neben der Grundfunktion der freien Editierbarkeit zeichnen sich Wikis durch eine einfache Bedienung und eine generelle Transparenz über die jeweiligen Versionen und Bearbeitungszustände der Texte durch die verschiedenen Autoren aus. Erst diese Transparenz ermöglicht die unkomplizierte Zusammenarbeit verschiedener gleichberechtigter Personen bei der Erstellung von Texten und dokumentiert gleichsam den Prozess der Texterstellung auch für andere Personen, wie z.B. einer Lehrperson.

Die relativ kurze Bearbeitungszeit der Wikis während der Hausaufgabe im Propädeutikum, die weniger als ein Woche umfasste, legte den Fokus aber weder auf den Erstellungsprozess noch auf die Qualität der Texte. Ziel war es vielmehr, die Studierenden zu einer gemeinsamen Bearbeitung der Hausaufgabe zu motivieren und ihnen dabei die Funktionsweise eines Wikis näherzubringen. Aus mediendidaktischer Sicht stellte sich dabei die Frage, wie die Arbeit mit den Wikis von den Studierenden erlebt wurde und ob die Gruppenbildung in ILIAS gerade für Erstsemester die Möglichkeit bietet, neue Kontakte zu knüpfen.


Material und Methoden

Wikis gehören seit der Version 3.10 zum Funktionsumfang von ILIAS. So können innerhalb des Lernmanagementsystems Wikis als Lernobjekte in ILIAS eingefügt werden. Der Funktionsumfang entspricht dem anderer Wiki-Softwarepakete und umfasst damit auch das Vergleichen von Versionen, das Rückgängigmachen von Änderungen oder die Auflistung der Mitwirkenden.

Seit 2007 erhalten alle Studierenden der MHH zu Beginn ihres Studiums einen Zugang zu dem Lernmanagementsystem ILIAS. ILIAS dient als zentrales Lernportal der MHH, über das sowohl fachliche als auch administrative Inhalte für die Studierenden veröffentlicht werden. In erster Linie nutzen die Studierenden ILIAS in der MHH daher rezipierend. Nur vereinzelt wird ILIAS in Seminaren auch als aktive Arbeitsplattform eingesetzt.

Um die Bearbeitung der Hausaufgaben für die insgesamt 317 Studierenden zu organisieren, wurden 22 Gruppen in ILIAS erstellt. Durch sogenannte Gruppen ist es in ILIAS möglich, Personen, die keine Editierrechte für das Lernmanagementsystem besitzen, für gesonderte Bereiche Schreibrechte einzurichten. So können auch Studierende, die sonst keine Berechtigung haben innerhalb von ILIAS Inhalte zu bearbeiten, an Wikis arbeiten. Die Gruppen zur Hausaufgabenbearbeitung wurden nach berühmten Personen benannt. Anstatt einer ausschließlich numerischen Benennung sollten die Namen zu einer stärkeren Identifizierung der Studierenden mit ihrer Gruppe führen. Innerhalb der Gruppen wurde jeweils ein Wiki mit den Fallbeispielen angelegt. Außerdem wurden einige Unterseiten in jedem Wiki angelegt, auf denen die Studierenden ihre Texte einfügen konnten. Die Wikis für die Hausaufgabe im Propädeutikum waren somit bereits vorstrukturiert und konnten nach dem vorgegebenen Schema von den Studierenden bearbeitet werden. Die Einarbeitung in die Benutzung der Wikis wurde damit sehr niedrigschwellig gehalten, sodass die Studierenden umgehend mit dem Erstellen der Texte beginnen konnten.

Die Studierenden konnten einer der 23 Gruppen beitreten und dann gemeinsam an den Fallbeschreibungen arbeiten. Studierende, die Einzelarbeiten abgeben wollten, konnten diese in ILIAS hochladen. Während der Vorlesung, in der die Hausaufgabe bekannt gegeben wurde, erhielten die Studierenden eine kurze Einführung in die Bearbeitung eines Wikis in ILIAS. Eine Einführung in ILIAS hatten die Studierenden bereits einige Tage vorher erhalten. Die Bearbeitung der Hausaufgabe sollte innerhalb von sechs Tagen erfolgen. Für Rückfragen stand den Studierenden ein Forum in ILIAS zur Verfügung und sie hatten die Möglichkeit, die betreuenden Dozenten per E-Mail zu kontaktieren. Zur Organisation ihrer Zusammenarbeit konnten die Studierenden auch innerhalb ihrer Gruppe ein Forum anlegen oder über ILIAS eine E-Mail an alle Gruppenmitglieder versenden.

Von den 317 Studierenden entschieden sich 272 Studierende dafür, die Bearbeitung der Hausaufgabe in der Gruppe mit einem Wiki durchzuführen. Aufgrund der kurzen Einweisung in die Bedienung der Software, verbunden mit der Erfahrung, dass einige Studierende gerade in den ersten Wochen des Studiums technisch oft noch nicht gut ausgerüstet sind, überraschte das rege Interesse an den Wikis. In einer abschließenden Evaluation wurden die Studierenden darum nach ihren Erfahrungen bei der Hausaufgabenbearbeitung mit den Wikis befragt. Dabei standen Aspekte hinsichtlich der Gruppenbildung, der Organisation der Gruppenarbeit und der inhaltlichen Zusammenarbeit im Vordergrund. Fragen nach der Nutzerfreundlichkeit der Software wurden bewusst ausgeklammert, denn es war nicht das Ziel des Einsatzes, die grundsätzliche Bedienbarkeit von Wikis zu untersuchen. Da in der MHH die Lehrevaluation eine wichtige Rolle spielt und die Befragung der Studierenden bereits einen großen Umfang hat, wurde zudem versucht, die Evaluation des Wiki-Einsatzes auf wenige Fragestellungen zu fokussieren. Bereits die erste Frage differenzierte zwischen Wiki-Nutzern und denjenigen, die ihre Hausaufgabe alleine ohne Wikis bearbeitet hatten. Beide Gruppen wurden dann nach den Gründen für ihre Wahl gefragt. Die Wiki-Nutzer wurden außerdem in weiteren Frageblöcken nach ihren Erfahrungen bei der Gruppenbildung, der Organisation der Gruppendiskussionen und der Zusammenarbeit am Wiki befragt. Die unterschiedlichen Items wurden mit einer fünfstufigen Likert-Skala bewertet werden. Zu jedem Fragenblock gab es außerdem die Möglichkeit der Eingabe von Freitexten. Für die Auswertung der Ergebnisse werden im Folgenden die Votierungen der Zustimmung und der Ablehnung zusammengefasst. Die Befragung wurde online mit dem Umfragetool von ILIAS durchgeführt.


Ergebnisse

Nach etwa einer Woche lagen als Ergebnisse der Hausaufgaben 38 Einzelarbeiten und 23 Wikis mit über 130 DIN A4 Seiten Text vor. Dieser Umfang machte es nicht möglich, allen Studierenden ein detailliertes Feedback in angemessener Zeit zu geben. Nach einer ersten Sichtung der Hausaufgaben wurden darum in der Vorlesung verschiedene Aspekte diskutiert, die das Bild des Arztes und die gesellschaftlichen Vorstellungsbilder von Krankheiten bestimmen. Erfreulich war, dass die Studierenden in ihren Texten sehr differenzierte und vorurteilsfreie Einschätzungen der Fälle vornahmen. Ethische Gesichtspunkte und wirtschaftliche Abhängigkeiten wurden ebenso diskutiert wie die notwendigen ärztlichen Kompetenzen. Unabhängig von den gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen die Fälle verankert waren, erkannten sie die jeweiligen Ausprägungen ärztlicher Tugenden wie Helfen, Sorgen, Forschen, Vertrauen aufbauen sowie die Achtung des Patienten und waren in der Lage, auch in verschiedenen Kontexten ärztliche Kompetenzen, wie Zuhören, Untersuchen, Wissen anwenden und Zusammenhänge erkennen, zu bestimmen. Die teilweise sehr umfangreichen Ausarbeitungen zeugen auch vom Interesse und der Fähigkeit, die Bedingungen des ärztlichen Handelns in unterschiedlichen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontexten komplex und diskursiv zu behandeln.

Die Evaluation fand einige Tage nach dem Abgabetermin für die Hausaufgaben statt. Von den 317 Studierenden, die per E-Mail angeschrieben wurden, haben 155 an der Befragung teilgenommen, von denen wiederum 133 angaben, ein Wiki zur Bearbeitung der Hausaufgabe genutzt zu haben. Studierende, die kein Wiki genutzt haben, gaben als Gründe für ihre Entscheidung vorrangig an, dass sie ihre Hausaufgaben alleine erstellen wollten oder dass ihnen die Arbeit mit dem Wiki zu kompliziert erschien. Den Aussagen, die das Bedürfnis die eigenen Arbeitsergebnisse zu schützen thematisierten, wurde von der Mehrzahl jedoch nicht zugestimmt. Nur vereinzelt (unter 5 von 22) stimmten die Studierenden Aussagen zu, die als Grund für die Arbeit ohne Wikis den Wunsch angaben, eigene Arbeitsergebnisse nicht mit anderen zu teilen oder von anderen bewerten zu lassen.

Als Gründe für die Gruppenarbeit gaben 96 Studierende an, interessiert an der Arbeit mit der Software eines Wikis zu sein. 119 gaben an, sich mit anderen austauschen zu wollen. Noch 82 wollten andere Kommilitonen kennenlernen (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Die Gruppengröße für die Bearbeitung der Hausaufgabe war auf max. 15 Teilnehmer beschränkt, einige Studierende bildeten aber auch kleinere geschlossene Gruppen, in denen sie mit Kommilitonen, die sie bereits kannten, zusammenarbeiteten. Auf Wunsch der Studierenden wurden diese Gruppen dann für andere geschlossen. Nach etwa drei Tagen war die Gruppenzuordnung abgeschlossen und die Studierenden, die ein Wiki bearbeiten wollten, hatten sich auf 23 Gruppen aufgeteilt, wovon 7 Gruppen nur sechs oder weniger Mitglieder enthielten.

Laut den Angaben in der Evaluation erfolgte die Gruppenfindung überwiegend durch persönliche Kontakte. Von den 133 Studierenden, die an der Befragung teilnahmen und Wikis bearbeitet hatten, gaben 92 an, sich gemeinsam mit Kommilitonen in eine Gruppe eingetragen zu haben.

Auch die Gruppendiskussionen zum Thema der Hausarbeit fanden größtenteils bei persönlichen Treffen statt (insgesamt 78 Nennungen). 62 Personen gaben aber auch an, dass sie die Diskussions- und Kommentarfunktion in ILIAS nutzten (Abbildung 2 [Abb. 2]). Diese Ergebnisse korrelieren stark mit den protokollierten Aktivitäten in ILIAS. Auf das Forum zur Bearbeitung der Hausaufgabe gab es 427 Lesezugriffe innerhalb der ersten drei Tage. Etwa 30 E-Mails zur Abstimmung von Terminen oder zur Klärung von Verständnisfragen wurden während der ersten Tage der Bearbeitungszeit innerhalb der ILIAS-Gruppen versendet.

Nur 9 der Befragten stimmten der Aussage zu, durch die Gruppenarbeit neue Kommilitonen kennengelernt zu haben, 90 stimmten dieser Aussage dagegen nicht oder eher nicht zu. Positiv wurde von den Studierenden bewertet, dass die Hausarbeit durch die Wikis flexibel gestaltet werden konnte und dass die Zusammenarbeit unproblematisch war (Abbildung 3 [Abb. 3]).

12 Studierende haben sich auch in den Freitextangaben zu ihren Erfahrungen mit den Wikis geäußert und dabei unterschiedliche Kritikpunkte bei der Arbeit mit Wikis benannt. Aufgrund fehlender Kooperation der anderen Studierenden sahen einige Studierende die Arbeit mit den Wikis als schwierig an, was einige auch auf die mit 15 Teilnehmern zu großen Gruppen zurückführten. Interessant ist, dass einige Studierende auch grundsätzlich mit der Arbeitsweise eines Wikis Probleme hatten und es als wenig erfreulich empfanden, dass ihre Texte von anderen ohne vorherige Absprache geändert wurden. Zwei Studierende halten ein Wiki für diskursive Aufgaben grundsätzlich für ungeeignet, da die für sie notwendige Autorenschaft eines Beitrags im Wiki verloren geht. Sie wünschen sich klarere Regeln bezüglich der Zusammenarbeit und eine eindeutige Zuordnung der Textabschnitte zu einzelnen Personen. Einige Gruppen hatten das Problem der Zuordnung der Texte dadurch versucht zu lösen, dass die Autoren ihren Beitrag zu einem Text kennzeichneten und die anderen Gruppenmitglieder diese Abschnitte nur kommentierten und nicht ohne Rückmeldung editierten.


Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass auch in Zeiten des Social Webs die persönlichen Kontakte für die Studierenden wichtig sind. Die Gruppenfindung und die Organisation der Zusammenarbeit fanden vorrangig außerhalb der Lernplattform ILIAS und der Wikis statt. Die Möglichkeit sich über ILIAS in Gruppen einzutragen, führte auch nur vereinzelt dazu, dass Studierende neue persönliche Kontakte aufbauten und andere Kommilitonen kennenlernten. Dass der Einsatz von Wikis daher eher eine ergänzende Arbeitsform ist und gemeinsame Treffen nicht ersetzt, konnten auch Richter und Ruhl bei der Befragung von Studierenden zur Nutzung von Wikis im sozial- und kulturwissenschaftlichen Studium feststellen [5]. In der Medizinischen Hochschule Hannover wurden, wie die Ergebnisse zeigen, von den Studierenden dennoch auch digitale Kommunikationsformen wie die Kommentarfunktion der Wikis oder E-Mails für Gruppendiskussionen genutzt.

Doch ob nun durch ein Online-Medium vermittelt oder im direkten Austausch, die Kollaboration an gemeinsamen Texten wird nicht von allen Studierenden als Bereicherung erlebt und birgt für sie gewisse Risiken. Die unklare Urheberschaft und den mangelnden Schutz der eigenen Gedanken beschreiben auch Wheeler et al. in der Einschätzung der Studierenden als irritierende Defizite bei der Arbeit mit den Wikis [6]. Die Transformation der klassischen Autorenschaft von der individuellen Urheberschaft hin zu einem Autorenkollektiv ist aber gerade eines der zentralen Merkmale eines Wikis und damit Ausdruck eines sich verändernden Umgangs der Menschen mit Informations- und Kommunikationstechnologien [7]. Der darin angelegte Wandel in der Wertschätzung intellektueller Leistungen, bei dem nicht mehr der individuelle Beitrag, sondern das Ergebnis der Gruppenarbeit im Vordergrund steht, entspricht aber nicht der Praxis und dem Prinzip von Leistungsbewertungen in formalen Lehrkontexten. Diese Ambivalenz muss letztlich auch die Studierenden irritieren. Dennoch lassen die regen Diskussionen zwischen den Studierenden und auch einige Rückmeldungen erkennen, dass ein Austausch von den meisten Studierenden gewünscht ist und als anregend erlebt wird. Dieser Austausch kann auch webbasiert stattfinden, denn weder gab es technische Probleme, noch hatten die Studierenden Berührungsängste mit der Software. Bezüglich der inhaltlichen Zusammenarbeit scheint es aber sinnvoll, genaue Regeln aufzustellen, die als Hilfestellung für die Organisation und zur Strukturierung der Gruppenprozesse dienen können. De Wever et al. [8], [9] beschreiben eine Reihe von Ansätzen und Ideen zur Strukturierung der Zusammenarbeit von Studierenden. Dabei werden den Gruppenmitgliedern durch Rollen bestimmte Funktionen in der Zusammenarbeit zugewiesen. De Wever et al. unterscheiden bei der Gruppenarbeit zwischen: starter, summariser, moderator, theoretician, and source searcher. Die einzelnen Studierenden nehmen dabei abwechselnd aktiv eine Rolle in der Gruppe ein, die sie sonst nur unbewusst ausfüllen würden. Dieses Rollenmodell eignet sich besonders für langfristig angelegte Gruppenarbeiten. Bei einer kurzen Phase der Gruppenarbeit ist es eher notwendig, explizite Regeln für das Verfassen der Texte zu erstellen. Da die Wikis in ILIAS nur eingeschränkte Möglichkeiten eines Rechtemanagements bieten, müssen diese Regeln ein solches ersetzen. So muss in der Gruppe festgelegt werden, wie die Autoren von Texten gekennzeichnet werden und wer das Recht hat, diese zu ändern oder zu kommentieren. Im ersten Schritt würden so alle Gruppenmitglieder ihre Inhalte beitragen. Nach einer Phase der Diskussion und Kommentierung kann die Gruppe dann eine Person wählen, die die sprachliche Überarbeitung der Texte übernimmt. Bei zukünftigen Einsätzen der Wikis sollten die Studierenden darum Hilfestellungen für die Zusammenarbeit in der Gruppe erhalten. Auch die Bereitstellung von ausführlichen Anleitungen zur Nutzung der Wikis in ILIAS erscheint sinnvoll, denn bei dem ersten Einsatz im Propädeutikum nutzten nur wenige Studierenden die hypertextuellen oder multimedialen Gestaltungsmöglichkeiten eines Wikis.

Langfristig interessant ist aber, dass die intensive Arbeit mit ILIAS durch die Bearbeitung der Wikis während der Hausaufgaben bei den Studierenden das Interesse weckte, auch andere Lernaktivitäten mit dem Lernmanagementsystem ILIAS zu gestalten. Als die Studierenden einige Zeit später im Rahmen einer Vorlesung aufgefordert wurden, eine Abstimmung durchzuführen, wandte sich der Jahrgangssprecher an die E-Learning-Beauftragte der Hochschule und bat um Informationen, ob eine solche Umfrage von den Studierenden über ILIAS durchgeführt werden könnte. Den Studierenden wurde daraufhin ein eigener Lernbereich in ILIAS eingerichtet. Dort erstellten die Studierenden in der Folgezeit eigene Umfragen, organisierten Lerngruppen und luden Dateien hoch. Diese sehr schnelle Adaption des Lernmanagementsystems der MHH für eigene Lernzwecke ist besonders erwähnenswert in Hinblick auf eine Langzeituntersuchung von Littlejohn et al. [10]. In einer über vier Jahre angelegten Studie zwischen 2001 und 2004 in Großbritannien über die Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien stellten die Autoren fest, dass Studierende zwar privat diese Technologien nutzen, doch dieser Umstand nicht bedeutet, dass sie diese auch effektiv zur Unterstützung ihres eigenen Lernen einsetzen können. Die Autoren vermuten, dass die Studierenden durch eine private Nutzung keine Vorstellung davon entwickeln, wie internetbasierte Anwendungen formale Lernanforderungen fördern können. Das in der Studie beobachtete Verhalten der Studierenden mag sich in der letzten Jahren zunehmend gewandelt haben, je mehr in den Hochschulen webbasierte Lernangebote zur Verfügung gestellt werden. Nach der Studie von Kleimann et al. gaben 2004 nur 68% der Studierenden an, lehrveranstaltungsbegleitende digitale Medien zu nutzen, 2008 waren es schon 93% [11]. Und immerhin nutzen 59% der Studierenden 2008 internetbasierte Kommunikationsangebote zur Klärung von Fragen für das Selbststudium, 55% zur Prüfungsvorbereitung und noch 49% zum Austausch von Literatur, auch wenn mit 72% die Kommunikation mit Freunden für viele Studierende im Vordergrund steht. Aufgrund verschiedener Studien kommt Schulmeister zum Schluss, dass die Nutzung von sogenannten Web 2.0-Anwendungen, also von internetbasierten Angeboten, die insbesondere der Zusammenarbeit und dem Informationsaustausch in einem Kollektiv dienen, bei den Studierenden eher im privaten Bereich liegt [12]. Damit ein Transfer von der Freizeit auf das Lernen funktionieren kann, fordert Schulmeister, dass Lehrer, Dozenten und Hochschullehrer „ihre Studierenden in die sinnvolle Nutzung von neuen Lern- und Arbeitsmethoden einführen und sie für einen bedeutungsvollen Gebrauch im Lernen motivieren“ [13]. Denn dass die alleinige Kenntnis von Web 2.0-Anwendungen nicht gleichsam bedeutet, dass Studierende diese auch aktiv und nicht nur passiv konsumierend nutzen, darauf verweisen auch die Untersuchungen von Ebner und Schiefner. Aufgrund der Befragung von Studierenden an der TU Graz kommen sie zu dem Schluss, dass es nicht ausreicht, den Studierenden „diese oder jene Web 2.0-Applikation zu empfehlen und darauf zu hoffen, dass diese die Applikation nun partizipativ und hoch elaboriert nutzen“ [14]. Die aktive Nutzung des Lernmanagementsystems ILIAS im eigenen Lernbereich nach Abschluss der Hausaufgabe lässt aber vermuten, dass die Studierenden sehr schnell weitere Lernmöglichkeiten mit internetbasierten Angeboten adaptieren, wenn durch eine betreute Arbeit die ersten Berührungsängste überwunden werden.


Konklusion

Die Kombination von Gruppen in ILIAS mit je einem eigenen Wiki bot technisch eine gute Möglichkeit, in einer großen Kohorte die kollaborative Bearbeitung von Hausaufgaben zu realisieren. Bei der Bedienung des Wikis benötigten die Studierenden nach einer kurzen Einarbeitung kaum Hilfestellungen. Mehr Unterstützungsbedarf scheint es dagegen bei den sozialen Aspekten einer Gruppenarbeit zu geben. Für zukünftige Einsatzbereiche von Wikis für kollaboratives Schreiben sollten daher die gruppendynamischen Prozesse stärker berücksichtigt werden und sowohl die Vorteile als auch die Probleme bei der Zusammenarbeit in den Gruppen Teil des Unterrichtskonzepts sein. Werden Regeln für kollaboratives Lernen und Arbeiten explizit geübt, wird der Einsatz von Wikis und das gemeinsame Schreiben von den Studierenden sicherlich noch positiver bewertet, und kann so zur Basis für den Erwerb von Kompetenzen werden, die notwendig sind für vielfältige Situationen der Zusammenarbeit in Studium und Beruf.

Der Einsatz von Web 2.0-Technologien, die einen partizipierenden Umgang mit Informationen und mit verschiedenen Kommunikationsformen einfordern, sollte in der Hochschullehre weiter ausgebaut werden, um den Studierenden zu ermöglichen, im Konzept ihrer Ausbildung Erfahrungen mit diesen Technologien für zukünftige berufliche und wissenschaftliche Anwendungsbereiche zu sammeln.


Anmerkung

Interessenkonflikte

Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

1.
Fabry G. Medizindidaktik. Ein Handbuch für die Praxis. 1. Aufl. Bern: Verlag Hans Huber; 2008.
2.
MH-Hannover: Modellstudiengang Medizin HannibaL. Hannover: Medizinische Hochschule Hannover; 2010. Available from: http://www.mh-hannover.de/hannibal.html [zitiert am 27. Juni 2010] External link
3.
Kamel Boulos MN, Maramba I, Wheeler S. Wikis, blogs and podcasts: a new generation of Web-based tools for virtual collaborative clinical practice and education. BMC Medical Education. 2006;6:41. DOI: 10.1186/1472-6920-6-41 External link
4.
Döbeli Honegger B. Wiki und die starken Lehrerinnen. In: Friedrich S, Hrsg. Unterrichtskonzepte für informatische Bildung, Lecture Notes in Informatics. Bonn: Deutsche Gesellschaft für Informatik; 2005. pp. 173-83. Available from: http://doebe.li/projects/infos05/doebeli_wiki_infos05_published.pdf External link
5.
Richter U, Ruhl A. Wikis im sozial- und kulturwissenschaftlichen Studium. Szenarien, Nutzungsweisen und Einschätzungen. In: Stegbauer C, Schmidt J, Schönberger K, Hrsg. Wikis: Diskurse, Theorien und Anwendungen. Frankfurt; 2007. (Kommunikation@gesellschaft; 8). Available from: http://www.soz.uni-frankfurt.de/K.G/F3_2007_Richter_Ruhl.pdf External link
6.
Wheeler S, Yeomans P, Wheeler D. The good, the bad and the wiki: Evaluating student-generated content for collaborative learning. Br J Educ Technol. 2008;39(6):987-95. DOI: 10.1111/j.1467-8535.2007.00799.x External link
7.
Iske S, Marotzki W. Wikis: Reflexivität, Prozessualität und Partizipation. In: Bachmair B, Hrsg. Medienbildung in neuen Kulturräumen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2010. pp. 141-51.
8.
De Wever B, Schellens T, Van Keer H, Valcke M. Structuring Asynchronous Discussion Groups by Introducing Roles: Do Students Act in Line with Assigned Roles? Small Group Research. 2008;39(6):770-94. DOI: 10.1177/1046496408323227 External link
9.
De Wever B, Van Keer H, Schellens T, Valcke M. Structuring asynchronous discussion groups: The impact of role support and self-assessment on students' levels of knowledge construction through social negotiation. J Comput Assist Learn. 2009;25:177-88. DOI: 10.1111/j.1365-2729.2008.00292.x External link
10.
Littlejohn A, Margaryan A, Vojt G. Exploring Students' use of ICT and Expectations of Learning Methods. Electron J e-Learning. 2009;8(1):13-20. Available from: www.ejel.org/issue/download.html?idArticle=158
11.
Kleimann B, Özkilic M Göcks M. Studieren im Web 2.0. Studienbezogene Web- und E-Learning-Dienste. Hannover: HIS Hochschul-Informations-System GmbH; 2008. (HISBUS-Kurzinformation; 21). Available from: http://www.his.de/publikation/HISBUS-Kurzinformationen External link
12.
Schulmeister R. Studierende, Internet, E-Learning und Web 2.0. In: Apostolopoulos N, Hoffmann H, Mansmann V, Schwill A, Hrsg. E-Learning 2009: Lernen im digitalen Zeitalter. Münster: Waxmann: 2009. pp. 129-40. (Medien in der Wissenschaft; 51). Available from: http://www.waxmann-verlag.de/fileadmin/media/zusatztexte/2199Volltext.pdf External link
13.
Schulmeister R. Thesen zum Einsatz von Web 2.0 in der Lehre. In: Helbach A, Hrsg. CSP E-Learning ZFH: E-Learning aus Sicht der Studierenden. Befragungen - Statistiken - Thesen, aber auch Konsequenzen? Zürich: Zürcher Fachhochschule; 2009. (E-Learning Dossier; 2009/06). Available from: http://www.elearning.zfh.ch/magazin/dossier/view.cfm?id=63 External link
14.
Ebner M, Schiefner M. Digital native students? - Web 2.0-Nutzung von Studierenden. Tübingen: E-Teaching.org; 2009. Available from: http://www.e teaching.org/praxis/erfahrungsberichte/StudierendeWeb2.pdf External link