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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Oberlandesgericht entscheidet: Medizinisch wissenschaftliche Leitlinien sind nicht justiziabel

Mitteilung

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GMS Mitt AWMF 2019;16:Doc2

doi: 10.3205/awmf000322, urn:nbn:de:0183-awmf0003226

Received: June 6, 2019
Published: June 14, 2019
Published with erratum: July 15, 2019

© 2019 Wienke et al.
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Text

Medizinisch wissenschaftliche Leitlinien sind mittlerweile fester Bestandteil der medizinischen Wissenschaft und des Berufsalltags der Ärzte in Klinik und Praxis. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hatte die AWMF in Vorbereitung für sein Sondergutachten (publiziert 1995) gebeten, die Entwicklung von Standards, Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften voranzutreiben und zu koordinieren. Als erste Zusammenschau publizierte die AWMF im Januar 1995 als Ergebnis einer Umfrage bei ihren Mitgliedsgesellschaften das Memorandum „Prävention, Standards und zukünftige Entwicklungen in den medizinischen Spezialgebieten“. Die Fachgesellschaften in der AWMF haben die Anregungen des Sachverständigenrats aus dessen Sondergutachten aufgegriffen und begannen, Leitlinien zu entwickeln. Bei der ersten Leitlinienkonferenz der AWMF im Oktober 1995 in Hamburg wurde beschlossen, die Leitlinien auch elektronisch über die seit Mitte 1995 betriebene Website der AWMF zu publizieren.

Seit diesen Anfängen sind mittlerweile an die 1000 solcher Leitlinien in fast allen medizinischen Fachgebieten mit unterschiedlichen Evidenzgraden erarbeitet und ständig aktualisiert worden. Diese Leitlinien sollen Ärzte bei der Versorgung spezifischer Gesundheitsprobleme unterstützen, indem sie systematisch aufgearbeitet den jeweils aktuellen und allgemein anerkannten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand wiedergeben.

Und obwohl die Existenz der medizinischen Leitlinien in Ärztekreisen kein Novum ist und regelmäßig neue Leitlinien auf den Weg gebracht werden, wirft der Umgang mit Leitlinien immer wieder neue Fragen auf. Die Diskussion um Inhalte, Bedeutung und Verbindlichkeit der medizinisch wissenschaftlichen Leitlinien hält nun schon seit vielen Jahren an. Auch die Rechtsprechung hat sich verschiedentlich zur rechtlichen Bedeutung und Wirkung medizinisch wissenschaftlicher Leitlinien geäußert. Dabei steht der Gedanke im Vordergrund, dass Leitlinien im richtig verstandenen Sinne Handlungsleitplanken für die jeweiligen Ärzte in der Einzelanwendung sein sollen, von denen man im Einzelfall abweichen kann, ggf. sogar abweichen muss. Leitlinien haben daher weder eine haftungsbegründende noch eine haftungsbefreiende Wirkung. Ungeachtet dessen spielen Leitlinien insbesondere in der Arzthaftung und in entsprechenden gerichtlichen Auseinandersetzungen für die Verfolgung vermeintlicher Schadensersatzansprüche eine zunehmende Rolle.

In seiner Entscheidung vom 29.01.2019 (Az. 4 U 41/18) hat das Kammergericht in Berlin die Gelegenheit wahrgenommen, einige rechtlich relevante Fragen rund um die Erstellung, Handhabung und Verbindlichkeit von Leitlinien zu beantworten. Dabei ging es im Kern um die Frage, ob die am Leitlinienverfahren beteiligten Fachgesellschaften und Patientenorganisationen oder andere außenstehende Dritte einen gerichtlich einklagbaren Anspruch darauf haben, bestimmte Inhalte in eine Leitlinie zu implementieren.

Der Fall

Gegenstand der gerichtlichen Auseinandersetzung war die Leitlinie „Neuroborreliose“, die unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur Überarbeitung anstand. Diese Leitlinie war Bestandteil des von der AWMF unterhaltenen Leitlinienregisters, in dem die Leitlinien für jedermann öffentlich zugänglich zum Abruf bereitgestellt werden. Zur methodischen Unterstützung der verantwortlichen Leitlinienentwickler bei der Erstellung von Leitlinien hat die AWMF ein Regelwerk, das sog. AWMF-Regelwerk Leitlinien, erarbeitet. Es dient zum einen der Sicherstellung und Darlegung der methodischen Qualität der einzelnen Leitlinien und zum anderen der wissenschaftlichen Qualität des AWMF-Leitlinienregisters. Der erste Teil unterstützt mit seinen Ablaufplänen, Hilfen und Werkzeugen in erster Linie die Leitlinienentwickler. Ziel ist es dabei, die Leitlinien der Fachgesellschaften nach einem reproduzierbaren Verfahren mit einem bestmöglichen wissenschaftlichen Anspruch zu erstellen und den Erstellungsprozess transparent zu machen. Der zweite Teil des AWMF Regelwerks Leitlinien beschreibt die Verfahren, die von der AWMF angewandt werden, um das AWMF-Leitlinienregister aktuell und auf einem hohen Qualitätsniveau zu halten.

Im Zuge der Aktualisierung der Leitlinie „Neuroborreliose“ wurde eine Leitliniengruppe von Vertretern verschiedener Verbände eingesetzt. Darunter waren in erster Linie Vertreter verschiedener medizinischer Fachgesellschaften aus dem Kreise der AWMF, aber auch andere nicht in der AWMF organisierte Patientenvereinigungen. Zur Ausarbeitung der aktualisierten Leitlinie fanden mehrere Konsensuskonferenzen statt, in denen die fachlichen Empfehlungen und Feststellungen der überarbeiteten Leitlinie diskutiert wurden. In einer abschließenden Abstimmung sprachen sich vier Mitglieder der Leitliniengruppe gegen mehrheitlich beschlossene Aussagen und Therapieempfehlungen in der neuen Leitlinie aus. Sie erhielten daraufhin die Gelegenheit, Sondervoten einzureichen. Der Leitlinienkoordinator teilte nach wissenschaftlicher Prüfung mit, dass die Sondervoten nicht in den Text der Leitlinie selbst aufgenommen, aber im Leitlinienreport als Dissensbericht veröffentlicht werden könnten.

Zwei der betroffenen Organisationen wollten sich hiermit jedoch nicht zufrieden geben und zogen vor Gericht. Sie machten geltend, einen rechtswirksamen Anspruch auf Aufnahme ihrer Sondervoten in den Text der Leitlinie zu haben. Den Anspruch stützten sie explizit auf das AWMF-Regelwerk Leitlinien. Diesem ließe sich entnehmen, dass im Falle eines begründeten Dissenses prinzipiell die Möglichkeit bestehe, entsprechend angefertigte Sondervoten in den Text der Leitlinie als konkreten Alternativvorschlag aufzunehmen. Die Veröffentlichung der Leitlinie ohne Aufnahme der Sondervoten im Leitlinientext solle gerichtlich untersagt werden.

Doch bereits in erster Instanz vor dem Landgericht Berlin wurde dem Begehren der beiden Organisationen eine Absage erteilt. Auch das Berufungsgericht konnte sich der Auffassung der am Leitlinienverfahren beteiligten Vereinigungen nicht anschließen.

Die Entscheidung

Das Kammergericht bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz und verneinte einen Anspruch der Patientenorganisation auf Aufnahme der Sondervoten in den Leitlinientext.

Das Gericht führte dazu insbesondere aus, dass es bereits an einer subjektiven Anspruchsgrundlage fehle. Ein Anspruch könne zunächst nicht der Vereinssatzung des AWMF entnommen werden, denn die Patientenorganisationen seien keine Mitglieder der AWMF und könnten sich daher nicht auf die Inhalte der Satzung berufen. Die Satzung enthalte indes auch keine Hinweise darauf, dass außerhalb des Vereins stehenden Dritten subjektive Rechte im Verhältnis zur AWMF oder der jeweiligen Fachgesellschaft zuständen.

Ein Anspruch der Patientenorganisation ergebe sich auch nicht aus dem AWMF-Regelwerk Leitlinien. Das Kammergericht bestätigte insoweit die Einschätzung der Vorinstanz, dass sich das Regelwerk primär an die Fachgesellschaften in der AWMF und nicht an Dritte richte. Das gelte auch, wenn diese Dritten bei der Erstellung einer Leitlinie beteiligt seien. Denn die Beteiligung an der Konsensfindung und die Einbeziehung in den Entscheidungsprozess hätten keine Auswirkung auf das Bestehen oder Nichtbestehen subjektiver Rechte Dritter in Bezug auf den Inhalt der zu treffenden Entscheidung. Es sei nicht unüblich, dass Personen und Organisationen in einen Entscheidungsprozess eingebunden seien, ohne später Rechte an dem Ergebnis geltend machen zu können. Daher müsse man sich dem Ergebnis der mehrheitlich erfolgten Abstimmung oder sonst wie getroffenen Entscheidung beugen.

Darüber hinaus nahm das Kammergericht die Gelegenheit wahr, zur rechtlichen Einordnung und Verbindlichkeit der medizinisch wissenschaftlichen Leitlinien und des AWMF-Regelwerks Leitlinien generell Stellung zu nehmen. Das Gericht hielt insoweit daran fest, dass das AWMF-Regelwerk keine rechtsverbindlichen Vorgaben für das bei der Erarbeitung einer Leitlinie zu beachtende Verfahren und die inhaltliche Gestaltung von Leitlinien vorsehe. Das Gericht machte deutlich, dass das AWMF-Regelwerk ein „Instrument der Qualitätssicherung“ darstelle. Es stelle den verantwortlichen Leitlinienentwicklern Ablaufpläne, Hilfen und Werkzeuge zur Verfügung mit dem Ziel, die Leitlinien der Fachgesellschaften mit einem bestmöglichen wissenschaftlichen Anspruch zu erstellen und den Entwicklungsprozess transparent zu machen. Justiziable Regeln zur Leitlinienerstellung seien damit aber ausdrücklich nicht geschaffen.

Fazit

Während sich die Diskussion um medizinisch wissenschaftliche Leitlinien in den letzten Jahren vorrangig um die Frage drehte, welche Rolle Leitlinien im Verhältnis zum medizinischen Standard spielen, zeigt die Entscheidung des KG Berlin neue und weiterführende Aspekte auf.

Bereits 2008 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) mit seinem Urteil vom 28.03.2008 – Az. VI ZR 57/07 klargestellt, dass die Inhalte medizinisch wissenschaftlicher Leitlinien rechtlich unverbindlich seien und Leitlinien zur Beurteilung des medizinischen Standards im Einzelfall ein medizinisches Sachverständigengutachten nicht ersetzen könnten. Leitlinien als solche könnten daher im Einzelfall weder haftungsbegründend noch haftungsbefreiend wirken.

Damit ließ die Rechtsprechung noch Fragen zum Ablauf der Leitlinienerstellung und zum Umgang mit den Inhalten der Leitlinien offen. Mit seiner Entscheidung stellt das Kammergericht nun klar, dass sich der methodische Ablauf der Leitlinienerstellung in der Regel am AWMF-Regelwerk orientiert, dieses jedoch für Einzelne keine gerichtlich einklagbare Ansprüche auf eine bestimmte Gestaltung des Leitlinieninhalts vermittelt. Außerdem wird deutlich, dass das AWMF-Regelwerk auch im Übrigen nicht justiziabel ist.

Die Adressaten medizinisch wissenschaftlicher Leitlinien, insbesondere auch Ärzte und ärztliche Sachverständige, müssen bedenken, dass Leitlinien nur einen zum Zeitpunkt der Erstellung der Leitlinie bestehenden medizinisch wissenschaftlichen Zustand wiederspiegeln. Auch wenn die Leitlinie ihrer Klassifizierung nach einem besonders hohen wissenschaftlichen Standard entspricht, muss stets für jeden Einzelfall geprüft werden, ob die Leitlinie auf den jeweiligen Fall Anwendung finden kann oder ob von den in der Leitlinie empfohlenen diagnostischen oder therapeutischen Verfahren im Einzelfall abgewichen werden muss.

Die bisher zu medizinisch wissenschaftlichen Leitlinien ergangenen gerichtlichen Entscheidungen machen erfreulicher Weise den Weg frei für einen ungehinderten medizinisch wissenschaftlichen Diskurs um aktuelle medizinische Verfahren und Standards. Die Unabhängigkeit der am Leitlinienverfahren beteiligten Wissenschaftler unterstreicht zudem die methodische und fachliche Qualität der Leitlinien und trägt damit gleichzeitig Sorge dafür, dass den anwendenden Ärzten und den behandelten Patienten der jeweils aktuelle und allgemein anerkannte medizinische Standard zur Verfügung steht. In diesem Sinne sollte die Leitlinienentwicklung auch zukünftig von wirtschaftlichen Interessen oder anderen negativen Einflussnahmen freigehalten werden. Insbesondere Arzneimittel- und Medizinproduktehersteller neigen dazu, negative Bewertungen aus wissenschaftlichen Untersuchungen und Studien, die in Leitlinien eingehen, zu verharmlosen oder in sonstiger Weise zu beeinflussen. Gleichzeitig üben sie wirtschaftlichen und psychischen Druck auf Leitliniengruppenmitglieder aus. In manchen gerichtlichen Auseinandersetzungen sind von Arzneimittelherstellern bereits Umsatzausfälle in 7-stelliger Größenordnung behauptet worden, die angeblich auf negative Leitlinienbewertungen zurückzuführen waren. Dass dem einen oder anderen Leitlinienentwickler angesichts solcher Erwartungen die Motivation am wissenschaftlichen Diskurs verlorengeht, ist nachvollziehbar, auch wenn sich solche wirtschaftlichen Szenarien im Nachhinein als unbegründet herausstellen.

Daher muss die Leitlinienentwicklung – wie auch der medizinisch-wissenschaftliche Austausch bei Kongressen und Publikationen – im Sinne der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit nach Artikel 5 Abs. 3 des Grundgesetzes von einseitigen, insbesondere wirtschaftlichen Interessen, unbeeinflusst sein und bleiben. Der Sinn der Leitlinienentwicklung, stets eine hohe Behandlungsqualität im Einzelfall zu gewährleisten, ginge ansonsten verloren. Die bisher in diesem Kontext ergangene Rechtsprechung hat dies erkannt und wird sich auch in Zukunft in diesem Sinne verfestigen.


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