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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Leitlinien - Attraktivität, Implementierung und Evaluation: Bericht von der Arbeitstagung der AWMF und des DNVF am 9.11.2012 in Frankfurt

Mitteilung

GMS Mitt AWMF 2013;10:Doc2

doi: 10.3205/awmf000275, urn:nbn:de:0183-awmf0002756

Received: February 12, 2013
Published: February 18, 2013

© 2013 Nothacker et al.
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Zusammenfassung

Grundlagen und Bedingungen für Leitlinienimplementierung und –evaluation aufzuzeigen war Gegenstand einer gemeinsamen Arbeitstagung von AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) und DNVF (Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e.V.). Der folgende Bericht gibt Inhalte und Diskussionen der Arbeitstagung wieder und beschreibt Vorschläge für zukünftige Aktivitäten. Die Arbeitstagung verdeutlichte die Erfordernis von übergreifenden Rahmenkonzepten, theoriegeleiteter Forschung und gemeinsamen Strategien. Dabei ist der Ausbau strategischer Partnerschaften der für die Gesundheitsversorgung verantwortlichen Organisationen unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Leitlinienimplementierung und -evaluation.

Schlagworte: Leitlinie, Implementierung, Evaluation, Versorgungsforschung, Rahmenkonzept


Text

Im Unterschied zu systematischen Erhebungen aus anderen Ländern [1];[2] liegen für Deutschland nur wenige Daten zur Leitlinienanwendung vor. Grundlagen und Bedingungen für Leitlinienimplementierung und -evaluation waren deshalb Gegenstand einer gemeinsamen Arbeitstagung von AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) und DNVF (Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung) am 9. November 2012.

Ziel der Arbeitstagung war, die konzeptionell erforderlichen Komponenten für eine erfolgreiche Leitlinienimplementierung und -evaluierung aufzuzeigen und im Hinblick auf eine mögliche gemeinsame Strategieentwicklung zu diskutieren.

Das Produkt Leitlinien - strukturelle Voraussetzungen für die Leitlinienimplementierung [3]
  • Leitlinienanwendung gelingt, wenn Strukturen vorhanden sind oder geschaffen werden, die die Implementierung durchsetzbar und vergleichbar machen. Dies zeigt die Umsetzung der Therapieempfehlungen der S3-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms in fast gleichzeitig zur Leitlinienentwicklung eingerichteten Brustkrebszentren, deren strukturelle Voraussetzungen mittlerweile deutschlandweit gelten. Aufgrund der Anforderungen an die Zertifizierung von Brustkrebszentren wurde eine Datenerfassung eingeführt, die die Auswertung leitlinienkonformer Therapien ermöglichte. Die Ergebnisse der BMBF-geförderten Fall-Kontroll-Studie BRENDA zeigen Hinweise auf eine positive Korrelation von Leitlinienkonformität und Überleben [3]. Forschungsbedarf zeigte sich im Bereich der Messung der Leitlinienkonformität und der Arzt-Patientenkommunikation.
    Ein weiteres Beispiel einer Nutzung von Zertifizierungsstrukturen für die Implementierung ist die S3-Leitlinie zu Akutschmerz [4].
  • Ein Diskussionspunkt im Zusammenhang mit dem Messen von Leitlinienkonformität war die Wertung von „Shared Decision Making“ bzw. von Patientenpräferenzen, die zu anderen Therapieentscheidungen führen können als die von der Leitlinie empfohlenen. Abweichende Therapieentscheidungen werden bekanntermaßen auch durch weitere individuelle Faktoren - wie Komorbidität und Alter - bedingt, die bisher in Leitlinien wenig abgebildet sind. Leitlinienkonformität als Maß für eine gelungene Umsetzung zu nutzen stößt hierdurch an Grenzen.
  • Die Integration der Analyse von Versorgungs- bzw. Versorgungsforschungsdaten in die Leitlinienarbeit erscheint erforderlich, um unterstützend aufzuzeigen, wo Leitlinienempfehlungen an individuelle Faktoren angepasst werden müssen.
  • Hinsichtlich der erforderlichen Implementierungsstrukturen bestehen bei verschiedenen Krankheitsbildern je nach spezifischem Setting, in dem Diagnostik und Behandlung stattfinden, ganz unterschiedliche Herausforderungen (z.B. nicht gut definiertes Krankheitsbild, keine ausreichende Erhebung von Behandlungsdaten), für die Lösungsansätze gefunden werden müssen. Gemeinsames Ziel ist das Etablieren einer Lernschleife von „Effectiveness“- Forschung und Weiterentwicklung der Leitlinien.
Was macht Leitlinien attraktiv für die Implementierung [6]
  • Ärzte präferieren einerseits kurze Leitlinien, in der relevante Inhalte auf einen Blick zu finden sind. Andererseits besteht der Wunsch nach Leitlinienformaten, die zur vertiefenden Auseinandersetzung mit vorhandener Evidenz genutzt werden können (z.B. zur Fortbildung).
  • Attraktiv werden Leitlinien für den Anwender darüber hinaus, wenn die Leitlinie als nützlich in der täglichen Praxis, bei Umgang mit Unsicherheit und hilfreich für Patienten beurteilt wird. Dabei spielen die Aktualität des Themas und der Evidenzaufbereitung eine wichtige Rolle.
  • Ein Diskussionspunkt war die Erfordernis symptomorientierter Leitlinien insbesondere in der allgemeinmedizinischen Versorgung.
  • Die Anwendung verschiedener Leitlinienformate sollte hinsichtlich Nutzbarkeit und Effekte durch Forschung begleitet werden. Dies gilt insbesondere für das Präsentieren von Leitlinieninhalten in den ‚neuen‘ technischen Medien (Tablets, Smartphones, Mobiles).
Implementierung von Leitlinien als technische und soziale Innovation [7;8]
  • Vor allem die Verbreitung elektronischer Technologien hat das vorher bei den Ärzten beheimatete medizinische Wissen in weiten Teilen frei verfügbar gemacht („E-Scaped Medicine“). Die Öffnung des Wissens geht mit einer veränderten Arzt-Patient-Beziehung einher, bei der der Arzt zum „Experten“ für medizinische Information wird, während der Patient zunehmend die Rolle eines Partners übernimmt („Shared Decision Making“)[[5];[6]. Leitlinienersteller sind aufgefordert, sich die Erkenntnisse zur Beurteilung von (Gesundheits-)Webseiten zu eigen zu machen und für die „Marke Leitlinie“ seriöse, Vertrauen schaffende Produkte zu präsentieren [7];[8];[9].
  • Eine Konsequenz des öffentlich gewordenen medizinischen Wissens ist, dass Bürgerversionen oder Evidenzbasierte Patienteninformationen als ebenso wichtig zu werten sind wie Leitlinienversionen für professionelle Anwender. Bürgerversionen werden in Deutschland bereits von einer Reihe vertrauenswürdiger Anbieter entwickelt. Die Entwicklung der laienverständlichen Produkte muss ebenso klaren Regeln folgen wie bei den Leitlinien für die Anwender. Entsprechende Anforderungen wurden formuliert [10]. Um widersprüchliche oder redundante Informationen zu einem Thema zu vermeiden, sollten die Entwickler ihre Aktivitäten koordinieren.
  • Zur schnellen Verfügbarkeit der Leitlinienempfehlungen für die Anwender können softwarebasierte Systeme für die Entscheidungsunterstützung (Decision Support Systeme, DSS) beitragen. Studien dazu zeigen mehrheitlich positive Ergebnisse v.a. für Disease Management Programme, Einzelmedikation und präventive Maßnahmen [11]. Voraussetzung sind spezifische Empfehlungen („what, who, when, where, and how“). Zu prüfen ist, ob Leitliniengruppen die Rolle des für Decision Support Systeme erforderlichen „Wissens-Editors“ übernehmen können und ob die Erarbeitung von Erinnerungshilfen und Warnhinweisen bereits im Rahmen der Leitlinienentwicklung erfolgen kann. In diesem Zusammenhang wurde auf bereits erarbeitete Materialien zur Entwicklung von Behandlungspfaden hingewiesen [12].
Implementierungsstrategien – psychologische Effekte mitbedenken [17]
  • Sozialpsychologisches Wissen ist für eine erfolgreiche Leitlinienimplementierung unerlässlich (Kernfragen: „Unter welchen Bedingungen führen Einstellungen/Normen zu tatsächlichem Verhalten und welche psychologischen Effekte können eine Implementierung behindern)“. Aus der Fülle sozialpsychologischer Theorien zeigen die Modelle von Fishbein/Ajzen [13] sowie von Caciopoppo/Petty [14] Bedingungen für Verhaltens- bzw. Einstellungsänderungen auf.
    Fishbein/Ajzen nennen als Voraussetzungen für Verhaltensänderung bei entsprechend starker Intention: Einstellung, Vereinbarkeit mit subjektiven Normen (was sagen die anderen) und direkt wahrgenommene Verhaltenskontrolle.
    Petty/Caciopoppo weisen neben der „zentralen Route“ (systematische Verarbeitung) auf die „periphere Route“(heuristische Verarbeitung) der Informationsverarbeitung hin, bei der -z.B. unter Zeitdruck oder bei geringem Vorwissen - weniger die inhaltliche Qualität der Argumente als viel mehr Faktoren wie Sympathie oder identifizierte Expertenquelle für die Einstellungsänderung ausschlaggebend sind [15].
    Ein Beibehalten geänderter Einstellungen ist mit „Immunisierung von Einstellungen“ zu erreichen, bei der Pro- und (schwache) Contra-Argumente berücksichtigt werden [16]. Als behindernd sind Phänomene wie Reaktanz [17] oder kognitive Dissonanz [18] zu berücksichtigen.
  • Für die Leitlinienimplementierung wurden vor diesem Hintergrund vor allem drei Quellen fördernder Strategien aufgezeigt:
    • humanistische Führung [19], in Kurzform:
      3 V: Vorbild, Verpflichtung, Verantwortung,
      4 M: Man muss Menschen mögen,
      3 K: Kommunikation, Kooperation, Kompetenz
    • „Kulturen für ein Center of Excellence“ [20]
      Von diesen können neben der Implementierungskultur besonders Kundenorientierung, Benchmark-Kultur und Eigentümerorientierung bedeutsam sein. Die Implementierungskultur würdigt Implementierung als Chefsache mit klaren Zuständigkeiten und Terminabsprachen im Team; Erfolge werden sichtbar gemacht. Wesentlich ist eine offene Kommunikation im Sinne des kritischen Rationalismus (Sir Karl Popper), bei der Argumente zählen und nicht dogmatisch vorgegangen wird.
    • Multiplikatorenmodell
      Das Multiplikatorenmodell geht von ca. 20% potentiellen Multiplikatoren bei ca. 60% indifferenten Personen und 20% „Bedenkenträgern“ aus. Entscheidend ist, die Multiplikatoren zu identifizieren und zu fördern, um gemeinsam mit ihnen indifferente Personen einzubinden und „Blockierer“ möglichst zu neutralisieren. Zur Erreichung aller Zielgruppen ist es hilfreich, diese explizit zu benennen („stakeholder map“) [21].
  • Es wurde diskutiert, ob Forschungsprojekte sinnvoll sind, die Implementierungskonzepte einzelner Fachgesellschaften evaluieren und deren mögliche Übertragung auf andere Fachgesellschaften prüfen. Ein weiterer diskutierter Vorschlag war die Einführung eines Benchmarkings für Implementierungsstrategien.
Evaluierung von Leitlinien - woran machen wir den Erfolg von Leitlinien fest? [26-28]
  • Messen von Leitlinienkonformität bedeutet die Erhebung der Konformität mit einzelnen Leitlinienempfehlungen. Wie oben ausgeführt, unterliegt die Entscheidung zur Konformität individuellen Faktoren, die zu explorieren und zu analysieren sind. Als Auswahlkriterium qualitätsindikator-geeigneter Empfehlungen wird neben dem Potential für Versorgungsverbesserung und hoher Konsensstärke ein starker Empfehlungsgrad als ebenso geeignet eingeschätzt wie das Vorliegen hochwertiger Evidenz allein, da diese nur für wenige Aspekte vorliegt. Neben Empfehlungen, die vor allem prozessorientiert sind, sollten auch in der Leitlinie benannte patientenrelevante Qualitätsziele berücksichtigt werden.
  • Die Theorieleitung bisheriger Leitlinienevaluationsprojekte ist noch wenig überzeugend [1]. Es besteht Bedarf an einem übergreifenden Rahmenkonzept, das die Identifikation relevanter Einflussfaktoren auf den Zusammenhang zwischen Prozess und Outcome ermöglicht. Die Notwendigkeit einer besseren theoretischen Fundierung besteht für die prozessbezogene Auswertung (formative Evaluation), aber auch für die Beurteilung des Nutzens einer Leitlinie insgesamt (summative Evaluation), also die Einschätzung der Inhaltsvalidität und des Verbesserungspotentials (Ebenen der Effektmessung nach [22]). Es fehlt bisher ein Goldstandard für die Beurteilung der Messgrößen selbst.
  • Im Zusammenhang mit Evaluationsstudien bzw. –erhebungen darf die „Diagnostik“ im Hinblick auf die Implementierbarkeit der Leitlinie, Barrieren der Leitlinienanwendung, eingesetzte Implementierungsstrategien, Akzeptanz und herrschende Rahmenbedingungen nicht außer Acht gelassen werden [23].
  • Für die Evaluation geeignete Studienformen sind abhängig von der Fragestellung und reichen von cluster-randomisierten kontrollierten Studien zum Nachweis des Effekts einer Implementierungsmaßnahme bis zu qualitativen Studien z. B. zur Erhebung von Barrieren. Weitere mögliche Designs sind Vorher/Nachher-Kohortenstudien, Fall-Kontrollstudien und Querschnitts- bzw. Registerstudien. Dabei sind vermehrt Informationen zu Subgruppen, bei denen die Implementierung gelingt bzw. nicht gelingt, erforderlich.
  • Bei der Analyse zeitlicher Verläufe, für die sich bei fehlenden Kontrollgruppen insbesondere auch die Methode des unterbrochenen Zeitreihendesigns („interrupted time series“) eignet, sollten auch leitlinienunabhängige Einflussfaktoren für Veränderungen berücksichtigt werden.
  • Endpunkte für die Evaluation können neben den direkt patientenbezogenen Endpunkten Morbidität, Mortalität, Lebensqualität und Gesundheitsverhalten auch die anteilig gemessene Inanspruchnahme bzw. der Zugang zu einer Maßnahme und die Qualität der Versorgung als Grad der Umsetzung von Leitlinienempfehlungen sein (nach [24]). Die zugrunde liegende Qualität der Leitlinienempfehlungen kann mit den verfügbaren Instrumenten methodisch, aber nicht inhaltlich überprüft werden.
  • Eine erfolgreiche „schließende“ Evaluation erfordert neben Studien nachhaltige, von Vernetzung getragene Strukturen, um die Datenerhebung und die entsprechenden Daten(rück-)flüsse an Versorger und Leitliniengruppen dauerhaft zu ermöglichen. Dafür gilt es, geeignete Datenquellen zu identifizieren und zu erschließen (z.B. Daten der gesetzlichen Krankenversicherung/Datenzugang nach SGB V, §303a-f [25]). Routinedaten scheinen bisher nur für wenige Evaluationen, z.B. für die Überprüfung von Arzneimittelverordnungen, geeignet.
  • Diskutiert wurde, inwieweit immer randomisierte kontrollierte Studien zum Nachweis einer Kausalität erforderlich sind oder ob auch andere Studientypen zum Nachweis von Veränderungen ausreichen.
  • Ein weiterer Diskussionspunkt war der Aufbau eines Evaluationsrahmenprogramms für Leitlinien.
Fazit und Ausblick

Es besteht ein Bedarf an einer verbesserten Theorieleitung sowohl für die Leitlinienimplementierung als auch für die Evaluation der Leitlinieneffekte. Hierfür sollten übergreifende Rahmenkonzepte entwickelt und angewandt werden, die die Identifikation relevanter Einflussfaktoren auf den Zusammenhang zwischen Prozess und Ergebnis ermöglichen. Dabei kann zwischen der Implementierbarkeit von Leitlinien und der Implementierung und Evaluierung unterschieden werden. Im Folgenden werden für diese Aspekte Komponenten aufgezeigt, die für eine Strategieentwicklung zu diskutieren sind.

1. Förderung der Implementierbarkeit von Leitlinien

durch:

  • Aktuelle Leitlinien (Thema, Evidenz), im Format kurz, prägnant, in der Praxis hilfreich, aber auch Leitlinienformate, die für intensivere Auseinandersetzung mit der vorliegenden Evidenz (z.B. für Fortbildungen) genutzt werden können.
  • „Diagnostik“ bzw. Analyse notwendiger Abweichungen von Leitlinienempfehlungen, zur Ermöglichung einer Individualisierung von Leitlinienempfehlungen.
  • Formulieren spezifischer Empfehlungen, die in Decision Support Systeme am Arbeitsplatz eingebracht werden können
  • Benennen von Qualitätszielen, die neben gut begründeten starken Empfehlungen als Grundlage von Messgrößen dienen können
  • Herstellung von Vertrauen schaffenden elektronisch abrufbaren Produkten unter Beachtung von Kriterien guter Webseiten, deren Nutzung und Effekte durch entsprechende Forschung begleitet werden.
  • Erstellen von qualitativ hochwertigen Bürger-/Patientenversionen. Aufforderung der Entwickler vertrauenswürdiger Bürger-/Patienteninformationen, ihre Aktivitäten zu koordinieren.

Für die Aktualität, die Leitlinienformate und die Verbreitung auch elektronischer Produkte sind in erster Linie die Fachgesellschaften sowie die AWMF mit ihrem Qualitätsmanagement für das Leitlinienregister zuständig.

2. Förderung der Implementierung und Evaluation von Leitlinien

Implementierung und Evaluation sind komplexe Aktivitäten, die strategische Partnerschaften erfordern, die von Leitliniengruppen vorbereitet und gefördert werden können. Die Umsetzung muss von den Partnern, die für die Gesundheitsversorgung verantwortlich zeichnen (Gemeinsamer Bundesausschuss, Ärztekammern, Kassenärztlichen Vereinigungen, Krankenhausgesellschaften, Berufsverbände, Patientenvertretungen etc.) mitgetragen werden. Folgende Kernpunkte sollten bei der weiteren Strategiediskussion berücksichtigt werden:

2.1 Förderung der Leitlinienimplementierung:

  • Nutzung bzw. Schaffung von Strukturen, die die Leitlinienanwendung durchsetzbar und vergleichbar machen
  • Integration von Analysen von routinemäßigen Versorgungsdaten und speziell erhobenen Versorgungsforschungsdaten in die Leitlinienarbeit, um unterstützend zu zeigen, wo Leitlinienempfehlungen an individuelle Faktoren angepasst werden müssen, mit dem Ziel des Etablierens einer Lernschleife von „Effectiveness“- Forschung und Weiterentwicklung der Leitlinien.
  • Einbinden sozialpsychologischen Wissens zu förderlichen („humanistische Führung“ „Center of Excellence Kulturen“, „Multiplikatorenmodell“) aber auch hinderlichen Faktoren („kognitive Dissonanz“, „Reaktanz“)
  • „Diagnostik“ bzw. Analyse von Implementierungsschritten (Kennen, Verstehen, Wollen, Tun)

Ein „Benchmarking“ von Implementierungsstrategien wird nicht als zielführend eingeschätzt, da davon ausgegangen wird, dass je nach Setting und beteiligten Berufsgruppen ganz unterschiedliche Implementierungskomponenten zur Anwendung kommen müssen.

2.2 Förderung der Leitlinienevaluation

  • Sicherstellung einer neutralen Evaluation unter Eliminierung von Interessenkonflikten
  • Beurteilung der Leitlinienkonformität anhand starker Empfehlungen und Qualitätszielen mit geeigneten Studienformen, die abhängig von der Fragestellung zu wählen sind (Cluster-randomisierte kontrollierte Studien, Vorher/Nachher-Kohortenstudien, Fall-Kontroll-Studien, „Interrupted time series analysis“, Querschnittsstudien, Registerstudien).
  • Nachhaltige, von Vernetzung getragene Evaluierungsstrukturen, um die Datenerhebung und die entsprechenden Daten(rück-)flüsse an Versorger und Leitliniengruppen dauerhaft zu ermöglich.
  • Identifikation von „Best Practice“- Beispielen, Initiierung von Pilotprojekten
3. Offene Fragen- Forschungsdesiderate

Die Arbeitstagung von AWMF und DNVF hat erwartungsgemäß mehr Wissenslücken aufgeworfen als geschlossen. Für ein erforderliches Forschungsprogramm zu Themen der Leitlinienimplementierung und –evaluierung bedarf es Förderorganisationen, die bereit sind, ein entsprechendes kostenträger- und sektorenübergreifendes, theoriegeleitetes Förderprogramm über mindestens fünf Jahre zu unterstützen. Die Fachgesellschaften der AWMF tragen heute schon die steigenden Kosten für die Entwicklung qualitativ hoch stehender Leitlinien, von denen das Gesundheitssystem und die Versorgung der Bürger und Patienten profitieren. Viele der oben aufgezählten offenen Fragen und Verbesserungspotenziale könnten direkt in das zu erarbeitende Förder- und Forschungsprogramm übernommen werden.

Wir danken den Referentinnen und Referenten:

Prof. N. Donner-Banzhoff, Institut für Allgemeinmedizin, Universität Marburg

Prof. P. Fischer, Institut für Psychologie, Universität Regensburg

Prof. I. Kopp, AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement, Universität Marburg

Prof. R. Kreienberg, Vorsitzender der AWMF-Leitlinienkommission, Landshut

Prof. M. Scherer, Institut für Allgemeinmedizin, Universität Hamburg

Dr. I. Schubert, PMV-Forschungsgruppe, Universität Köln

Dipl.-Soz. U. Siering, IQWIG, Köln

Prof. J. Wyatt, Dir. emer. „Institute for Digital Health Care“, Leeds, UK


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siehe Vortrag von Kreienberg R: "Zielhorizont von Leitlinien, was können sie leisten?" http://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012_AWMF_DNVF/AWMF-DNVF-WS_2012_Kreienberg.pdf [Zugriff am 20.11.12] und Vortrag von Scherer M: "Attraktivität von Leitlinien - was macht sie aus?" External link
27.
siehe auch: Gagliardi AR, Brouwers MC, Palda VA, Lemieux-Charles L, Grimshaw JM. How can we improve guideline use? A conceptual framework of implementability. Implement Sci. 2011 Mar 22;6:26.
28.
Siehe Vortrag von Donner-Banzhoff N: "E-Scaped Medicine: Wo bleibt die gute alte Leitlinie?" http://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012_AWMF_DNVF/AWMF-DNVF-WS_2012_Donner-Banzhoff.pdf [Zugriff am 20.11.2012] External link
29.
Siehe Vortrag Fischer P Theorien zur Implementierung - was können wir von der Sozialpsychologie lernen?" http://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012_AWMF_DNVF/AWMF-DNVF-WS_2012_Fischer.pdf [Zugriff am 23.11.2012] External link
30.
Siehe Vortrag Kopp I: "Messen von Leitlinienkonformität - was bedeutet das?" http://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012_AWMF_DNVF/AWMF-DNVF-WS_2012_Kopp.pdf [Zugriff am 23.11.2012] External link
31.
Siehe Vortrag Schubert I: "Implementierung von Leitlinien: Ansätze zur Evaluation" http://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012_AWMF_DNVF/AWMF-DNVF-WS_2012_Schubert.pdf [Zugriff am 23.11.2012] External link
32.
Siehe Vortrag Siering U: "Effekte von Leitlinien - wie können wir sie bewerten? "http://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012_AWMF_DNVF/AWMF-DNVF-WS_2012_Siering.pdf [Zugriff am 23.11.2012] External link