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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Hochschulambulanzen können ihr Leistungsspektrum ausweiten: Sozialgericht stärkt die verfassungsrechtlich garantierte Wissenschaftsfreiheit von Hochschulambulanzen

Mitteilung

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GMS Mitt AWMF 2011;8:Doc19

doi: 10.3205/awmf000235, urn:nbn:de:0183-awmf0002359

Received: July 5, 2011
Published: July 5, 2011

© 2011 Wienke.
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Zusammenfassung

Mit seinem soeben veröffentlichten Urteil vom 05. 11. 2010 hat das Sozialgericht Aachen erstmals eine Lanze für die Steigerung des Leistungsumfanges einer Hochschulambulanz gebrochen. Insbesondere seien Fallzahlbegrenzungen unwirksam, wenn die Ausübung der ambulanten universitären Forschung damit nicht mehr in ausreichendem Maße sichergestellt werden könne. Die Hochschulambulanz eines Universitätsklinikums habe daher einen verfassungsrechtlich garantierten Anspruch darauf, dass die vom Zulassungsausschuss erteilten Ermächtigungen so zu gestalten sind, dass die jeweilige Hochschulambulanz die ambulante ärztliche Behandlung der gesetzlich krankenversicherten Patienten in dem für Forschung und Lehre erforderlichen Umfange durchführen könne.


Text

Nach § 117 Abs. 1 SGB V ist der Zulassungsausschuss verpflichtet, auf Verlangen von Hochschulen bzw. Hochschulkliniken die Ambulanzen, Institute und Abteilungen der Hochschulkliniken (Hochschulambulanzen) zur ambulanten ärztlichen Behandlung der Versicherten zu ermächtigen. Die Ermächtigung ist so zu gestalten, dass die jeweiligen Hochschulambulanzen die Untersuchung und Behandlung der Versicherten in dem für Forschung und Lehre erforderlichen Umfang durchführen können.

Ausgehend von dieser Ermächtigungsgrundlage wird der Umfang der Teilnahme von Hochschulambulanzen an der vertragsärztlichen Versorgung - von wenigen Ausnahmen abgesehen - regelmäßig mit Fallzahlbegrenzungen versehen. Dies führt bei den meisten Hochschulambulanzen dazu, dass mit den vereinbarten Vergütungspauschalen ein wirtschaftlich rentabler Betrieb von Hochschulambulanzen regelmäßig nicht zu gewährleisten ist. Manches Universitätsklinikum hat aus diesem Grunde einen Zugang zur ambulanten Behandlung von gesetzlich krankenversicherten Patienten über die ambulante Behandlung im Krankenhaus nach § 116 b SGB V oder über die Einrichtung von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) gesucht.

Bei Anwendung der vom Sozialgericht aufgestellten Grundsätze dürfte es für Hochschulklinika zukünftig im Rahmen der Ermächtigungsverfahren möglich sein, einen gesteigerten Bedarf darzulegen und einen entsprechend gesteigerten Umfang der Hochschulambulanzermächtigung zu beanspruchen.

Zur Entscheidung des Sozialgerichts im Einzelnen:


In dem vom Sozialgericht Aachen entschiedenen Fall hatte der Zulassungsausschuss den Umfang der Ermächtigung einer Hochschulambulanz zur ambulanten ärztlichen Behandlung von gesetzlich krankenversicherten Patienten auf die Behandlung von rund 13.000 Versicherten pro Quartal begrenzt. Im Widerspruchsverfahren hatte das Universitätsklinikum spezifiziert dargelegt, dass die begrenzten Fallzahlen den tatsächlichen Bedarf für Forschung und Lehre nicht mehr widerspiegelten, weil die Forschungsaktivitäten deutlich zugenommen hätten.

1.
In seiner Entscheidung hat das Sozialgericht Aachen nunmehr darauf abgestellt, dass das Universitätsklinikum nachvollziehbar dargelegt habe, dass die durchgeführten Forschungsvorhaben signifikant gestiegen seien. Insbesondere seien zahlreiche Sonderforschungsbereiche eingerichtet worden und die Zahl der Forschungs- bzw. Drittmittelprojekte habe sich deutlich erhöht. Bereits aus diesem Grunde erscheine es für das Sozialgericht nachvollziehbar, dass mit der ausgesprochenen Fallzahlbegrenzung die Ausübung der Forschung nicht mehr in ausreichendem Maße sichergestellt sei.

Nicht nachvollziehbar sei das Argument des Zulassungsausschusses, die Finanzierung von Drittmittelprojekten sei nicht Aufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherung. Auch die Drittmittelforschung unterfalle der Forschungsfreiheit und genieße damit den Schutz des Artikels 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes (GG). Auch die Auffassung des Zulassungsausschusses, es könnten im Rahmen von Institutsermächtigungen erbrachte Leistungen für Forschung und Lehre nutzbar gemacht werden, sei angesichts des hohen Stellenwertes der Wissenschaftsfreiheit nicht haltbar. Nicht das Universitätsklinikum müsse die Ausübung von Forschung und Lehre rechtfertigen, vielmehr bedürften die vom Zulassungsausschuss beabsichtigten Beschränkungen einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. So sei der Zulassungsausschuss selbst verpflichtet, den für Forschung und Lehre erforderlichen Bedarf an Patienten der einzelnen Hochschulkliniken zu erheben. Im Zuge einer solchen Erhebung könne sich der Zulassungsausschuss der Mithilfe des Universitätsklinikums bedienen und könne auf die Ermittlung der Studentenzahlen, die für Forschung und Lehre benötigt würden, abstellen. Im konkreten Fall hätten die Ermittlungen des Universitätsklinikums ergeben, dass an Stelle der vom Zulassungsausschuss zugestandenen rund 13.000 Patienten pro Quartal tatsächlich ein Bedarf von rund 30.000 Patienten pro Quartal bestehe, um Forschung und Lehre sicherzustellen. Hieraus folge, dass die Begrenzung auf 13.000 Fälle pro Quartal für Forschung und Lehre unzureichend sei. Eine endgültige Entscheidung müsse jedoch wegen des dem Zulassungsausschuss verbleibenden Beurteilungsspielraumes diesem überlassen bleiben.
2.
Der Ermächtigungsumfang einer Hochschulambulanz nach § 117 Abs. 1 SGB V ist im Kontext der verfassungsrechtlich garantierten Wissenschaftsfreiheit einer Hochschulambulanz nach Artikel 5 Abs. 3 Satz 1 GG zu beurteilen. Ein Verfassungsrechtsgut, welches - abgesehen von dem Ziel einer bestmöglichen Patientenversorgung - eine Einschränkung dieser Wissenschaftsfreiheit rechtfertigen könnte, ist allein die Berufsfreiheit der niedergelassenen Vertragsärzte nach Artikel 12 Abs. 1 GG. Der Konflikt zwischen diesen kollidierenden Verfassungsrechtsgütern ist im Sinne einer praktischen Konkordanz derart zu lösen, dass alle Rechtsgüter einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren. Im Rahmen der Prüfung dieser Interessenkollision ist der Zulassungsausschluss u. a. verpflichtet, die im Bereich des Universitätsklinikums tätigen niedergelassenen Vertragsärzte zu befragen, ob sie bei unmittelbarem Zugang der Patienten zu den Hochschulambulanzen einen Patientenrückgang o. ä. befürchteten.


Mit der Entscheidung des Sozialgerichts Aachen vom 05. 11. 2010 wird der Rechtsanspruch der Hochschulambulanzen auf eine für Forschung und Lehre ausreichende Ausstattung und ausreichende Finanzierung erheblich gestärkt. Hochschulkliniken können mit der Entscheidung des Sozialgerichts Aachen nunmehr bei der Festlegung des Ermächtigungsumfanges spezifiziert darlegen, welchen Bedarf sie für erforderlich halten, um ihre Aufgaben in Forschung und Lehre angemessen zu erfüllen.

Angesichts der übergeordneten Bedeutung dieser Entscheidung hat der im sozialgerichtlichen Verfahren beklagte Berufungsausschuss gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen Rechtsmittel zum Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen eingelegt. Dort ist das Verfahren derzeit unter dem Aktenzeichen L 11 KA 1/11 noch anhängig. Die Entscheidung des Sozialgerichts Aachen ist daher noch nicht rechtskräftig. Wir werden über den endgültigen Verfahrensausgang berichten.

(Sozialgericht Aachen, Urteil vom 05.11.2010 - S 7 KA 2/08 - nicht rechtskräftig)