gms | German Medical Science

GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Ausgewählte Aspekte des Gutachtens 2007 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen aus ärztlicher Sicht

Mitteilung

Search Medline for

GMS Mitt AWMF 2007;4:Doc32

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/journals/awmf/2007-4/awmf000141.shtml

Received: December 3, 2007
Published: December 7, 2007

© 2007 Fischer.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution License (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.en). You are free: to Share – to copy, distribute and transmit the work, provided the original author and source are credited.


Zusammenfassung

Das Gutachten stellt - und das ist die zentrale These meines Referates - einen Appell dar an die Medizin, eine konzeptionelle Neubesinnung vorzunehmen, die unsere Disziplin nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in ihrer begründenden Vorstellungswelt zukunftsfähig macht.

Was ist das Essentielle und damit das Undelegierbare an Medizin und Arztberuf?

Welche Ziel-, Zweck und Wertbestimmungen haben heute die Kraft, bei unseren jungen Kollegen eine reflektierte, nicht nur adaptierte, Identifikation mit dem Arztberuf zu ermöglichen?


Text

Das Gutachten zeigt einige Wege auf, aber - täuschen wir uns nicht - es lässt auch, wie viele es sehen, eine Schreckensvision erahnen, wenn es uns nicht gelingt, diese Fragen - und zwar bald - schlüssig zu beantworten. Wir würden nichts Geringeres riskieren, als dass Medizin und Arztberuf in einem Mischmasch von Gesundheitsberufen aufgehen, mit einem breiten, für alle gleichen Trunkus einer allgemeinen Poolkompetenz, von dem sich die Medizin dann in ihrem weiteren Ausbildungsweg als der Spezialfall einer vielleicht etwas stärker naturwissenschaftlich geprägten und mit gewissen besonderen Fertigkeiten ausgestatteten Faches abhebt. Der Begriff der „Profession“, an den die Gesellschaft bekanntlich bestimmte Erwartungen, insbesondere Verantwortlichkeit knüpft, wird im Gutachten nur summarisch verwendet. Die Medizin wäre also ein Gesundheitsberuf wie jeder andere. Bewerten wir diese Tatsache, so kommt es nicht auf äußeren Status an. Es geht vielmehr um einen Beruf, der ein Niveau der wissenschaftlichen und dabei auch der medizinethischen, philosophischen Auseinandersetzung rechtfertigt, das den Arztberuf von Platon bis heute geprägt hat.

Vor diesem Hintergrund möchte ich

1.
auf die Ausgangslage für das Gutachten,
2.
die Gesundheitsberufe
3.
Fragen zu deren Ausbildung
4.
Aspekte der Nutzenbewertung namentlich unter dem Gedanken der Angemessenheit eingehen und
5.
versuchen, daraus einige Wegweiser für die o. g. konzeptionelle Arbeit, die vor uns liegt, aufzuzeigen.

1. Ausgangslage

Der Rat sah sich zur Bearbeitung der Fragestellung in etwa vor der folgenden Ausgangslage:

  • Die Politik erwartet von einer Neuordnung der Gesundheitsberufe Einsparungen
  • Die Berufe erwarten durchgängig eine Aufwertung ihrer Tätigkeit, sie wollen mehr Aufgaben übernehmen und streben überwiegend eine Akademisierung an.
  • Die Vorstellungen der Berufsgruppen unterstellen allerdings überwiegend einen Versorgungsbedarf, der einer Ausweitung der derzeitigen Aufwendungen entspricht, sich aber nicht durchgängig wirklich belegen lässt. Dies zeigt nebenbei, dass es einer kontinuierlichen kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept zur Bestimmung des Versorgungsbedarfs bedarf.
  • Es wird also bald eine große Zahl von akademisch gebildeten Vertretern der Gesundheitsberufe - die Vorsitzende des Deutschen Pflegerates spricht vom „schlafenden Löwen“ der Pflege - auf den Markt drängen.
  • Allerdings ist die Studienlage zur Frage, ob und ggf. welche neuen Formen der interprofessionellen Zusammenarbeit sich als effektiv und effizient erwiesen haben, dürftig. Es liegen bisher bei Weitem nicht genug Erkenntnisse vor, die, folgt man etwa den Zulassungskriterien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), neue Aufgabenverteilungen rechtfertigen könnten.

Wie reagiert der Rat?

Es werden allgemeine Zielsetzungen und Grundsätze benannt, an denen eine Neuordnung zu orientieren ist bzw. sich messen lassen muss, wie an:

  • Versorgungsqualität bzw. dem Abbau von Versorgungsdefiziten. Hier z. B. die vom Rat festgestellte Ausrichtung der Versorgung am Zielbild der akuten Krankheit, während chronische multimorbide Leiden dominieren.
  • Gesellschaftlichen technologischen Entwicklungen, hier wäre z. B. die Tendenz zum Selbstmanagement chronischer Krankheiten mit Befreiung vom System und das Zielbild des eigenverantwortlichen Bürgers zu nennen.
  • Als noch ungelöstes Problem stellt sich die Abhängigkeit der Verteilung der Morbiditätslast vom sozio-ökonomischen Status dar.
  • Der Rat empfiehlt einen Stufenplan zur Umsetzung neuer Aufgabenverteilungen: Zunächst sollten Aufgaben delegiert werden, dann deren Übernahme evaluiert, d.h. hinsichtlich der Praktikabilität modellhaft überprüft und erst bei Bewährung eingeführt werden.
  • Es wird darauf hingewiesen, dass generell eine Aufwertung der Humanressource Personal im Gesundheitswesen zu erfolgen hat und als essentieller Bestandteil von clinical governance zu verstehen ist.

Als übergeordnete Trends der Argumente des Rates lässt sich in grober Annäherung feststellen:

  • Die Argumentation folgt dem politischen Trend, wie er vor allem von der Pflege vorgegeben wird.
  • Die Neuordnung der Berufe folgt dem Muster einer Verlagerung ärztlicher Aufgaben auf andere Professionelle.
  • Es erfolgt eine Orientierung an ausländischen Modellen.
  • Die Frage der Kosten wird nicht diskutiert.
  • Die Tendenz geht vom Berufsbezug zum Teambezug.
  • Es wird von Gleichwertigkeit der Partner ausgegangen.
  • Die ärztliche Aufgabe besteht wesentlich in der Indikationsstellung, die Aufgabe anderer Berufe vorrangig in Organisation und zum Teil in der Umsetzung entsprechend resultierender Aufgaben.

2. Gesundheitsberufe

Das Gutachten hebt auf ein neues Teamverständnis in der interprofessionellen Zusammenarbeit ab und identifiziert drei Bereiche, in denen dieses besonders zum Tragen kommen sollte:

  • Das Multiprofessionelle Ambulante Team (MAT)
  • Ein Transsektorales Case-Management, mit Abstimmung der am Patienten orientierten Zielsetzung und entsprechender Behandlungen
  • Das Hochspezialisierte Behandlungsteam im Krankenhaus

Zweifellos sind hier positive Chancen einer sinnvollen Entlastung der Berufe, mit Konzentration auf die jeweiligen wesentlichen Aufgaben, zu sehen.

In diesem Zusammenhang steht z. B. der Vorschlag, den Beruf des Dokumentationsassistenten neu zu beschreiben, aufzuwerten und breitbasig im System einzusetzen.

Im Einzelnen geht es z. B. um eine Modernisierung des Heilkundebegriffs, der Heilkunde nur als gemeinschaftliche Aufgabe definiert und weitere Arbeitselemente wie z. B. Prävention umfassen soll. Empfohlen wird ein Heilberuf-Ausweis, der u. a. den Zugriff auf elektronische Patientendaten gewährt. Hinsichtlich Pflege sollen Pflegekräfte eigenständig den pflegerischen Bedarf einschätzen, Verantwortung für die Durchführung der Pflege tragen und die Überprüfung der Behandlungsergebnisse vornehmen. Pflegebedarfsartikel sollen selbstständig von Pflegekräften verordnet werden, eine Verordnung von Arzneimitteln z. B. zur Wundbehandlung sollte zumindest zeitlich begrenzt erprobt werden. Ebenso wird empfohlen, die Einrichtung von Pflegepraxen (advanced nursing practice) zu erproben.

3. Ausbildung

Das Gutachten enthält die - allerdings wenig argumentativ substantiierte - Empfehlung, dass die medizinischen Fakultäten sich für die Ausbildung aller Gesundheitsberufe zuständig sehen, wozu entsprechende „Professuren“ für die jeweiligen Berufe einzurichten sind. Man mag das als unsachgemäß zurückweisen, man kann darin aber auch eine Chance und Herausforderung sehen. Zumindest zeigt diese Empfehlung, dass es höchste Zeit ist, über die eigene Position und eine gemeinschaftliche Neu-Definition von Medizin nachzudenken.

4. Nutzenbewertung und Angemessenheit

Ein solches Nachdenken findet eine gewisse Nahrung in den Ausführungen des Rates zur Angemessenheit bzw. zu dem Komplex der Nutzenbewertung.

Die Frage nach dem Nutzen medizinischer Maßnahmen ist in ihrer heutigen, auch politischen Ausprägung für die Medizin relativ neu. Bis noch weit in die 70ger Jahre galt bei uns, sofern die Wirksamkeit eines Verfahren bewiesen war, der Nutzen als gleichsam selbst-evident. Dieses Verständnis, das Innovation mit Fortschritt gleichsetzt, reicht heute nicht mehr aus. Vielmehr muss die etablierte Medizin ihre impliziten Begründungsmuster, die sich noch weit überwiegend in der vom pathologischen Befund ausgehenden Indikationsstellung und der qualifizierten Durchführung der Verfahren erschöpfen, grundlegend erweitern. Dieser Prozess ist noch nicht wirklich geleistet.

Dann nämlich würden sich andere Fragen stellen:

Was hat der Hochbetagte, der seine letzten Lebensjahre in der Vollendung seines Lebenswerkes am Schreibtisch verbringt, von einer - elektiv begründeten - Hüftprothese? Unter welchen Voraussetzungen ist es vertretbar, 200 Bürger mit einem bestimmten Medikament zu behandeln, um bei einem von ihnen eine fatale Herz-Kreislauf-Komplikation zu verhindern? Wie viele Rettungshubschrauber werden wirklich benötigt? Kann das breite Angebot eines - nehmen wir an in Deutschland entwickelten - Diagnoseverfahrens den Wirtschaftsstandort Deutschland im Gesundheitswesen aufwerten und damit neue Arbeitsplätze schaffen?

Diese Fragen verdeutlichen: Die Medizin muss heute vor einer breiten Rechtfertigungskulisse bestehen.

Wie also können wir den Nutzen der Medizin so erfassen, gar messen, dass er für Entscheidungen zur Allokation herangezogen werden kann? Wie kann der Nutzen für den individuellen Patienten und als gesellschaftlich akzeptiert und ethisch vertretbar, zudem im Verhältnis zu den dafür aufgewendeten Mitteln am besten erreicht werden?

Hierzu scheint das Konzept der Angemessenheit („Appropriateness“) geeignet. In Anlehnung an eine Definition der WHO[1] ist die Versorgung „angemessen“, „…wenn sie effektiv ist (sich auf valide „Evidenz“ gründet), effizient (kostenwirksam) und mit den ethischen Grundsätzen und Präferenzen der jeweiligen Einzelperson, Gemeinschaften oder der betreffenden Gesellschaft übereinstimmt.“ (WHO, 2000).

Angemessenheit fügt dem Nachweis der Wirksamkeit im Sinne von efficacy den Nutzen aus der Sicht von Patient und Gesellschaft hinzu. Erst wenn beide Kriterien erfüllt sind, besteht ein Bedarf zur Anwendung eines Verfahrens. Angemessenheit setzt den Nachweis, dass ein Verfahren wirksam ist, voraus.

Angemessenheit ermöglicht es also, das Leistungsgeschehen an Maßstäben, die ihm erst seine Legitimation sowie Sinn- und Zweckbestimmung verleihen, zu beschreiben.

Es wird mit den Betrachtungen zur Angemessenheit der Weg zu einer durchaus auch öffentlich geführten Priorisierungsdebatte eröffnet, die in vielen europäischen Ländern längst geübte Praxis ist.

Wir sehen, unsere Medizin, die auf dem rationalen Denkgebäude der Naturwissenschaft gründen muss, erzeugt ihren Nutzen, und erfährt auch ihre Bewertung und Bewährung in einer in großem Umfang von irrationalen Beweggründen geprägten Welt, in der zumindest andere Wertmaßstäbe gelten

Nach Jaspers[2] : „…wo das rationale Weltbild an seine Grenzen stößt…, stellt die Erfahrung des absolut Irrationalen unter den Erlebnissen von Verzweiflung, Schmerz und Angst Fragen, appelliert an subjektive Kräfte unserer Existenz, fordert zu Wagnis und Leben auf.“ Hier ist der eigentliche, d.h. der existenzielle Ort, an dem sich Krankheit abspielt, und hier muss sich Medizin bewähren, wenn sie „nützen“ will.

Das Gutachten fordert also erstmals eine explizite verbindliche Anwendung dieses schon immer für die Medizin gültigen Prinzips, für den Patienten einen erlebten Gesundheitsgewinn zu erzeugen. Erst damit ist der Endpunkt einer medizinischen Intervention erreicht. Im Kontext der Nutzenbewertung begründet diese Forderung die entscheidenden Aufgaben einer Versorgungsforschung.

Sehen wir diese Fragen unter dem Blickwinkel der Verantwortung:

Für den Arzt und je nach Sachlage für das Team erweitert sich die Verantwortung bis hin zum Erreichen des Patientenzieles. Dies kann in der Praxis z. B. bedeuten, vor der medizinisch indizierten Verordnung eines Hörgerätes sicher zu stellen, dass der Patienten auch über die mentalen und psycho-motorischen Voraussetzungen verfügt, das Gerät sachgerecht anzuwenden und vor allem, dass er dazu auch motiviert ist.

Verantwortung erstreckt sich auch darauf, für sich und insbesondere für die Mitarbeiter eine befriedigende Ausübung der Berufe sicherzustellen. In diesem Zusammenhang mag der im Gutachten im Krankenhauskapitel referierte Befund alarmieren, dass rund 40% der befragten Klinikärzte sachfremde Einflussnahmen seitens der Häuser auf ihre medizinische Entscheidung angeben.

Es geht um Mit-Verantwortung gegenüber den Institutionen bzw. den Arbeitsumgebungen etwa der Klinik oder dem Team, die Wirtschaft spricht hier von der Corporate Identity.

Es geht schließlich um Verantwortung gegenüber unserer wissenschaftlichen Medizin.

5. Perspektiven für die Medizin

Wenn angemessene Behandlungen zustande kommen sollen, muss der Patient mit seinen persönlichen Wünschen und Zielen wahrgenommen und beraten werden. Gleichzeitig muss das medizinische Repertoire bereit stehen. Es bedarf deshalb einer Persönlichkeit, die dem Patienten gegenüber für die Angemessenheit und Sicherheit der Leistung steht und einsteht.

Es liegt nahe, schon angesichts der erforderlichen Breite des bereit gehaltenen Wissens, diese Rolle dem Arzt zuzuweisen. Deswegen hüten wir uns vor dem Gedanken, dass die hohe Technik dem Arzt und die „leidigen“ Auseinandersetzungen mit den Patienten oder gar noch seinen Angehörigen anderen zuzuweisen sei.

Allerdings hat die Medizin hier einen Entwicklungsschritt zu leisten: Patienten kommen heute - wie eh und je! - aus der Klinik und wissen nicht, was sie haben, warum dies und jenes und mit welchem Ergebnis durchgeführt wurde. Also begreifen wir endlich, dass die sog. „sprechende Medizin“ von uns allen als immanenter Bestandteil der ärztlichen Tätigkeit auch praktisch verwirklicht werden muss.

Ich sehe gemeinsame Interessen mit anderen Berufsgruppen:

Die durch Weitergabe von Leistungen erhaltenen Freiräume an Zeit sollten wir gemeinsam versuchen, für - hier - Pflege und Arzt zu erhalten. Es ist also der Tendenz entgegenzusteuern, dass bei weniger Aufgaben auch weniger Bezahlung angebracht wäre. Die entstehenden Freiräume sind für die Ausgestaltung der eigentlichen professionellen Aufgaben dringend erforderlich. Dazu gehören z. B. die gemeinsame Entwicklung von individuellen und kollektiven Behandlungszielen, die gemeinsame Ausgestaltung der ambulanten Versorgung je nach regionalen Voraussetzungen, die gemeinsame Identifizierung neuer Versorgungsaufgaben etwa an der Schwelle zur Sozialhilfe. Denken wir hier an sog. sozial schwache Milieus mit vernachlässigten Kindern u. ä.. Schließlich brauchen Professionen überhaupt Freiräume zum Nachdenken und nicht nur Aktionismus. Der eigentliche Wert neuer Aufgabenverteilungen besteht also nicht nur darin, mehr oder anderes als vorher zu tun, sondern auch in der Gewinnung professioneller Reflexionsräume und Gestaltungskapazitäten.

Auch Forschung und Lehre unter der Verantwortung medizinischer Fakultäten können Gewinne für alle Gesundheitsberufe bringen. Interessant sind hier besonders Fragen der Forschung.

Wie unsere Überlegungen zur Angemessenheit gezeigt haben, kommt es bei der Frage der Sinnhaftigkeit einer medizinischen Maßnahme auf kollektiver und individueller Ebene zum Zusammentreffen zweier wissenschaftlicher Welten, nämlich - verkürzt - der Naturwissenschaft und der Sozialwissenschaft. Die Medizin hat darauf bereits gewichtige Antworten hervorgebracht. Sie verbinden sich in der jüngeren Geschichte mit den Namen Victor von Weizsäcker und der Heidelberger Schule, Thure von Üxküll, Heinrich Schipperges, Wieland u. a.. Sie haben durchaus ein hoch attraktives Gedankengut hervorgebracht und zum Verständnis und zu neuen Behandlungswegen von Krankheit beigetragen. Dennoch hat sich daraus bisher weder eine lebendige Versorgungsroutine noch eine Forschung entwickelt, die an dieser theoretischen Schnittstelle überbrückende Lösungen aufzeigt.

Es eröffnen sich also Chancen für eine innovative Verbundforschung mit transdisziplinären Zugängen. Dabei wird es sich vermutlich zeigen, dass hier Theoriebedarf - also nicht für empirische Befragungen u. dgl. - besteht. Es ist nahe liegend, dass die Pflege angesichts ihrer inzwischen schon recht langen Geschichte der Akademisierung ein geeigneter Partner sein könnte. In der Tat finden sich Denkansätze, die gemeinsam mit der Medizin und anderen Wissenschaften etwas beitragen können zur existenziellen Phänomenologie von Krankheit.

Meine persönliche Vision wäre es, dass Pflege und Medizin gemeinsam diesen sensiblen Bereich, sagen wir im Sinne einer Wissenschaft vom Patienten, bearbeiten.

Unsere Argumentation muss heute aber noch weiter gehen. Es geht darum, den Arztberuf in moderner zukunftsfähiger Sicht neu zu begründen.

Ich möchte Ihre Gedanken deshalb zum Schluss auf die gesellschaftliche Dimension der Medizin lenken. „Médicines sans frontiers“ (Ärzte ohne Grenzen“) hat vor etlichen Jahren bekanntlich den Friedensnobelpreis, also nicht einen für herausragende medizinische Leistungen erhalten. Dies drückt eine tief greifende Wertschätzung gegenüber unserem Beruf aus. Er bezieht sich z. B. darauf, dass die Medizin wie kaum eine andere gesellschaftliche Institution im besten Sinne zum Wertbestand unserer Gesellschaft beiträgt. Indem sie einen legitimen Raum bietet, in dem der Mensch Schwäche zeigen kann, in dem er klagen kann, in dem Zuwendung und Anerkennung durchaus auch der Einzigartigkeit jedes einzelnen Patienten gewährt werden, trägt die Medizin viel zur sozialen Kohärenz bei. Sie schafft Vertrauen in diese Gesellschaft.

Die Tatsache, dass der Arzt wie keine andere Berufsgruppe an die Wurzeln des menschlichen Daseins gerät, sei es in den problematischen Milieus verwahrlosender Kinder, sei es über die Herzen der Führungseliten, sei es im Lebensraum vereinsamter alter Menschen, berechtigt uns, uns mehr als bisher in das öffentliche Leben einzumischen. Führen wir die Medizin aus der Gralswelt von Eingeweihten, die sich für den Patienten auf geheimnisvolle Weise hinter Tüchern, Türen und Technik verbirgt, heraus zur Position einer gestaltenden Kraft in der Gesellschaft.

Ich zitiere zum Abschluss aus einer Rede, die der französische Journalist Alfred Grosser 1995 anlässlich eines Jubiläums der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin gehalten hat:

„Die Aufgabe des Arztes als Bürger ist es, auf all diesen (Gesundheit im weitesten Sinne betreffenden) Gebieten präsent zu sein. Er soll es, er darf es, er kann es. So sehr, dass Sie jedem Morgen mit dem Gefühl aufstehen mögen, zu den glücklichsten unserer Gesellschaft zu gehören. Vorausgesetzt, Sie sind mit mir einverstanden, wenn ich nichts Beglückenderes sehen kann als die Gewissheit, anderen und sogar der gesamten Gesellschaft gegenüber nützlich zu sein.“

__________________________________

Referat bei der Delegiertenkonferenz der AWMF am 10. November 2007 in Frankfurt/Main. Bei den Ausführungen handelt es sich nicht nur um eine Wiedergabe der Empfehlungen des Rates, sondern um eigene Interpretationen und Weiterführungen seitens der Referentin.


Literatur

1.
WHO (2000) Angemessenheit medizinischer Leistungen. Bericht über einen WHO-Workshop, Koblenz 23. - 25. März 2000
2.
Jaspers, K. (1954) Psychologie der Weltanschauungen, Springer, Heidelberg, S. 311