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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Beschluss des Großen Senats des Bundessozialgerichts vom 25. 9. 2007: Stationäre Krankenhausbehandlung nur bei medizinischer Erforderlichkeit

Mitteilung

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GMS Mitt AWMF 2007;4:Doc27

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/journals/awmf/2007-4/awmf000136.shtml

Received: October 18, 2007
Published: October 22, 2007

© 2007 Wienke.
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Zusammenfassung

Mit Beschluss vom 25. September 2007 - GS 1/06 - hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) festgestellt, dass die Pflicht der Krankenkassen zur Gewährung stationärer Krankenhausbehandlung für ihre Versicherten allein nach medizinischen Erfordernissen zu beurteilen ist. Diese medizinische Notwendigkeit sei im Streitfall gerichtlich uneingeschränkt zu überprüfen, wobei der im Behandlungszeitpunkt verfügbare Wissens- und Erkenntnisstand des verantwortlichen Krankenhausarztes zu Grunde zu legen sei.


Text

Diese mit Spannung erwartete Entscheidung des BSG dürfen wir nachstehend näher erläutern:

1. Zuständigkeit des Großen Senats

Der Große Senat des Bundessozialgerichts entscheidet nur in den Fällen, bei denen ein Fachsenat des Bundessozialgerichts in einer bestimmten Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Fachsenats des BSG abweichen will. Zum Zeitpunkt der Entscheidung setzte sich der Große Senat aus zwölf Berufsrichtern und sechs ehrenamtlichen Richtern zusammen.

2. Ausgangssituation

Der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG), zuständig für Ansprüche gesetzlich krankenversicherter Patienten gegen ihre Krankenkasse, wollte in einem bei ihm anhängigen Verfahren von der Rechtsprechung des 3. Senates, der für Ansprüche von Leistungserbringern gegen Krankenkassen auf Vergütung der Krankenhausbehandlung zuständig ist, in Bezug auf die Voraussetzungen der Leistungspflicht der Krankenkassen abweichen.

Die Entscheidungszuständigkeiten der beiden Senate sind insofern miteinander verknüpft, als eine Leistung des Krankenhauses zu Lasten der Krankenkasse nur der Erfüllung des Sachleistungsanspruchs des Versicherten dienen darf. Der Anspruch des Leistungserbringers auf Vergütung folgt im Wesentlichen diesem Sachleistungsanspruch, so dass einheitliche rechtliche Maßstäbe zur Beurteilung der Leistungspflicht der Krankenkassen erforderlich sind.

Die zentrale gesetzliche Regelung im streitigen Zusammenhang ist § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V. Danach haben Versicherte nur dann einen Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann.

a. Rechtsprechung des 3. Senats

Der 3. Senat hat die Entscheidungsbefugnis über die medizinische Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung im Rahmen des § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V dem Krankenhausarzt übertragen und ihm ein eigenes Prüfungs- und Entscheidungsrecht zugewiesen. Eine Krankenhausbehandlung sei stets dann notwendig, wenn sie aus der vorausschauenden Sicht des Krankenhausarztes unter Zugrundelegung der im Entscheidungszeitpunkt bekannten oder erkennbaren Umstände vertretbar sei, d. h. nicht im Widerspruch zur allgemeinen oder besonderen ärztlichen Erfahrung stehe oder medizinische Standards verletze. Die rechtliche Überprüfung der Entscheidung müsse sich auf die Vertretbarkeitsüberprüfung beschränken, da die Feststellung einer allein richtigen Maßnahme im ärztlichen Bereich nicht möglich sei.

Dem Krankenhausarzt stehe ein ärztlicher Entscheidungsspielraum zu. Zugleich komme ihm nach Ansicht des 3. Senats eine Schlüsselstellung zu. Die jeweilige Krankenkasse sei an die Entscheidung des Krankenhausarztes gebunden, wenn sich diese bei einer Überprüfung auf der Grundlage der Kenntnisse und Erkenntnisse im Behandlungszeitpunkt (ex ante) nicht als fehlerhaft erweist (sog. Einschätzungsprärogative).

Darüber hinaus hat der 3. Senat eine Leistungspflicht der Krankenkassen auch dann bejaht, wenn im konkreten Fall Behandlungsalternativen zur stationären Versorgung fehlten. Wegen ihrer Sachleistungs- und Beratungspflicht müsse die Krankenkasse die Kosten für die stationäre (Weiter-)Behandlung auch dann übernehmen, wenn im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt eine ambulante Versorgung des Patienten aus medizinischer Sicht grundsätzlich ausreichend wäre, ambulante Behandlungsalternativen dem Versicherten aber nicht konkret benannt bzw. nachgewiesen würden. Nur so könne eine kontinuierliche Versorgung der Versicherten gewährleistet werden.

b. Rechtsprechung und Vorlagebeschluss des 1. Senats

Dem 1. Senat des BSG lag folgender Sachverhalt zur Entscheidung vor:

Ein gesetzlich krankenversicherter Patient, der an einer psychischen Krankheit litt und daher unter Betreuung stand und eine Heimunterbringung benötigte, wurde wegen eines akuten Krankheitsschubs seit 1996 stationär in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt. Ab Juli 1998 war nach Auffassung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) eine stationäre Krankenhausbehandlung nicht mehr erforderlich, so dass die weitere ärztliche Behandlung ambulant erfolgen sollte. Die zuständigen Ärzte im Krankenhaus hielten jedoch auch weiterhin die Fortführung der stationären Behandlung für notwendig und der Patient verblieb in der Klinik. Die Krankenkasse verweigerte die Übernahme der Kosten für den stationären Krankenhausaufenthalt ab Juli 1998. An ihrer Stelle übernahm der Sozialhilfeträger diese Kosten und verlangte nunmehr von der Krankenkasse deren Erstattung.

Auf Grundlage dieses Sachverhaltes wollte der 1. Senat von der Rechtsprechung des 3. Senates abweichen: Eine Leistungspflicht der Krankenkasse bei fehlender medizinischer Notwendigkeit der stationären Behandlung könne nicht aufgrund fehlender ambulanter Behandlungsmöglichkeiten begründet werden. Vielmehr bestimme sich die Leistungspflicht der Krankenkasse allein nach der medizinischen Notwendigkeit der stationären Versorgung, so dass im zu Grunde liegenden Fall, in dem eine ambulante Behandlung ausreichend gewesen wäre, eine Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit nicht mehr vorliege. Eine Pflicht der Krankenkasse, ihren Versicherten ambulante Behandlungsmöglichkeiten anzubieten und nachzuweisen, sei gesetzlich nicht vorgesehen und für die Frage der Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung nicht relevant. Der 1. Senat ordnete zudem die Entscheidungsgewalt darüber, ob eine Krankenhausbehandlung erforderlich ist, den Krankenkassen zu. Diese Entscheidung sei gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar und der Einschätzung des Krankenhausarztes komme keine Prärogative zu.

3. Der Beschluss des Großen Senats

„1. Ob einem Versicherten vollstationäre Krankenhausbehandlung zu gewähren ist, richtet sich nach medizinischen Erfordernissen. Reicht nach den Krankheitsbefunden eine ambulante Therapie aus, so hat die Krankenkasse die Kosten eines Krankenhausaufenthaltes auch dann nicht zu tragen, wenn der Versicherte aus anderen, nicht mit der Behandlung zusammenhängenden Gründen eine spezielle Unterbringung oder Betreuung benötigt und wegen des Fehlens einer geeigneten Einrichtung vorübergehend im Krankenhaus verbleiben muss.

2. Ob eine stationäre Krankenhausbehandlung aus medizinischen Gründen notwendig ist, hat das Gericht im Streitfall uneingeschränkt zu überprüfen. Es hat dabei von dem im Behandlungszeitpunkt verfügbaren Wissens- und Kenntnisstand des verantwortlichen Krankenhausarztes auszugehen. Eine „Einschätzungsprärogative“ kommt dem Krankenhausarzt nicht zu.“

4. Juristische Bewertung

Die ersten Reaktionen auf die Entscheidung des Großen Senats erwecken den Eindruck, dass eine neue Ära im Leistungsrecht der Krankenkassen eingeläutet wurde. Aktuelle Beiträge sind überschrieben mit Titeln wie „Mehr Kassen–Macht in Krankenhäusern“ oder „Druck auf Ärzte wird größer“ oder „Bundessozialgericht beschneidet den Beurteilungsspielraum der Krankenhausärzte“.

Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass der Große Senat in seiner Entscheidung eine vermittelnde Position zwischen dem 1. Senat und dem 3. Senat einnimmt. Der Große Senat erteilt der bisherigen Rechtsprechung des 3. Senats nämlich nur in einem Punkt eine Absage, während die wesentlichen Grundlagen der Rechtsprechung des 3. Senats im Übrigen bestätigt werden.

So stellt der Große Senat zunächst klar, dass allein medizinische Gründe eine vollstationäre Krankenhausbehandlung erforderlich machen können. Ist nach den medizinischen Erkenntnissen eine ambulante Behandlung ausreichend, so können andere Gründe nicht zur Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung führen. Eine Leistungspflicht der Krankenkasse ist somit in den Fällen, in denen es an konkreten ambulanten Behandlungsmöglichkeiten fehlt, entgegen der Ansicht des 3. Senats abzulehnen. Die Rechtsprechung des 3. Senats, die den Patienten vor Versorgungslücken schützen sollte, wies eine hohe Praktikabilität auf, findet im Gesetzeswortlaut jedoch keine Stützte. Die Entscheidung des Großen Senats ist in dieser Hinsicht somit konsequent und zu begrüßen.

Darüber hinaus bestätigt der Große Senat aber gleichermaßen die bisherige Rechtsprechung des 3. Senats in wesentlichen Teilen. Denn nach wie vor ist bei der Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer stationären Krankenhausbehandlung von dem Wissens- und Erkenntnisstand des verantwortlichen Krankenhausarztes auszugehen, der diesem im Behandlungszeitpunkt, also vor der stationären Aufnahme bzw. der Entscheidung über die Verlängerung des stationären Aufenthalts oblag. Auch wenn der Große Senat darauf hinweist, dass diese Entscheidung des Arztes gerichtlich uneingeschränkt überprüfbar ist, so stößt diese Prüfungsmöglichkeit an die gleichen Grenzen, die bisher auch der 3. Senat gezogen hat: es bleibt bei einer Vertretbarkeitsprüfung. Ebenso wie im Haftungsrecht ist dem Arzt nämlich ein Entscheidungsspielraum bei seinen medizinischen Entscheidungen zuzubilligen. Eine ärztliche Behandlung ist erst dann fehlerhaft, wenn sie nicht mehr dem gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht. Ebenso bewegt sich die Entscheidung über eine Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit in einem gewissen Rahmen.

Wesentlich an der Entscheidung des Großen Senats ist somit, dass bei der Überprüfung der Entscheidung des Krankenhausarztes dessen Wissens- und Erkenntnisstand im Entscheidungszeitpunkt zugrunde zu legen ist (ex ante - Betrachtung). Auch wenn eine Einschätzungsprärogative zu Gunsten des Krankenhausarztes nach dem Beschluss des Großen Senats nicht bestehen soll, so ist auch weiterhin der rechtlichen Überprüfung zunächst diese Entscheidung zu Grunde zu legen und die Krankenkassen müssen maßgebliche Einwände vorbringen.

Abschließend sei noch der nachfolgende Aspekt betont. Wäre der Große Senat der Ansicht des 1. Senats dahingehend gefolgt, dass die Entscheidung über die medizinische Notwendigkeit allein den Krankenkassen zuzuordnen sei, wäre damit eine Reduzierung der ärztlichen Therapiefreiheit auf den GKV-Katalog auf Kosten der Patienten einhergegangen. Der Arzt ist bei seiner Berufsausübung aber berufsrechtlich und auch haftungsrechtlich verpflichtet, nach dem aktuellen anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft zu behandeln. Dies gilt unabhängig von der Vergütungssituation im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, so dass dies zu einem Widerstreit zwischen Arzthaftung und Wirtschaftlichkeit führt. Läge die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit bei den Krankenkassen, ginge damit unweigerlich eine Reduzierung des ärztlichen Spektrums auf den Leistungskatalog der GKV einher, ohne dass der behandelnde Arzt seiner haftungsrelevanten Verpflichtung zur Standard gemäßen Behandlung nachkommen könnte. Diesem Zwiespalt hat der Große Senat eine klare Absage erteilt, indem er die - von den Krankenkassen später aus ex ante Sicht überprüfbare - Entscheidung über die medizinische Notwendigkeit stationärer Behandlungsbedürftigkeit beim Krankenhausarzt belässt.

In der Praxis und bei den Auseinandersetzungen mit den Krankenkassen und Medizinischen Diensten wird es zukünftig darauf ankommen, die Aussagen des Großen Senats des BSG richtig zu verdeutlichen. Hierzu können die vorstehende Erläuterungen zusätzlich dienen.

(Bundessozialgericht, Beschluss des Großen Senats vom 25.09.2007, Az.: GS 1/06)