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183. Versammlung des Vereins Rheinisch-Westfälischer Augenärzte

Verein Rheinisch-Westfälischer Augenärzte

29.01. - 30.01.2021, Hagen (Online-Konferenz)

Versicherungsmöglichkeiten aufgrund individualisierter Prognosen: ist eine zukünftige Gesellschaft ohne Unsicherheit überhaupt möglich?

Meeting Abstract

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  • Alberto Cevolini - Universität Modena/I; Fakultät für Soziologie, Bielefeld

Verein Rheinisch-Westfälischer Augenärzte. 183. Versammlung des Vereins Rheinisch-Westfälischer Augenärzte. Hagen, 29.-30.01.2021. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2021. Doc21rwa039

doi: 10.3205/21rwa039, urn:nbn:de:0183-21rwa0393

Veröffentlicht: 29. Januar 2021

© 2021 Cevolini.
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Gliederung

Text

In diesem Beitrag wird die Frage untersucht: „Ist eine zukünftige Gesellschaft ohne Unsicherheit überhaupt möglich?“ Diese Fragestellung gewinnt an Bedeutung, wenn wir daran denken, dass die heutige Gesellschaft durch digitale Geräte (wearables bzw. tracking devices) Datenberge anhäuft, die dann algorithmisch verarbeitet werden, um aufschlussreiche Erkenntnisse zu erzeugen. Das betrifft auch die Versicherungsindustrie, denn die Versicherungsindustrie ist immer besonders datengierig gewesen, weil die einzige Art und Weise, in die Zukunft hineinzublicken, darin besteht, aus der Vergangenheit aufschlussreiche Erkenntnisse zu gewinnen und so zu tun, als würde die Zukunft genauso wie die Vergangenheit verlaufen. Auf dieser Fiktion beruht jene evolutionäre Errungenschaft, die wir Statistik nennen. Zwischen Statistik und algorithmische Datenverarbeitung gibt es jedoch einen wichtigen Unterschied: Statistik bearbeitet normalerweise strukturelle Daten, zum Beispiel Alter, Wohnsitz, Geschlecht, und gestaltet damit den sogenannten „Mittelmensch“. Digitale Technologien sammeln stattdessen Daten, die sich auf das individuelle Verhalten bzw. den individuellen Zustand beziehen, wobei algorithmische Datenverarbeitungstechniken wie zum Beispiel machine learning und künstliche Intelligenz „individualisierte“ Prognosen erzeugen. Daraus entsteht die sogenannte prädiktive Medizin (precision medicine) und entsprechende neuartige Versicherungsmöglichkeiten. Der Grundgedanke ist: Wenn ich gesund lebe – und das ist von meinem tracking device belegt, warum sollte ich auch für diejenigen bezahlen, die ungesund ihr Leben führen? Diesem Grundgedanken zufolge sei also gerecht, eine personalisierte Tarifierung einzuführen, die sich an das jeweilige individuelle Verhalten (an den individuellen Lebensstil bzw. Fahrstil) anpasst. Das lässt sich sehr gut hören. Nur: Was heißt hier „gerecht“ oder „ungerecht“? Wenn ich genetisch dazu neige, an Diabetes zu leiden, wie kann ich meinen Gesundheitszustand verändern? Was außerdem von individualisierten Prognosen offenbar in Frage gestellt werden könnte, ist der ganze Mechanismus des sogenannten Risikotransfers, mit der Folge, dass die guten Risikoträger die schlechten Risikoträger nicht mehr ausgleichen würden. Diese Art Solidarität, worauf die ganze moderne Versicherungsgesellschaft gegründet ist, würde offensichtlich zusammenbrechen, wenn jedes Individuum gemäß der individualisierten Prognose eines zukünftigen Schadensfalls eine entsprechende Prämie bezahlen müsste. Dies würde schließlich zu einer neuartigen sozialen Exklusion führen, mit der sich die gegenwärtige Gesellschaft schon auseinandersetzen sollte.