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„Jetzt sollen sie aber wirklich mal wieder auf uns hören“ – Selbstbilder und Zukunftsvisionen von Public Health-Wissenschaftler:innen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik während der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse einer qualitativen Studie
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Veröffentlicht: | 6. September 2024 |
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Einleitung: Während der COVID-19-Pandemie bezogen sich politische Akteur:innen hauptsächlich auf medizinische Disziplinen wie die Virologie und die Epidemiologie sowie die Naturwissenschaften, um politische Entscheidungen zu treffen. Die vorrangigen Ziele waren hierbei, die Anzahl der Todesfälle möglichst geringzuhalten und einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Obwohl gerade sozioökonomische Auswirkungen von Krankheiten Gegenstand der Forschung der Public Health ist, war diese Expertise im politischen Diskurs wenig gefragt. Dies führte zu einer kritischen Reflexion und Re-Evaluation des eigenen Selbstbildes von Public Health.
Unsere qualitative Studie im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Verhältnis von Wissenschaft, Evidenz und Politik explorierte Rollenbilder, Wertvorstellungen und politische Standpunkte von Public Health-Wissenschaftler:innen im Kontext der Pandemie.
Methodik: Wir führten leitfadenbasierte, offene Interviews mit verschiedenen Akademiker:innen aus dem Public Health-Bereich durch und analysierten von Public Health-Gesellschaften veröffentlichte Dokumente mithilfe der Methode der Grounded Theory. Anhand der Methodik der Situationsanalyse vollzogen wir initial die Arena und die soziale Welt der Pandemie nach und ordneten die verschiedenen Akteur:innen ein. Mithilfe von positional maps visualisierten wir verschiedene Positionen im Diskurs um Wissen(schaft) und Politik. Anschließend versuchten wir die empirischen Erkenntnisse mit philosophisch-theoretischen Modellen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in Bezug zu setzen.
Ergebnisse: Aus der empirischen Analyse der Daten und der positional maps um die Diskurspositionen ergab sich für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik eine Typologie von fünf Selbstbild-Typen: der:die zurückgezogene Wissenschaftler:in, der:die Anbieter:in wissenschaftlichen Wissens, der:die Expert:in auf politischer Ebene agierend, der:die öffentliche Informationsgeber:in und der:die Innovator:in.
Die empirischen Selbstbilder ordneten wir dann auf einer positional Map zum Spannungsverhältnis Wissenschaft und Politik an. Philosophisch-theoretisch fanden sich drei verschiedene Verständnisse des Verhältnisses Wissenschaft und Politik, die auf Habermas zurückgehen: das dezisionistische, technokratische und das pragmatische Modell. Auch Horkheimers Konzept des ‚critical theorists‘ und Mansons Modell des ‚epistemic restraint‘ ermöglichten weitere philosophisch-theoretische Einordnung.
Aus der Verbindung von empirischen Erkenntnissen und theoretischen Modellen ergab sich, dass die theoretische Konzipierung von Wissenschaft und Politik in der Praxis nicht genauso reproduziert werden kann, sondern vielmehr, verschiedene Aspekte der Selbstbilder sich teilweise in den theoretischen Modellen wiederfinden. Der:die Innovator:in verkörpert beispielsweise Aspekte von Horkheimers ‚critical theorist‘, der:die öffentliche Informationsgeber:in hingegen Habermas pragmatistischen Ansatz. Mansons ‚epistemic restraint‘ findet sich in dem:der zurückgezogenen Wissenschaftler:in wieder, Habermas dezisionistisches Verständnis in dem:der Expert:in auf politischer Ebene agierend und das technokratische Verständnis in dem:der Anbieter:in wissenschaftlichen Wissens. Individuelle Wissenschaftler:innen verkörpern somit einzelne oder mehrere Aspekte eines oder mehrerer Typen. So können sich also die Typen, die einzelne Wissenschaftler:innen repräsentieren, über die Zeit oder je nach Kontext verändern. Abschließend konzipierten wir anhand dieser Selbstbild-Typen zwei Zukunftsvisionen zum Verhältnis von Public Health Disziplin und Politik: „Segmentierung“ und „Kooperation“.
Fazit: Die Analyse der sozialen Arena sowie die Selbstbilder ermöglichen ein besseres Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik während der Pandemie und lassen wichtige Erkenntnisse für die Zukunft der Public Health-Disziplin gewinnen.
Interessenkonflikte: Christian Apfelbacher ist Mitglied der DGSMP und war Mitglied der koordinierenden Gruppe des deutschen Kompetenznetzes Public Health Covid-19 sowie der Pandemie-Forschungsgruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Das Forschungsprojekt wurde finanziert durch die DFG (Projektnummer 458303252).
Die Autoren geben an, dass ein positives Ethikvotum vorliegt.
Literatur
- 1.
- Habermas J. Wissenschaft und Technik als Ideologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag; 1968.
- 2.
- Horkheimer M. Traditionelle und kritische Theorie: Fünf Aufsätze. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag; 2011. (Fischer-Taschenbücher Fischer Wissenschaft; Vol. 11328).
- 3.
- Manson N. Epistemic restraint and the vice of curiosity. Philosophy. 2012;87(340):239–259. Verfügbar unter: http://www.jstor.org/stable/41441509