Artikel
Menschen am Übergang in die Pflegebedürftigkeit: Eine Charakterisierung auf Basis von Daten des Medizinischen Dienstes und der gesetzlichen Krankenversicherung
Suche in Medline nach
Autoren
Veröffentlicht: | 6. September 2024 |
---|
Gliederung
Text
Einleitung: Die demografische Entwicklung in Deutschland rückt die Prävention von Pflegebedürftigkeit in den Fokus. Anhand der Pflegebegutachtungen nach §18 SGB XI lassen sich wichtige Rückschlüsse über Krankheitslast und körperliche sowie kognitive und psychische Einschränkungen von Pflegebedürftigen ziehen. Diese bilden einen Ausgangspunkt für präventive Ansätze [1], [2].
Um die Krankheitslage am Übergang zur Pflegebedürftigkeit zu beschreiben, sollen Personen mit einer erstmalig durch den Medizinischen Dienst (MD) festgestellten Pflegebedürftigkeit im Hinblick auf ihre Erkrankungen und soziodemografischen Merkmale charakterisiert werden. Dafür werden die Diagnosen aus den Pflegebegutachtungen zunächst beschrieben und anschließend, um ihre Validität beurteilen zu können, regional und mit ärztlichen Diagnosen aus Routinedaten verglichen.
Methoden: Es handelt sich um eine Vollerhebung der Pflegebegutachtungen der über 60-jährigen AOK-Versicherten durch den MD mit Beginn der Pflegebedürftigkeit im Jahr 2021 sowie der durch diese beanspruchten ärztlichen Leistungen im ambulanten und stationären Bereich (2019-2021). Zentrale Merkmale zur Morbiditätsabschätzung im Rahmen der retrospektiven, deskriptiven Analyse sind die in den Gutachten dokumentierten pflegebegründenden Diagnosen (MD-Diagnosen) und die ärztlich kodierten Diagnosen aus den Leistungsdaten.
Ergebnisse: Insgesamt haben 339.486 über 60-jährige AOK-Versicherte im Jahr 2021 erstmalig einen Pflegegrad erhalten. Diese sind durchschnittlich 79,6 Jahre (SD: 8,4) alt und zu 59,0% weiblich. Die basierend auf den MD-Diagnosen insgesamt am stärksten vertretenen ICD-Kapitel sind Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (Kapitel XIII; 20,4%), Krankheiten des Kreislaufsystems (Kapitel IX; 16,2%) und Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde (Kapitel XVIII; 16,0%). Während in den Pflegegraden 1 und 2 Kapitel XIII (24,6%) dominiert, sind Neubildungen am relevantesten für die höheren Pflegegrade 3 bis 5 (26,1%). Bei den Begutachtungen der über 90-Jährigen wurden am häufigsten Diagnosen aus Kapitel XVIII (31,4%) vergeben, bei der jüngsten Gruppe der 60- bis 69-Jährigen waren Neubildungen (23,7%) am stärksten vertreten. Zudem wurden bei Frauen überwiegend Krankheiten aus Kapitel XIII (26,0%) festgehalten, während Männer meist mit welchen aus Kapitel IX (19,6%) in die Pflege eintreten.
Regionale Analysen der MD-Diagnosen zeigen große Unterschiede in der Häufigkeit von Diagnosen aus Kapitel XVIII. Diese sind in Bayern, Hamburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein mit zwischen 17,4% und 38,1% die jeweils am häufigsten kodierten Diagnosen während in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt nur zwischen 0,8% und 3,5% der Pflegeeintritte mit einer solchen Diagnose versehen wurden.
Der Abgleich mit den in den Abrechnungsdaten dokumentierten ärztlichen Diagnosen zeigt, dass die häufigste MD-Diagnose Senilität (R54) in nur etwa einem Fünftel der Fälle auch ärztlich kodiert wird. Bezogen auf häufige MD-Diagnosekomplexe wie Arthrose (M15-M19), Demenz (F00-F03, G30) und Herzinsuffizienz (I50) gibt es Übereinstimmungsraten von je etwa vier Fünfteln. Durch den MD gestellte Diagnosen chronischer obstruktiver Lungenkrankheit (J44) sind sogar in 97,0% aller Fälle auch ärztlich festgehalten worden.
Schlussfolgerung: Die soziodemografischen Merkmale der erstmalig als pflegebedürftig Begutachteten sind mit verschiedenen pflegebegründenden Erkrankungen assoziiert. Regional bestehen große Unterschiede darin, wie häufig im Zuge der Pflegebegutachtung Symptomdiagnosen festgehalten werden. Die zum Teil geringe Übereinstimmung der MD-Diagnosen mit den ärztlich dokumentierten Diagnosen wirft Fragen auf. Damit sind die Pflegegutachten eine wertvolle Quelle zur Beurteilung der Krankheitslast Pflegebedürftiger, die jedoch in ihrem regionalen und pflegefachlichen Kontext zu bewerten sind.
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Autoren geben an, dass ein positives Ethikvotum vorliegt.