gms | German Medical Science

Gesundheit – gemeinsam. Kooperationstagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS), Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi), Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie (DGMS) und der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH)

08.09. - 13.09.2024, Dresden

Über Nutzen und Nutzung von Medikamenten-Warnhinweisen in allgemeinmedizinischer Praxissoftware

Meeting Abstract

Suche in Medline nach

  • Wolfgang B. Lindemann - Cabinet de Médecine Générale, Strasbourg, France

Gesundheit – gemeinsam. Kooperationstagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS), Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi), Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie (DGMS) und der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH). Dresden, 08.-13.09.2024. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2024. DocAbstr. 456

doi: 10.3205/24gmds193, urn:nbn:de:0183-24gmds1932

Veröffentlicht: 6. September 2024

© 2024 Lindemann.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung: Praxisinformationssysteme sollen durch entsprechende Warnhinweise Irrtümer bei der Medikation verringern [1], [2] und ihre Verwendung wird in Frankreich deshalb von der staatlichen Krankenkasse CPAM finanziell gefördert. In Deutschland und Frankreich wurde aber meines Wissens noch nie überprüft, ob dieses Ziel einer verringerten Fehlerrate auch erreicht wird. Was ist die Qualität und wie ist die Nutzung automatischer Medikamenten-Warnhinweise der französischen Praxissoftware Axisanté 5 (Compugroup), einem der Marktführer in Allgemeinmedizinpraxen?

Methoden: Ich habe die automatischen Warnhinweise von 268 elektronischen Rezepten für 132 Patienten ausgewertet. Außerdem habe ich 428 Allgemeinmediziner zu ihrer Verwendung von 16 Funktionen von Axisanté befragt. Die statistische Auswertung erfolgte mit Excel 2016 und SPSS 29.

Ergebnisse: Die insgesamt 1.112 verschriebenen Medikamente erzeugten 4.958 Warnhinweise. 4.263 dieser Warnhinweise wären mit technisch einfach realisierbaren Algorithmen herausfilterbar (z.B.: 2.032 Warnhinweise betrafen ein Medikament, etwa als Interaktionsalarm, das auf dem jeweiligen Rezept nicht erschien; die Berücksichtigung des Alters hätte 77 Warnhinweise vermieden, die Berücksichtigung der Darreichungsform 59); die von mir und zwei Kollegen, die eine Stichprobe aller Warnhinweise begutachteten, als unvermeidlich beurteilten 695 Warnhinweise waren fast immer banal und unspezifisch (meistens „Vorsicht bei Senioren“) und veränderten in weniger als 10 Fällen die Verschreibung.

Eine Faktorenanalyse der Nutzung von 16 Axisanté-Funktionen ermittelte nach dem ersten Faktor, auf den alle Fragen luden (Eigenwert 4.11 erklärte Varianz 25.7%) drei Nutzertypen, von denen nur der erste (Eigenwert 2.17 erklärte Varianz 13.6%) die zeit- und arbeitssparenden Funktionen von Axisanté zu nutzen weiß, aber zugleich Allergien und Vorerkrankungen nicht strukturiert erfasst (was Voraussetzung für die Generierung von Warnhinweisen ist) und alle Arten Warnhinweise ausdrücklich ignorierte. Die anderen beiden Nutzertypten wussten beide die nützlichen Funktionen von Axisanté nicht zu verwenden, aber unterschieden sich in ihrer guten Integration externer Laborresultate und Briefe (Nutzertyp 2 Eigenwert 1.84 erklärte Varianz 11.8%) („inkompetent-hilfloser Nutzer“) versus ihrer häufigeren Verwendung der Programm- und Onlinehilfe (Nutzertyp 3 Eigenwert 1.31 erklärte Varianz 8.2%) („inkompetent-hilfesuchender Nutzer“. Keiner dieser inkompetenten Nutzertypen erfasste Vorerkrankungen und Allergien strukturiert oder reagierte auf Warnhinweise.

Diskussion: Die Fülle weitestgehend unnützer Warnungen in einer typischen Sprechzeit von 15 Minuten pro Patienten zu ignorieren, lässt die Arbeitszeit sinnvoller z.B. für Früherkennungsmaßnahmen verwenden und ist sicher auch ein berechtigter Schutzmechanismus [3], [4], [5]: Die bereits im Krankenhausbereich bekannte [6] Überfülle von Warnhinweisen veranlasst kompetente Nutzer, Axisanté nicht durch strukturierte Erfassung von Allergien und Vorerkrankungen zu unterstützen, Warnhinweise zu erstellen und Warnhinweise ausdrücklich zu ignorieren und lässt auch inkompetente Nutzer ähnlich handeln. Die zur Warnhinweisgenerierung verwendeten Algorithmen sind primitiv: Abgleich aller Inhaltsstoffe eines Präparates mit allen möglichen Patienteneigenschaften wie z.B. alle Diagnosen derselben ICD-Untergruppe, in der eine Vorerkrankung kodiert wurde (z.B. löst „Gallenstein“ eine absolute Kontraindikationswarnung für Substanzen aus, die bei Leberzirrhose kontraindiziert sind, einschließlich z.B. Nitratsprays, die Alkoholspuren enthalten). Das Ergebnis dieser Studie ist also theoretisch zu erwarten und damit eigentlich trivial und grundsätzlich bereits bekannt. Nicht trivial ist aber die bloße Existenz dieser „Entscheidungsunterstützung“, deren kostenaufwändige Förderung durch die defizitäre CPAM und schließlich das offenbare Desinteresse [7] der akademischen und forschenden Medizininformatik und Allgemeinmedizin an der informationstechnisch leicht realisierbaren Verbesserung der unnützen und daher ungenutzen Warnhinweise.

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Die Autoren geben an, dass kein Ethikvotum erforderlich ist.


Literatur

1.
Séroussi J, Bouaud C, Duclos JC, Venot A. Computerized drug prescription decision support. In: Venot A, Burgun A, Quantin C, editors. Medical Informatics, e-Health. Fundamentals and Applications. Springer-Verlag France; 2017.
2.
Stürzlinger H, Hiebinger C, Pertl D, Traurig P. Computerized Physician Order Entry - Wirksamkeit und Effizienz elektronischer Arzneimittelverordnung mit Entscheidungsunterstützungssystemen. Deutsche Agentur für HTA des Deutschen Institutes für Medizinische Dokumentation und Information, Bundesministerium für Gesundheit; 2009.
3.
Gregor ME, Russo E, Singh H. Electronic health record alert-related workload as a predictor of burnout in primary care providers. Appl Clin Inf. 2017;8(3):686-697.
4.
Starren JB, Tierney WM, Williams MS, Tang P et al. A retrospective look at the predictions and recommendations from the 2009 AMIA policy meeting: did we see the EHR-related clinician burnout coming? JAMIA. 2021;28(5):948-954.
5.
Payne T. EHR-related alert fatigue: minimal progress to date, but much more can be done. BMJ Qual Saf. 2019;28(1):1-2.
6.
Seidling HM, Klein U, Schaier M, Czock D, Theile D, Pruszydlo MG, Kaltschmidt J, Mikus G Haefeli WE. What, if all alerts were specific – Estimating the potential impact on alert burden. Int J Med Inf. 2014;83:285-291.
7.
Graafsma J, Murphy RM, GARDE EME van de, Karapinar-Carkit F et al. The use of artificial intelligence to optimize medication alerts generated by clinical support systems: a scoping revie. JAMIA. 2024;31(6):1411-1422.