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HEC 2016: Health — Exploring Complexity
2016 Joint Conference of GMDS, DGEpi, IEA-EEF, EFMI

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V.
Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie e. V.

28.08. - 02.09.2016, München

Fleischkonsum und Dickdarmkrebsrisiko. Risikokommunikation und Folgen am Beispiel der WHO Pressemitteilung, 10/2015

Meeting Abstract

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  • Bernd Kowall - Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie; Universitätsklinikum Essen, Essen, Deutschland
  • Andreas Stang - Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie; Universitätsklinikum Essen, Essen, Deutschland

HEC 2016: Health – Exploring Complexity. Joint Conference of GMDS, DGEpi, IEA-EEF, EFMI. München, 28.08.-02.09.2016. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2016. DocAbstr. 230

doi: 10.3205/16gmds024, urn:nbn:de:0183-16gmds0249

Veröffentlicht: 8. August 2016

© 2016 Kowall et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Die Kommunikation epidemiologischer Forschungsergebnisse an eine breite Öffentlichkeit unterliegt einer doppelten Schwierigkeit: Zum einen werden statistische Aussagen, insbesondere auch epidemiologische Maßzahlen, häufig missverstanden, zum anderen erlaubt Risikoforschung selten eindeutige Schlüsse und Handlungsempfehlungen in Form klarer Dichotomien der Art „riskant – nicht riskant“. Unser Ziel ist es, an einem konkreten Beispiel – Fleischkonsum und Dickdarmkrebs – zu untersuchen, wie epidemiologische Forschungsergebnisse in den Medien präsentiert werden.

Methoden: Im Oktober 2015 veröffentlichte die WHO eine Pressemitteilung, eine Zusammenstellung von Fragen und Antworten sowie eine Publikation in Lancet Oncology zum Dickdarmkrebsrisiko durch den Konsum von rotem Fleisch und Wurst. Das Thema wurde in allen großen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen aufgegriffen. Anhand einer Internetrecherche haben wir 38 Artikel zur Stellungnahme der WHO aus den sechs auflagenstärksten deutschen Tageszeitungen (Bild, SZ, FAZ, Welt, Handelsblatt, taz), den vier auflagenstärksten Berliner Zeitungen (B.Z., Berliner Zeitung, Berliner Morgenpost, Tagesspiegel) und vier führenden deutschen Wochenzeitungen (SPIEGEL, Focus, ZEIT, Stern) zusammengestellt. Für jeden Beitrag wurden drei Punkte geprüft: Ist die Darstellung der quantitativen Ergebnisse korrekt und verständlich? Welche Kriterien werden angelegt, um die Aussagekraft der Forschungsergebnisse zu bewerten? Welche Handlungsempfehlungen werden dem Leser gegeben?

Ergebnisse: In fast allen Artikeln wird die Formulierung aus der Pressemitteilung der WHO zur Quantifizierung des Dickdarmkrebsrisikos wörtlich ins Deutsche übersetzt (... „each 50 gram portion of processed meat eaten daily increases the risk of colorectal cancer by 18%“). Nur in acht Artikeln (davon zweimal fehlerhaft) wird ein Basisrisiko formuliert, ohne das die genannte prozentuale Risikoerhöhung nicht sinnvoll eingeordnet werden kann. Nur in drei Publikationen (davon einmal fehlerhaft) werden zur Veranschaulichung des Risikos absolute Zahlen anstelle von Prozentzahlen verwendet (wie viele von 1000 exponierten Personen erkranken infolge der Exposition). Die in den Fragen und Antworten der WHO zusammengestellten Zahlen der weltweiten Todesfälle durch Fleischkonsum, Alkohol und Tabak, die eine vergleichende Abschätzung der Größe des Darmkrebsrisikos durch Fleischkonsums erlauben, werden in die Mehrzahl der Artikel nicht aufgenommen. Vereinzelt finden sich in den Artikeln Fehler (ungerechtfertigte Dichotomisierung des Risikos; Expositionen ohne Mengenangaben; fehlendes Zeitintervall bei Risikoangaben).

Die große Mehrheit der Artikel enthält keine wissenschaftlichen Bewertungen der Stellungnahme der WHO. Das Problem des Confounding wird in vier, Probleme bei der Erhebung von Ernährungsdaten werden in einem Artikel angesprochen. Zwei Medien bewerten die WHO-Mitteilung anhand außerwissenschaftlicher Kriterien (Übertreibung von Risiken in der Vergangenheit; der Fleischindustrie unterstellte und im Fall der IARC als fehlend angenommene Interessenkonflikte).

Die Handlungsempfehlung der WHO, den Fleischkonsum zu reduzieren, aber keinen völligen Verzicht zu üben, wird von sämtlichen Medien übernommen, die mit Fleischkonsum verbundenen Risiken werden nicht skandalisiert.

Schlussfolgerung: Dass Formulierungen zur Höhe des Risikos von den meisten Medien einfach aus der Pressemitteilung der WHO übernommen wurden, legt nahe, schon in Pressemitteilungen auf eine verständliche Darstellung von Maßzahlen und Effektschätzern zu achten (z.B. Basisrisiken angeben, absolute Zahlen anstelle von Prozentzahlen). Eine kritische Würdigung der Evidenzlage der Empfehlung wurde praktisch kaum vorgenommen. Dass die Risiken des Fleischkonsums anders als bei vielen anderen Expositionen in den Medien nicht skandalisiert werden, dürfte auf qualitative Merkmale des konkreten Risikos zurückzuführen sein (Fleischkonsum als kulturelle Normalität; kein Fehlverhalten konkreter Akteure; keine individuell identifizierbaren Opfer).


Literatur

1.
Bouvard V, et al. Carcinogenicity of consumption of red and processed meat. Lancet Oncol. 2015; 16: 1599-1600.