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GMDS 2015: 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

06.09. - 09.09.2015, Krefeld

Nutzung von Expertenwissen für eine Entscheidungsunterstützung von Neurologen bei der Diagnosestellung und Therapieplanung

Meeting Abstract

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  • Mirco Josefiok - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Oldenburg, Deutschland
  • Jürgen Sauer - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Oldenburg, Deutschland

GMDS 2015. 60. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Krefeld, 06.-09.09.2015. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2015. DocAbstr. 252

doi: 10.3205/15gmds074, urn:nbn:de:0183-15gmds0743

Veröffentlicht: 27. August 2015

© 2015 Josefiok et al.
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Gliederung

Text

Einleitung: Unter differentialdiagnostischen Gesichtspunkten ist der Prozess zur Ermittlung einer validen Diagnose und zugehöriger Therapiemaßnahmen ein komplexes und oft zeitaufwändiges Unterfangen. Insbesondere im Fachbereich Neurologie müssen Ärzte mit einer Vielzahl unterschiedlicher Symptome und Anzeichen, welche oft nicht mit dem zugrunde liegenden Krankheitsbild korrelieren, in kurzer Zeit umgehen [1]. Dabei ist eine schnelle Behandlung sehr oft absolut notwendig, da diese für eine positive Entwicklung von Patienten unabdingbar ist. Eine Unterstützung durch Expertensysteme für Mediziner kann sich in einzelnen Bereichen als sehr förderlich erweisen [2]. Daraus ergibt sich die Fragestellung, wie medizinisches Expertenwissen gewonnen und so formalisiert werden kann, dass auch unvollständige oder unpräzise Informationen zu einem validen Ergebnis führen.

Material und Methode: In einem ersten Schritt wurde eine umfassende Literaturstudie durchgeführt, welche dem PRISMA-Statement folgte. Im Rahmen dieser Studie wurde kein Expertensystem gefunden welches im klinischen Alltag eingesetzt wird [3]. Daraufhin wurden Interviews mit verschiedenen Stakeholdern aus dem Gesundheitswesen durchgeführt, um ein Fachkonzept zur Entscheidungsunterstützung zu erstellen. Das Fachkonzept wurde mittels der Business Process Modelling and Notation (BPMN) formalisiert [4].

Das Fachkonzept erlaubt die Formalisierung der Diagnoseerstellung mit Hilfe von Fuzzy-Logik. Damit wird dann eine Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Diagnose ermittelt. Mittels Fuzzy-Logik lassen sich auch unvollständige oder unpräzise Eingabe verarbeiten [5]. Die Wissensgewinnung erfolgt dabei in zwei Schritten. In einem ersten Schritt werden die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) sowie ergänzende Fachliteratur herangezogen. Auf Grundlage der Leitlinien werden linguistische Variablen extrahiert und erste Entwürfe für Regeln abgeleitet. Linguistische Variablen beschreiben in diesem Zusammenhang Symptome bzw. Anzeichen für eine vorliegende Diagnose in umgangssprachiger Notation. Die Variablen werden dabei weiter klassifiziert (z.B. Drehschwindel links oder rechts), um sie als Fuzzy-Sets abzubilden. Sofern in den Leitlinien nicht vorhanden, wird genau diese Klassifizierung der ergänzenden Fachliteratur entnommen. Die Berechnung der Wahrscheinlichkeit ist abhängig von der definierten Zugehörigkeitsfunktion.

In einem zweiten Schritt werden Regeln, linguistische Variablen und Wahrscheinlichkeiten mit Fachärzten diskutiert, verfeinert und korrigiert. Dabei werden immer auch die entsprechenden Leitlinien herangezogen. Im Rahmen des zweiten Schrittes wird ein besonderes Augenmerk auf die Definition der Zugehörigkeitsfunktionen und der Wahrscheinlichkeiten gelegt. Die Regeln werden mittels der Fuzzy Control Language (FCL) formalisiert und auf ihre Konsistenz geprüft und weiter getestet. Dies ermöglicht die Verwendung der Wissensbasis mit unterschiedlichen Systemen und eine vereinfachte Kommunikation über die Regeln.

Ergebnisse: Die Leitlinien der DGN sind sehr umfangreich, lassen aber an einigen Stellen unterschiedliche Interpretationen zu. Wird darüber hinaus noch ergänzende Fachliteratur herangezogen ist eine eindeutige Bestimmung von Symptomen zu Diagnosen nur nach umfangreicher Abstimmung mit Fachärzten möglich. Eine Zuordnung zu Regeln gestaltet sich ebenfalls als zeitaufwändig und komplex. Jedoch ist ein wesentliches Ergebnis ein beständig wachsender Satz von Fuzzy-Systemen mit entsprechenden Regeln. Dies sei nachfolgend am Beispiel der Neuritis vestibularis erläutert. Der zugrunde liegende Fuzzy-Regler nimmt die Anzeichen, Drehschwindel, Fallneigung, Spontannystagmus und Unterbergerversuch mit ihren entsprechenden Klassifikationen entgegen. Daraufhin wurden die folgenden fünf Regeln definiert:

  • RULE 1 : IF Drehschwindel IS ploetzlich AND Fallneigung IS links AND Spontannystagmus IS rechts AND Unterbergerversuch IS links THEN Neuritis_vestibularis IS wahrscheinlich;
  • RULE 2 : IF Drehschwindel IS ploetzlich AND Fallneigung IS rechts AND Spontannystagmus IS links AND Unterbergerversuch IS rechts THEN Neuritis_vestibularis IS wahrscheinlich;
  • RULE 3 : IF Drehschwindel IS dauernd AND Fallneigung IS rechts AND Spontannystagmus IS links AND Unterbergerversuch IS rechts THEN Neuritis_vestibularis IS moeglich;
  • RULE 4 : IF Drehschwindel IS ploetzlich AND Fallneigung IS rechts AND Spontannystagmus IS links THEN VestibulaeresSyndrom IS moeglich;
  • RULE 5 : IF Drehschwindel IS dauernd AND Fallneigung IS rechts AND Spontannystagmus IS links THEN Neuritis_vestibularis IS kaum_moeglich;

Regel eins und zwei ergeben je die höchst mögliche Wahrscheinlichkeit. Alle Symptome treten entsprechend der Beschreibung in der Fachliteratur (analog zu den Leitlinien der DGN) auf. Die Regeln drei bis fünf beschreiben abstufende Wahrscheinlichkeiten und berücksichtigen, dass nicht alle Symptome initial gefunden wurden.

Diese Regeln erlauben es die Neuritis vestibularis in einer abstufenden Wahrscheinlichkeit als mögliche Diagnose vorzuschlagen. Dieser Prozess wurde für verschiedene Diagnosen durchgeführt. Deutlich komplexer wird das Regelwerk, wenn eine Vielzahl von Anzeichen bzw. Symptomen berücksichtigt werden muss. Dies soll kurz am Beispiel der Multiplen Sklerose (MS) verdeutlicht werden. Als Hauptsymptome für eine MS werden bestimmte Klassen von Symptomen angenommen, wie beispielsweise motorische Symptome (z.B. zentrale Parese oder Paraparesen), sensible Symptome (z.B. Störungen der Berührungsempfindung, Störungen des Bewegungssinns und der Lageempfindung), Koordinationsstörungen (z.B. Intentionstremor, Dysemtrie in den Zeigeversuchen, Störungen der Feinmotorik, Sprachstörungen oder auch ein zerebellares Syndrom), Ophthalmologische Störungen (Opticusneuritus, Störung der Okulomotorik), Hirnstammsymptome (z.B. Störung der Sensibilität im Gebiet des Nervus trigeminus, Lähmung des Nervus faziales, Hörstörung usw. ), Blasenstörungen (z.B. ungehemmte neurogene Blase, automatische Blase usw.) oder auch Sexualstörungen.

Daraus ergeben sich, je nach Granularität und Formulierung, etwa 20 mögliche Regeln. Aufgrund des Umstandes, dass eine MS schon als mögliche Diagnose bei nur einem auftretenden Symptom ausgegeben werden muss, ergibt sich die Notwendig MS in Zusammenhang mit verwandten Differentialdiagnosen zu bewerten. Für kompakte Diagnose konnte bisher zufriedenstellende Ergebnisse erreicht. Erste Versuche mit Lehrbuchfällen zeigten eine hohe Genauigkeit der erstellten Regeln.

Diskussion: Der Prozess der Wissensgewinnung ist ein sehr komplexer und langwieriger Prozess. Die Leitlinien und auch die ergänzende Fachliteratur liegen nicht in einer Form vor, die eine direkte Abbildung in ein formalisiertes Regelsystem ermöglicht - zu groß sind oft die Möglichkeiten, Abweichungen und Ausnahmen. Die Formalisierung der Regeln mittels FCL hat sich dabei als sehr brauchbar erwiesen. Eine schnelle Abstimmung mit Experten ist sehr unkompliziert möglich.

Das bisherige Vorgehen ist dann nicht mehr hinreichend, wenn die zu diagnostizierenden Krankheitsbilder sehr viele Symptome aufweisen, von denen nur einige Wenige zu einer möglichen Diagnose führen können. Daraus ergeben sich viele Regeln, welche im Diagnoseprozess zu vielen vorgeschlagenen Diagnosen mit niedriger Wahrscheinlichkeit führen. Es besteht also die Notwendigkeit einen zweiten Auswertungsschritt mit einzubeziehen, um diese Sonderfälle adäquat behandeln zu können. Ebenso wichtig ist es, den potentiellen Anwender in solchen Fällen die korrekten Metainformationen anzubieten. Im Falle einer möglichen Diagnose von MS müssen dies beispielsweise relevante Folgeuntersuchen oder weitere Kriterien, wie z.B. die McDonald-Kriterien und die Poser-Kriterien sein.

In weiteren Schritten, werden wir die Wissensbasis ausbauen, den Prozess der Wissensgewinnung besser unterstützen.


Literatur

1.
Bickel A, Grunewald M. Ein Expertensystem für das Fachgebiet Neurologie - Möglichkeiten und Grenzen. Fortschritte der Neurol Psychiatr. 2006;12(74):723–31.
2.
Dinevski D, Bele U, Šarenac T, Rajkovič U, Šušteršič O. Clinical decision support systems. Stud Health Technol Inform. 2013 Dec;217–38.
3.
Josefiok M, Krahn T, Sauer J. A Survey on Expert Systems for Diagnosis Support in the Field of Neurology. Proceedings of the 7th KES International Conference on Intelligent Decision Technologies (KES-IDT 2015). 2015.
4.
Weiß JP, Josefiok M, Krahn T, Appelrath HJ. Entwicklung eines Fachkonzepts für die klinische Entscheidungsunterstützung durch Analytische Informationssysteme. Proceedings of the 12th International Conference on Wirtschaftsinformatik (WI2015). 2015.
5.
Spreckelsen C, Spitzer K. Wissensbasen und Expertensysteme in der Medizin [Internet]. Heinz H, Pöppl S, editors. Vieweg+Teubner; 2009.