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51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (gmds)

10. - 14.09.2006, Leipzig

„Der Gefoulte soll niemals selber schießen“ – Empirische Untersuchung einer alten deutschen Fußballerweisheit

Meeting Abstract

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  • Oliver Kuß - Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale)
  • Alexander Kluttig - Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale)
  • Oliver Stoll - Institut für Sportwissenschaft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (gmds). 51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. Leipzig, 10.-14.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06gmds029

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/gmds2006/06gmds005.shtml

Veröffentlicht: 1. September 2006

© 2006 Kuß et al.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung

Als Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft steht Deutschland in diesem Jahr im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Da erscheint es angezeigt, dass auch die universitären Institutionen, in denen angewandte Statistik betrieben wird, einen Teil ihrer Energie in fußballerische Themen investieren. In diesem Sinne haben wir uns die empirische Überprüfung einer alten deutschen Fußballerweisheit vorgenommen. Diese besagt, dass der im Strafraum Gefoulte den resultierenden Elfmeter niemals selber schießen soll, da für ihn ein erhöhtes Risiko bestehe, diesen zu verschießen. Bisherige Untersuchungen über den Wahrheitsgehalt dieser Weisheit [1], [2] waren vor allem deskriptiver Natur, ohne Verwendung von inferenz-statistischen Methoden. Insbesondere war noch nie die Anstrengung unternommen worden, den vermuteten Zusammenhang zwischen Selbstausführung und Torerfolg für mögliche Confounder zu adjustieren. Es wäre durchaus denkbar, dass erfahrene Spieler eher dazu tendieren, einen Elfmeter zu schießen, auch wenn sie selber gefoult worden sind. Gleichzeitig könnten diese Spieler aufgrund Ihrer Erfahrung auch bessere Elfmeterschützen sein. Erfahrung wäre dann ein Confounder im epidemiologischen Sinne, da er sowohl mit der Exposition (Selbstausführung) als auch mit der Zielgröße (Torerfolg) assoziiert wäre. Aus methodischer Sicht anspruchsvoll ist diese Confounderadjustierung, da man es hier mit korrelierten Beobachtungen zu tun hat, wobei anzunehmen ist, dass sich Korrelationen sowohl innerhalb der verschiedenen Schützen als auch innerhalb der verschiedenen Vereine ergeben. Bei Verwendung von gemischten Modellen zur Analyse [3] hätte man es somit mit zufälligen Effekten auf mehreren hierarchischen Ebenen zu tun, was (unter Berücksichtigung des binären Skalenniveaus der Zielgröße) eine gewisse Herausforderung an Schätzmethoden und verwendete Software darstellt.

Material und Methoden

In die Auswertung gingen alle Foulelfmeter der 1. Bundesliga von August 1993 bis Februar 2005 ein; die Daten waren uns freundlicherweise von der Firma IMP AG München für wissenschaftliche Auswertungen kostenlos zugänglich gemacht worden. Die folgenden Informationen standen für jeden Elfmeter zur Verfügung: Schütze, Verein des Schützen, dessen gegenwärtiger Tabellenstand, Heimvorteil, Alter des Schützen, Erfahrung des Schützen (Anzahl absolvierter Bundesligaspiele, Anzahl geschossener Bundesligatore, Anzahl bisher verwandelter und verschossener Elfmeter), Spielstand, Spielminute, Spieltag und, selbstverständlich, Torerfolg und Selbstausführung. Es wurden zwei logistische Regressionsmodelle (Modell I und II) mit jeweils zwei gemischten Effekten (Schütze und Verein des Schützen) berechnet. Im Modell I wurde geprüft, wie die eigentlich interessierende Exposition (Selbstausführung) mit den potentiellen Confoundern assoziiert ist. Ins Modell II, dieses für die tatsächlich interessierende Zielgröße Torerfolg, wurde die Exposition gemeinsam mit den signifikanten Einflussfaktoren aus Modell I eingeschlossen.

Ergebnisse

Im Beobachtungszeitraum waren von 229 verschiedenen Schützen aus 30 Vereinen 835 Foulelfmeter geschossen worden, 102 (= 12,2 %) dieser Foulelfmeter waren vom gefoulten Spieler selbst ausgeführt worden. Von diesen 102 selbstausgeführten Elfmetern waren 74 (= 72,6 %), von den verbliebenen 733 nicht-selbstausgeführten Elfmetern 547 (= 74,6 %) verwandelt worden. Dies ergibt ein rohes Odds Ratio von 0,90 [95 %-KI: 0,56 - 1,43; p = 0,65] für die Selbstausführung. Im Modell I wurden drei signifikante (p < 0,05) Prädiktoren für die Selbstausführung gefunden: Alter, Anzahl absolvierter Bundesligaspiele und Anzahl geschossener Tore, wobei jüngere, weniger erfahrene Spieler und erfolgreichere Torschützen eher zur Selbstausführung neigen. Daneben war auch der zufällige Schützeneffekt signifikant, d. h. es gibt eine signifikante Korrelation der Selbstausführung innerhalb der Schützen. In Modell II fand sich dagegen kein einziger signifikanter Prädiktor. Sowohl die Selbstausführung als auch die drei Confounder aus Modell I hatten keinen relevanten Einfluss auf die erfolgreiche Verwandlung des Elfmeters, das adjustierte Odds Ratio für Selbstausführung von 0,90 [95 %-KI: 0,56 - 1,45; p = 0,67] war praktisch identisch zum rohen Odds Ratio.

Diskussion

Unsere Untersuchung der besagten Fußballerweisheit hat ein klares Ergebnis erbracht: Auch nach Adjustierung für Confounder gibt es keinen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass der Gefoulte selber schießt und der erfolgreichen Verwandlung des Elfmeters. Überraschenderweise wurden auch keine anderen wichtigen Prädiktoren für eine erfolgreiche Verwandlung gefunden. Es ist zu vermuten, dass die Gruppe der Elfmeterschützen eine stark selektionierte Gruppe darstellt, die mental stark und resistent gegen externe Einflüsse wie Spielstand, Heimvorteil etc. ist. Diese mentalen Eigenschaften können mit den vorliegenden Daten jedoch leider nicht näher untersucht werden.


Literatur

1.
Eichler C. Lexikon der Fußballmythen. Frankfurt am Main: Eichborn; 2002.
2.
Drösser C. Stimmt’s? Verschossen. DIE ZEIT. 2003; 32: 25.
3.
Brown H, Prescott, R. Applied Mixed Models in Medicine. Chichester: John Wiley & Sons; 1999.