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Selbsteinschätzung der Prüfungsleistung im Fach Anatomie von Medizinstudierenden im ersten Fachsemester – Prävalenz des Dunning-Kruger-Effekts
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Veröffentlicht: | 30. Juli 2024 |
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Zielsetzung: Die Fähigkeit zur realistischen Selbsteinschätzung ist eine essenzielle Komponente bei der Identifikation eigener Stärken und Schwächen und der Koordination selbstgesteuerter Lernaktivitäten [1]. Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt dabei das Phänomen, dass geringes Wissen zu eigener Kompetenzüberschätzung bei gleichzeitiger Unterschätzung der Fähigkeiten anderer führt. Dies resultiert in fehlerhafter Selbsteinschätzung und einem Mangel an Bewusstsein für die eigene Inkompetenz [2], was selbstgesteuertes Lernen beeinträchtigen, die individuelle Lernkurve negativ beeinflussen und Patient*innen gefährden kann. Da sich Studierende im ersten Semester am Anfang ihrer Lernkurve befinden, könnten Interventionen an dieser Stelle besonders wirksam sein. Als Grundlage für die Entwicklung von Strategien zur Verbesserung der Selbsteinschätzung wurde die Selbsteinschätzungsfähigkeit bei Erstsemesterstudierenden erhoben.
Methoden: Während des SoSe 21, des WiSe 21/22 und des SoSe 22 wurde die akademische Leistung von Erstsemesterstudierenden an der Medizinischen Fakultät Tübingen anhand der mündlichen Anatomieprüfung bewertet (0 – 15 Punkte). Vor der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse wurden die Studierenden gebeten, ihre eigene Prüfungsleistung einzuschätzen. Die Teilnahme war freiwillig.
Ergebnisse: Die tatsächliche mittlere Punktzahl (M=10.58; SD=3.01) und die selbsteingeschätzte mittlere Punktzahl (M=10.32; SD=2.65) wiesen vergleichbare Werte auf. Die Differenz zwischen der selbstgegebenen und tatsächlichen Punktzahl, als Maß der Selbsteinschätzungsfähigkeit, reichte von -9 (Unterschätzung) bis +9 Punkte (Überschätzung), M=-.26; SD=2.59. Von allen Probanden (n=431) schätzten sich 18.5% korrekt ein, 35.3% überschätzten und 46.2% unterschätzten ihre Leistung. Die Korrelation zwischen tatsächlicher Punktzahl und Selbsteinschätzungsfähigkeit betrug ρ=-.573 (p=< .001), was den Dunning-Kruger-Effekt widerspiegelt: Schlechtere Prüfungsleistungen gehen mit größerer Überschätzung einher, während bessere Leistungen mit stärkerer Unterschätzung korrelieren (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Bei Frauen zeigte sich eine Korrelation von ρ=-.591 (p<.001), bei Männern von ρ=-.531 (p<.001). Der Anteil sich überschätzender Frauen (36.9%) war größer als der Anteil sich überschätzender Männer (30.9%).
Diskussion: Unrealistische Selbsteinschätzungen können auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden. So hat die zum Erhebungszeitpunkt bestehende COVID-19-Pandemie Lernumgebungen erheblich beeinflusst und kollaboratives Lernen stark eingeschränkt [3]. Das Fehlen von Vergleichsmöglichkeiten in diesem Kontext könnte potenziell zu unrealistischen Selbsteinschätzungen führen. Weitere Forschung ist erforderlich, um die geschlechtsspezifischen Differenzen, welche im Kontrast zur bisherigen Literatur stehen, zu klären.
Take Home Message: Die Selbsteinschätzung der Prüfungsleistung im Fach Anatomie von Studierenden im ersten Semester unterliegt dem Dunning-Kruger-Effekt.
Literatur
- 1.
- Arnold L, Willoughby TL, Calkins EV. Self-evaluation in undergraduate medical education: a longitudinal perspective. J Med Educ. 1985;60(1):21-28. DOI: 10.1097/00001888-198501000-00004
- 2.
- Kruger J, Dunning D. Unskilled and unaware of it: how difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. J Pers Soc Psychol. 1999;77(6):1121-1134. DOI: 10.1037//0022-3514.77.6.1121
- 3.
- Knof H, Berndt M, Shiozawa T. The influence of collaborative learning and self-organisation on medical students’ academic performance in anatomy. Ann Anat. 2024;251:152182. DOI: 10.1016/j.aanat.2023.152182