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Mehrtägige Exkursion zu NS-Täterorten der Medizin im Raum Berlin. Modellversuch für die Integration ins Curriculum des Medizinstudiums und anderer Gesundheitsberufe
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Veröffentlicht: | 30. Juli 2024 |
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Fragestellung/Zielsetzung: Erst kürzlich hat die „Lancet Commission on Medicine, Nazism and the Holocaust“ ihre Ergebnisse vorgestellt und die Bedeutung einer Integration historischer Reflexion und Erinnerung in die medizinische Ausbildung eingefordert [1]. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen scheinen diese Forderungen umso mehr zu bestätigen. Eine intensive Auseinandersetzung mit möglichen Motiven für das Medizinstudium anhand der historischen Entwicklungen, die Diskussion verschiedener wissenschaftstheoretischer Fragen im historischen Kontext und der Rolle von Wissenschaftsinstitutionen wie den Max-Planck-Instituten im NS-Staat, die Kenntnis gruppenbiografischer historischer Studien zu KZ-Ärzten, von Täter-Typologien oder personellen Kontinuitäten in die Zeit nach 1945 erscheinen wichtig für die Ausbildung eines adäquaten medizinischen Professionsverständnisses (vgl. [2]). Dabei spielen historische Orte der NS-Medizin-Täterschaft eine wichtige Rolle. Eine zusätzliche Qualität, so unsere These, scheint auch in der Verknüpfung mehrerer Orte im Rahmen von mehrtägigen Exkursionen zu liegen, um die Verbindungslinien zwischen Orten und Personen besser erfahrbar zu machen sowie ein besseres Verständnis für das dichte Geflecht zwischen NS-Ideologie und zahlreichen gesellschaftlichen Praxen eines totalitären Staates zu erlangen.
Methoden: Während es bereits Beispiele ausländischer Gruppen von Medizinstudierenden gibt, die in mehrtägigen Exkursionen NS-Täter-Orte in Deutschland aufsuchen (aus Spanien, Israel oder USA vgl. [3], siehe FASPE [https://www.faspe-ethics.org/]), findet sich eine entsprechend institutionalisierte Praxis unter deutschen Medizinstudierenden nicht. Erst recht ist eine solche Form von medizinischer Gedenkstättenpädagogik bzw. der Nutzung bestehender Angebote nicht fest in den Curricula verankert. Um diesem Umstand zu begegnen, haben sich verschiedene Institutionen in der Umgebung von Berlin zu einem offenen Netzwerk zusammengefunden und eine entsprechende Exkursion für Medizinstudierende der Charité organisiert: Am ersten Tag nach Brandenburg/Havel zur Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde und zum ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, am zweiten Tag zum ehemaligen Sanatorium Hohenlychen und zur ehemaligen NS-„Führerschule der deutschen Ärzteschaft“, am dritten Tag ins ehemalige KZ Sachsenhausen (mit der Ausstellung Medizin und Verbrechen).
Ergebnisse: Es ist von den Studierenden gewünscht, diese Exkursion jedes Semester stattfinden zu lassen, die nächste wird mit ausführlicher Evaluation erfolgen. Darüber hinaus war diese Veranstaltung als Modellversuch konzipiert, um Derartiges zukünftig fest in die Curricula zu integrieren. Außerdem wäre ein Abgleich mit der pädagogischen Praxis in anderen Disziplinen der Gesundheitsversorgung sinnvoll und wichtig.
Literatur
- 1.
- Czech H, Hildebrandt S, Reis SP, Chelouche T, Fox M, González-López E, Lepicard E, Ley A, Offer M, Ohry A, Rotzoll M, Sachse C, Siegel SJ, Šimůnek M, Teicher A, Uzarczyk K, von Villiez A, Wald HS, Wynia MK, Roelcke V. The Lancet Commission on medicine, Nazism, and the Holocaust: historical evidence, implications for today, teaching for tomorrow. Lancet. 2023;402(10415):1867-1940. DOI: 10.1016/S0140-6736(23)01845-7
- 2.
- Knigge V, editor. Jenseits der Erinnerung. Verbrechensgeschichte begreifen. Impulse für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende der Zeitgenossenschaft. Göttingen: Wallstein Verlag; 2022.
- 3.
- González-López E, Ríos-Cortés R. Visiting Holocaust: Related Sites in Germany with Medical Students as an Aid to Teaching Medical Ethics and Human Rights. Conatus J Phil. 2019;4(2):303-316. DOI: 10.12681/cjp.20963