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Messung der Ambiguitätstoleranz von Medizinstudierenden: eine Querschnittsstudie
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Veröffentlicht: | 20. August 2013 |
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Hintergrund: „Medizin ist die Wissenschaft des Ungesicherten, die Kunst des Wahrscheinlichen“ (W. Osler). Gerade vor dem Hintergrund der sich immer weiter etablierenden evidenzbasierten Medizin wird diese Erkenntnis immer präziser und präsenter. Die mit der zunehmenden Patientenautonomie einhergehende Informationspflicht gegenüber den Patienten erfordert Ärzte, die die Vieldeutigkeiten und Unsicherheiten aus Studienergebnissen zur Kenntnis nehmen, mit diesen umgehen und diese ertragen können. Messbar wird diese Fähigkeit in der individuellen Ambiguitätstoleranz (AT) [1]. Bisherige Studien deuten darauf hin, dass das Ausmaß der Ambiguitätstoleranz Auswirkungen auf Ängste und Frustration im Erleben des klinischen Alltags bis hin zur Patientenversorgung [2] und Wahl der Fachrichtung [3] hat.
Methoden: Im Rahmen einer Querschnittsstudie sollte die AT von Medizinstudierenden vom 1. bis 6. Studienjahr untersucht werden. Als Messinstrument diente das (um die Bereiche Elternbild und Rollenstereotypien gekürzte) Inventar zur Messung der Ambiguitätstoleranz (IMA) von J. Reis [4], so dass die Studierenden insgesamt 20 Fragen anhand einer 6-Punkt-Likert-Skala beantworten mussten.
Abgefragt wurden die AT der Offenheit für neue Erfahrungen (OE), für soziale Konflikte (SK) und für unlösbar scheinende Probleme (PR).
Ergebnisse: Es konnten 564 vollständige Datensätze in die Datenanalyse einbezogen werden. Das durchschnittliche Alter betrug 23,2 ± 3,8 Jahre, 38,5% der Teilnehmer waren männlich. Im Durchschnitt wurde von den Teilnehmern ein OE-Score von 21,88 Punkten (95%-CI 21,50–22,27), ein SK-Score von 23,79 Punkten (95%-CI 23,83–24,19) und ein PR-Score von 16,04 Punkten (95%-CI 15,66–16,42) erreicht (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).
Im Verhältnis zu den Referenzgruppen liegen die Medizinstudierenden bezüglich der AT-OE und AT-PR im 1-10%-Band. Männliche Medizinstudierende beschreiben sich in Bezug auf den Bereich der AT der Offenheit für neue Erfahrungen (OE-Score 22,65) etwas toleranter als weibliche Medizinstudierende (OE-Score 21,41; p<0,01).
Bezüglich der AT gegenüber sozialen Konflikten liegen die männlichen Studierenden im 61–70%-Band und die weiblichen Studierenden im 71–80%-Band. Weibliche Medizinstudierende beschreiben sich dementsprechend in diesem Bereich (SK-Score 24,14) bedeutsam toleranter als männliche (SK-Score 23,22, p<0,05).
Schlussfolgerungen: Zusammenfassend zeigen Medizinstudierende eine sehr niedrige Ausprägung bezüglich der Ambiguitätstoleranz der Offenheit für neue Erfahrungen und gegenüber unlösbar erscheinenden Problemen. Dabei zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede. Bemerkenswert ist, dass die AT im Studienverlauf leider nicht weiter relevant ansteigen. Die Auswirkungen auf den Umgang mit naturgemäß kontroversen Studienergebnissen müssen weiter untersucht werden.
Hoffnung gibt, dass die AT gegenüber sozialen Konflikten eine relativ hohe Ausprägung zeigt, d.h. dass Meinungsaustausch zu brisanten und kontrovers diskutierten Themen gesucht wird.
Literatur
- 1.
- Dorsch F. Psychologisches Wörterbuch. Bern: Verlag Hans Huber; 1982. S. 31
- 2.
- Wayne S, Dellmore D, Serna L, Jerabek R, Timm C, Kalishman S. The association between intolerance of ambiguity and decline in medical students' attitudes toward the underserved. Acad Med. 2011;86(7):877–882. DOI: 10.1097/ACM.0b013e31821dac01
- 3.
- Nevalainen MK, Mantyranta T, Pitkala KH. Facing uncertainty as a medical student--a qualitative study of their reflective learning diaries and writings on specific themes during the first clinical year. Patient Educ Couns. 2010;78(2):218–223. DOI: 10.1016/j.pec.2009.07.011
- 4.
- Reis J. Ambiguitätstoleranz. Beiträge zur Entwicklung eines Persönlichkeitskonstrukts. Heidelberg: Asanger; 1997.