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20. Jahrestagung der Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie (GAA)

Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie

05.12. - 06.12.2013, Düsseldorf

Methodische Herangehensweisen zur Erfassung von Multimedikation in der Arzneimittel-Dauertherapie

Meeting Abstract

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Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie e.V. (GAA). 20. Jahrestagung der Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und Arzneimittelepidemiologie. Düsseldorf, 05.-06.12.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. Doc13gaa23

doi: 10.3205/13gaa23, urn:nbn:de:0183-13gaa232

Veröffentlicht: 25. November 2013

© 2013 Bellmann et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Multimedikation ist ein häufig feststellbares Phänomen in der Arzneimitteltherapie, das in letzter Zeit vermehrt Aufmerksamkeit erhalten hat [1]. Es betrifft nicht ausschließlich ältere medikamentös therapierte Menschen, tritt bei diesen krankheitsbedingt jedoch häufiger auf als bei Jüngeren [2].

Ziel der Untersuchung ist es, anhand von umfangreichen Sekundärdaten einer deutschen gesetzlichen Krankenversicherung: a) eine Methodik zur Erfassung von Chronizität in der Arzneitherapie zu bestimmen und b) darauf aufbauend das Ausmaß und den Umfang von Multimedikation mit solchen dauerhaft verordneten Arzneimitteln darzulegen.

Material und Methoden: 1) Literaturrecherche nach den Stichworten: „Polypharmazie“, „Multimedikation“, „Arzneimittel“, „Multimorbidität“, „Komorbidität“, „Komedikation“, „Polypharmakotherapie“ und mittels der englischen Suchbegriffe „multiple medication(s)“, „polypharmacy“, „polypharmacotherapy“, „multidruguse“, „multimorbidity“, „comorbidity“ in den Datenbanksuchmaschinen: Medline® und Embase® über die Dienstleistungsanbieter DIMDI, PubMed© und GoogleTM, (Google ScholarTM).

2) Sekundärdatenanalysen: Datenbasis: Routinedaten der AOK Hessen (n = 1,485 Mio. Versicherte) Basispopulation: durchgängig versicherte Arzneimittelempfänger (n = 1,027 Mio. Versicherte), Studienpopulation: Arzneimittelempfänger mit Verordnungen ausschließlich aus öffentlichen Apotheken, ohne ATC: „D“ = Dermatika, „V“ = Varia, „J07“ = Impfstoffe: n = 1.011.434 Versicherte.

Definitionen: Reichweite einer Arzneimittelverordnung: Bestimmung anhand der DDD (defined daily dose) mittels vier verschiedener Methoden: a) 1 DDD pro Kalendertag (M1), b) arithmetisches Mittel der rechnerischen pDD (prescribed daily dose) eines Wirkstoffs (7-stelliger ATC-Code) pro Kalendertag (M2a), c) Median der rechnerischen pDD eines Wirkstoffs (7-stelliger ATC-Code) pro Kalendertag (M2b), d) individuelle pDD (je Fall und je Wirkstoff (7-stelliger ATC-Code)) pro Kalendertag (M3).

Arzneimitteltherapie in dauerhafter Verordnung: 80% Coverage (Erfüllung des Zeitintervalls) auf Basis der Arzneimittelreichweitendauer für die Tage von der ersten bis zur letzten Verordnung im Beobachtungszeitraum: 1.1.–31.12.2009.

Arzneimittelempfänger mit 80%-Coverage: Person der Studienpopulation mit mindestens einem Arzneimittel in dauerhafter Verordnung im Beobachtungszeitraum. Zusätzlich verordnete Medikation: Arzneimittel, die nicht das Kriterium „dauerhafte Verordnung“ erfüllen. Gesamtmedikation: Summe der Arzneimittel in dauerhafter Verordnung und zusätzlich verordneter Arzneimittel je Person.

Ergebnisse: 1) Die Literaturrecherche diente der Erarbeitung der Analysenmethodik.

2) Hinsichtlich der vier Bestimmungsmethoden (M1, M2a, M2b, M3) der Anzahl dauerhaft verordneter Arzneimittel je Person ergeben sich deutliche Unterschiede zum einen in der Anzahl an Personen mit solchen dauerhaft verordneten Arzneimitteln (sog. Arzneimittelempfänger mit 80%-Coverage) und zum anderen in der Anzahl dieser Arzneimittel je Person. Umgekehrt proportional variiert das Ausmaß der den Arzneimittelempfängern mit 80%-Coverage zusätzlich verordneten Medikation je Person. Nach Methode M1 konnten 426.858 Personen (41,6% der Basispopulation, 28,8% der Versicherten) als chronische Arzneimittelanwender identifiziert werden (M2a: 44,03%, M2b: 51,74%, M3: 56,85% der Basispopulation). 41,6% der Basispopulation erhalten nach Methode M1 in der Gesamtmedikation mindestens ein Arzneimittel (7-stelliger ATC-Code) und 30,1% mindestens fünf Arzneimittel. In der Bestimmungsmethode M3 sind es 56,9% mit mindestens einem und 38,2% mit fünf oder mehr Arzneimitteln in der Gesamtmedikation.

Die Betrachtung der vier Methoden hinsichtlich der Anteile an Arzneimittel in dauerhafter Verordung und zusätzlich verordneter Medikation zeigt auf, dass mit zunehmender Individualisierung der DDD- bzw. pDD-Berücksichtigung immer mehr Wirkstoffe je Person als Arzneimittel in dauerhafter Verordnung klassifiziert werden und entsprechend immer weniger Wirkstoffe in die Kategorie der zusätzlich verordneten Medikation fallen. Gleichzeitig liegen immer höhere Mittelwerte, Medianwerte und Streubreiten (90%-Konfidenzintervall) für die Anzahl der Arzneimittel in dauerhafter Verordung vor.

Schlussfolgerung: Die Definition der Multimedikation auf Basis von dauerhaft („chronisch“) verordneten Arzneimitteln zeigt in der vorliegenden Arbeit eine hohe Variabilität der Anzahl an betroffenen Personen je nach zugrundeliegender Bestimmungsmethode und der gewählten Messgröße zur Einteilung in das Vorliegen von Multimedikation. Mit diesem Vorgehen unterscheidet sich die Arbeit von den meisten Untersuchungen zum Themenkomplex. Die engere Definition erscheint aus pharmazeutischem Blickwinkel sinnvoll um die tatsächliche Arzneimittelbelastung eines Patienten über einen längeren Zeitraum zu bewerten. Weitere Arbeiten mit gleichen Grundannahmen wären wünschenswert, um die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung für die GKV in Deutschland zu bestätigen. Insbesondere in Bezug auf bestimmte Patientengruppen, z.B. Kinder bis zu einem Alter von 14 Jahren und hochbetagte Personen über 85 Jahre ist zu vermuten, dass einzelne der vier methodischen Vorgehensweiten diskussionswürdig sind.

Multimedikation ist kein von vornherein negativ konnotierter Begriff und auch bei jedweder Definition kein gänzlich vermeidbares Arzneimittelversorgungsphänomen. Stattdessen erscheint es sinnvoll zwischen (klinisch) angemessener und unangemessener Multimedikation zu unter-scheiden. Die Gesundheitsprofessionen sind gefordert, den Umgang mit Multimedikation strukturiert zu handhaben und Lösungen vor allem für eine unangebrachte Arzneitherapie anzubieten.


Literatur

1.
Thuermann PA, Holt S, Nink K, Zawinell A. Arzneimittelversorgung älterer Patienten. In: Günster C, Klose J, Schmacke N, eds. Versorgungs-Report 2012. Stuttgart: Schattauer Verlag; 2012. p. 111-30.
2.
Baum S, Hempel G. Geriatrische Pharmazie. Eschborn: Govi-Verlag Pharmazeutischer Verlag GmbH; 2011.