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Der normative Prozess der Leitlinienentwicklung am Beispiel der beiden interdisziplinären Leitlinien zu Fibromyalgie und Funktionellen Störungen
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Veröffentlicht: | 14. September 2011 |
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Hintergrund: Soziologische, historische und kulturanalytische Arbeiten können durch die Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung medizinischen Wissens, einen wichtigen Beitrag leisten, neue Krankheitskonstruktionen und deren implizierten Folgen als unverrückbare Wahrheiten in Frage zu stellen. Denn aus dieser alltagsweltlichen Gewissheit heraus kann sich erst die Dringlichkeit bzw. Durchsetzungsfähigkeit des von dem Krankheitskonstrukt abgeleiteten medizinischen Handlungsbedarfs entwickeln. Die Relativierung medizinischen Wissens in der Ausgestaltung der gesundheitlichen Versorgung ermöglicht den Zugang für alternative Deutungen sowohl von den Krankheitsphänomenen selbst als auch deren Prävention und Behandlung. Damit aber eröffnen sich auch neue Argumente für die Debatte einer rationalen gesundheitlichen Versorgung, die derzeit stark von der Logik biomedizinischer und ökonomischer Rationalität geprägt ist. In der letzten Dekade haben vor allem fachbezogene und interdisziplinäre Leitlinien für die Disseminierung medizinischen Wissens an Bedeutung gewonnen.
Material und Methoden: Untersuchungsgegenstand sind die beiden interdisziplinären Leitlinien zur Fibromyalgie und zu Funktionellen Störungen, die beide trotz unsicherer ätiologischer Konzepte häufige Beschwerdebilder Krankheitsentitäten generieren. Anhand der Entwicklung der beiden Leitlinien wird die von der Steuerungsgruppe vereinbarte Methodik im Vorgehen bei der Leitlinienentwicklung (Strukturqualität), der konsensuelle Gruppenprozess in der Bearbeitung und Gewichtung der vorhandenen Literatur hinsichtlich der Erarbeitung der Empfehlungen analysiert (Prozessqualität). Ebenfalls werden wichtige Teile der Leitlinienempfehlungen dargestellt und analysiert (Ergebnisqualität).
Ergebnisse: Zusammensetzung der interdisziplinären Leitliniengruppe und gesetzte Rahmenbedingungen haben einen sehr starken Einfluss auf das Ergebnis, das sich in den Empfehlungen niederschlägt. Die Tatsache, dass es nur wenig evidenzbasiertes Wissen auf Studienbasis zum Thema gibt, bedeutete einen enormen Einfluss auf das Konsensusverfahren. Bei fehlender oder schwacher Evidenzen bekommt das Konsensusverfahren einen bedeuteten Einfluss bei der Empfehlungsstärke.
Schlussfolgerung/Implikation: Durch die Rekonstruktion des Leitlinienprozess als ein im höchsten Maße normativen Prozess der am Leitlinienprozess beteiligten Akteure sollen die Auswirkungen auf künftiges hausärztliches Handeln durch die beiden S3-Leitlinien diskutiert werden in Hinblick auf mögliche Wahrnehmungs-, Deutungsprozesse und Handlungsstrategien, die durch die Umsetzung der beiden Leitlinien zu erwarten sind. Mögliche durch die Leitlinien geweckte Patientenerwartungen sollen in die Betrachtung einbezogen werden.
Literatur
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- Eich W, Häuser W, Friedel E, Klement A, Herrmann M, Petzke F, Offenbächer M, Schiltenwolf M, Sommer C, Tölle T, Henningsen P. Definition, Klassifikation und Diagnose des Fibromyalgiesyndroms. Der Schmerz. 2008;22(3):255-66.
- 2.
- Klement A, Häuser W, Brückle W, Eidmann U, Felde E, Herrmann M, Kühn-Becker H, Offenbächer M, Settan M, Schiltenwolf M, von Wachter M, Eich W. Allgemeine Behandlungsgrundsätze, Versorgungskoordination und Patientenschulung beim Fibromyalgiesyndrom und chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen. Der Schmerz. 2008;22(3):283-94.
- 3.
- Herrmann M, Klement A. Grenzen der Umsetzbarkeit von Evidenz in Leitlinien – Analyse am Beispiel der interdisziplinären S3-Leitlinie zum Fibromyalgie-Syndrom. Zeitschrift für Allgemeinmedizin. 2008;84:436-43.