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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Entwicklung und Pilotierung einer komplexen Intervention zur Reduktion von freiheitsentziehenden Maßnahmen im Krankenhaus: eine Mixed-Methods-Studie

Meeting Abstract

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  • Ralph Möhler - Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Bielefeld, Germany
  • Jens Abraham - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Halle (Saale), Germany
  • Rüdiger Neef - Universitätsklinikum Halle (Saale), Universitätsklinik und Poliklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Halle (Saale), Germany
  • Gabriele Meyer - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Halle (Saale), Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf476

doi: 10.3205/19dkvf476, urn:nbn:de:0183-19dkvf4767

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Möhler et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM) wie Bettgitter oder Gurte in Bett oder Stuhl werden regelmäßig in Krankenhäusern bei der Versorgung von Menschen mit Demenz oder Delirium eingesetzt; für Deutschland ist eine Prävalenz von 12% berichtet (Krüger et al. 2013, Int J Nurs Stud). FEM stellen einen massiven Eingriff in die Freiheitsrechte der Patienten dar und können sich negativ auf deren Genesung und Rehabilitation auswirken. Gründe für die Anwendung von FEM sind die Sicherung von zu- und ableitenden Systemen (wie Sonden, Drainagen) und die Vermeidung von potentiellen Stürzen bzw. sturz-bedingten Verletzungen. Der Nutzen von FEM ist nicht belegt, es gibt jedoch Hinweise auf unerwünschte Folgen der Demobilisierung. Für den Bereich der Akutpflege wurden zwar in verschiedenen Ländern Interventionen entwickelt, Wirksamkeitsstudien zu diesen Interventionen stehen aber noch aus. Aus Deutschland konnten keine Interventionen identifiziert werden.

Fragestellung: Ziel des Projekts war die Entwicklung und Pilotierung einer Intervention zur Reduktion von FEM im Akutkrankenhaus. Daraus ergaben sich die Fragestellungen:

1.
Welche Komponenten sollte eine Intervention beinhalten, um FEM im Akutkrankenhaus in Deutschland zu reduzieren?
2.
Ist die entwickelte Intervention umsetzbar und geeignet, FEM zu reduzieren?

Methode: Orientiert am Modell zur Entwicklung und Evaluation komplexer Interventionen (Craig et al. 2008, BMJ) wurde theoriegeleitet und auf Basis des aktuellen Wissens eine Intervention entwickelt, auf Praktikabilität hin überprüft und in zwei Abteilungen einer Universitätsklinik (Alterstraumatologie und Neurologie) pilotiert. Die Pilotstudie beinhaltete einen qualitativen Studienteil zur Überprüfung der Praktikabilität und Prozesse und einen quantitativen Teil zur Erhebungen der Anzahl von Patienten mit mindestens einer FEM (aus der Routinedokumentation) vor und 6 Monate nach der Intervention.

Ergebnisse: Auf Basis einer systematischen Aufarbeitung der Evidenz zum Thema und geleitet durch die Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen 1985) wurde eine komplexe Intervention mit einem multidisziplinären Ansatz entwickelt. Sie beinhaltet verschiedene Komponenten: intensive Schulung von Multiplikatoren, kurze Informationsveranstaltung zur Reduktion von FEM für Mitarbeiter aus den an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen, Initiierung von regelmäßigen Audit- und Feedback-Runden zur Selbstevaluation und Verbesserung der Umsetzung der Intervention, sowie die explizite Unterstützung der pflegerischen und ärztlichen Leitungsebene. Die Multiplikatorenschulung beinhaltet die Vermittlung von Wissen zum fehlenden Nutzen und den unerwünschten Wirkungen von FEM, praxisnahe Strategien zu deren Vermeidung und die Diskussion von Fallbeispielen aus der Versorgungspraxis.

Die Ergebnisse des qualitativen Teils der Pilotierungsstudie zeigen, dass die Intervention grundsätzlich umsetzbar ist und von den Beteiligten als hilfreich eingeschätzt wird. Allerdings konnte der multidisziplinäre Ansatz bei einigen Komponenten nicht wie geplant umgesetzt werden und die Audit- und Feedback-Runden wurden nicht so regelmäßig implementiert wie geplant. Im quantitativen Teil der Studie wurden insgesamt n=258 (Baseline) und n=272 (nach 6 Monaten) Patienten auf den beteiligten Stationen eingeschlossen. Es zeigte sich nahezu keine Veränderungen der FEM-Häufigkeit, bei einer niedrigen Ausgangsprävalenz (Baseline n=4 Patienten mit mind. einer FEM und n=2 Patienten nach 6 Monaten). Als wichtigste Barriere für eine nachhaltige Reduktion der Anwendung von FEM wurde die hohe Arbeitsverdichtung genannt, die eine engmaschige Beobachtung des Verhaltens von Patienten mit kognitiven Einschränkungen erschwert.

Diskussion: Die Intervention konnte theoriegeleitet und auf Basis des aktuellen Wissens entwickelt werden und das Interventionskonzept wurde von den beteiligten Pflegenden als hilfreich und umsetzbar eingeschätzt. Allerdings ist es nicht gelungen, den multidisziplinären Ansatz wie geplant umzusetzen. Hier ist eine Weiterentwicklung der Intervention hinsichtlich der Stärkung des multidisziplinären Ansatzes nötig. Außerdem ist eine Überprüfung der Umsetzbarkeit der Intervention in weiteren Fachbereichen nötig, bevor der Nutzen der Intervention in einer klinischen Studie überprüft werden kann.

Praktische Implikationen: Aufgrund der rechtlichen und ethischen Implikationen von FEM und den potentiell negativen Auswirkungen auf die Patienten ist deren Reduzierung im Krankenhaus von hoher Relevanz. Die in diesem Projekt entwickelte und pilotierte Intervention muss weiterentwickelt werden, bevor sie in einer Wirksamkeitsstudie überprüft werden kann.