Artikel
Welche Datenbasis eignet sich zur Surveillance von Angststörungen? Diskrepanzen zwischen Survey- und GKV-Routinedaten
Suche in Medline nach
Autoren
Veröffentlicht: | 2. Oktober 2019 |
---|
Gliederung
Text
Hintergrund: Für die Surveillance der psychischen Gesundheit in der Bevölkerung sind aussagekräftige Kennwerte notwendig. Wenn die Häufigkeit psychischer Störungen auf Basis von Primärdaten aus Bevölkerungssurveys und auf Basis von Sekundärdaten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ermittelt wird, zeigen sich jedoch wesentliche Diskrepanzen. Dies ist für Depression bereits gut belegt. Für Angststörungen existiert eine systematische Gegenüberstellung von Survey- und GKV-Routinedaten aus Deutschland bisher nicht. Ergebnisse zur Übereinstimmung bzw. spezifischen Aussagekraft beider Datenquellen können dazu beitragen, eine geeignete Evidenzbasis für Prävention und Versorgung auszuwählen.
Fragestellung: Wie unterscheidet sich die Häufigkeit von Angststörungen bei Schätzung auf Basis verschiedener etablierter Indikatoren aus Survey- und GKV-Routinedaten?
Methode: Drei Indikatoren werden für das Jahr 2010 gegenübergestellt: In dem bevölkerungsrepräsentativen Befragungs- und Untersuchungsurvey „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS1) wurden 1) selbstberichtete ärztliche Diagnosen von Angststörungen erfragt (n=6.838) sowie 2) im Zusatz-Modul Mental Health (DEGS1-MH) Diagnosen mittels standardisiertem klinischen Interview (Composite International Diagnostic Interview, CIDI) gestellt (n=4.332). In Routinedaten einer gesetzlichen Krankenkasse (BARMER) wurden 3) administrativ erfasste Diagnosen von Angststörungen ermittelt (n=6.472.488), die bei mindestens zwei Behandlungsfällen im Jahr 2010 (M2Q) dokumentiert wurden. 12-Monats-Prävalenzen werden gewichtet und nach Alter, Geschlecht und Bundesland stratifiziert dargestellt. In zwei Sensitivitätsanalysen wurden 1) privat versicherte Surveyteilnehmende ausgeschlossen und wurde 2) das Aufgreifkriterium der administrativen Diagnose variiert durch zusätzliche Betrachtung von nur einmalig in 2010 (M1Q) kodierten Diagnosen.
Ergebnisse: In der Altersgruppe der 20- bis 79-Jährigen variiert die 12-Monats-Prävalenz für Angststörungen je nach betrachteter Datenbasis. Im Jahr 2010 erfüllen 16,4% (95%-KI: 14,7-18,1%) der Studienteilnehmenden die Kriterien einer Angststörung gemäß CIDI-Interview. Dagegen berichten nur 3,1% (95%-KI: 2,4-3,7%), dass sie eine ärztliche Angststörungsdiagnose in der Versorgung erhalten haben. Mit 1,8% (95%-KI: 1,8-1,8%) fällt die Häufigkeit kodierter Diagnosen von Angststörungen in GKV-Routinedaten am geringsten aus.
Im Altersverlauf bleibt die Häufigkeit von Angststörungen nach CIDI-Diagnose von 20 bis 59 Jahre konstant und fällt danach ab. Dagegen steigt die GKV-Diagnose bis zur Altersgruppe 50 bis 59 Jahre stetig an, sinkt jedoch gleichermaßen ab 60 Jahren. Die selbstberichte ärztliche Diagnose schwankt stärker und liegt in der Altersgruppe von 50 bis 59 Jahren am höchsten.
Während Angststörungen in der Versorgung (GKV-Diagnose und selbstberichtete ärztliche Diagnose) in den neuen Bundesländern signifikant seltener kodiert werden sowie in Berlin am höchsten liegen, bestehen in der standardisiert erfassten Diagnose im CIDI-Interview keine regionalen Unterschiede.
Werden nur GKV-versicherte Survey-Teilnehmende betrachtet, steigt die Häufigkeit von Angststörungen gemäß CIDI-Diagnose auf 17,6%.
Bei Berücksichtigung von administrativen Diagnosen von Angststörungen, die im Jahr 2010 nur einmalig dokumentiert wurden (M1Q) liegt deren Prävalenz 1,5 mal so hoch wie die der zumindest zweimalig kodierten Störungen (M2Q).
Diskussion: Die Häufigkeit von Angststörungen in der Bevölkerung gemäß CIDI-Interview liegt mehr als neun Mal so hoch wie in GKV-Routinedaten. Ein Teil dieser Diskrepanz ist vermutlich dadurch begründet, dass nicht alle Personen auch Behandlungsbedarf erleben, die im Survey die diagnostischen Kriterien einer Angststörung erfüllen (insbesondere bei spezifischen Phobien). Das hohe Maß der Abweichung bleibt aber erklärungsbedürftig und reflektiert zugleich eine ungünstige Versorgungslage von Angststörungen durch möglicherweise fehlendes Hilfesuchverhalten, mangelnde Sensitivität v.a. der primärärztlichen Diagnostik und eine geringe Behandlungsrate. Auf Optimierungsbedarfe in der Arzt-Patienten-Kommunikation deutet der Befund hin, dass Surveyteilnehmende mehr ärztliche Diagnosen von Angststörungen berichten, als in GKV-Routinedaten tatsächlich dokumentiert sind.
Praktische Implikationen: Auf Basis vergleichbarer Erfahrungen wird z.B. in Kanada eine kombinierte Surveillance von affektiven Störungen und Angststörungen in Sekundärdaten vorgeschlagen. Für Deutschland ist zu bilanzieren, dass sich GKV-Routinedaten nicht eignen, um die Häufigkeit von Angststörungen in der Bevölkerung abzubilden, für die Beschreibung der Versorgungslage aber unerlässlich sind.