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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Können Anker-Vignetten helfen, den individuellen Bewertungsprozess von Lebensqualität besser zu verstehen? Eine kritische Reflexion der Anker-Vignetten-Methode

Meeting Abstract

  • Janine Topp - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Versorgungsforschung i. d. Dermatologie u. bei Pflegeberufen (IVDP), Hamburg, Germany
  • Christoph Heesen - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Hamburg, Germany
  • Valerie Frederike Andrees - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Versorgungsforschung i. d. Dermatologie u. bei Pflegeberufen (IVDP), Hamburg, Germany
  • Matthias Augustin - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Versorgungsforschung i. d. Dermatologie u. bei Pflegeberufen (IVDP), Hamburg, Germany
  • Christine Blome - Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Versorgungsforschung i. d. Dermatologie u. bei Pflegeberufen (IVDP), Hamburg, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf323

doi: 10.3205/19dkvf323, urn:nbn:de:0183-19dkvf3232

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Topp et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Gesundheitsbezogene Lebensqualität (HRQoL) ist ein komplexes und subjektives Konstrukt, welches mittels standardisierter Fragebögen erfasst wird. Der Einsatz von Anker-Vignetten zielt darauf ab, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie Patienten das Konstrukt und den zugrundeliegenden Fragebogen verstehen. Dazu schätzen Patienten kurze Fallbeispiele fiktiver Patienten, sogenannte Anker-Vignetten, im Hinblick auf ihre HRQoL ein. Ob Anker-Vignetten tatsächlich dabei helfen, den Bewertungsprozess und das Antwortverhalten zu analysieren, ist nicht eindeutig geklärt. Am Beispiel einer Längsschnittstudie, die auf die Identifizierung und Analyse von Response Shift abzielte, skizzieren wir unsere Erkenntnisse aus der Anwendung von Anker-Vignetten im Rahmen der HRQoL-Messung.

Fragestellung: Wie nützlich sind Anker-Vignetten, um zu analysieren, wie Patienten das Konstrukt HRQoL und den zugrundeliegenden Fragebogen verstehen und bewerten?

Methode: Die Vignettenmethode wurde im Rahmen einer explorativen Mixed-Method Studie verwendet. 100 Patienten mit chronischer Erkrankung (50 mit multipler Sklerose und 50 mit Psoriasis) bewerteten die HRQoL von Anker-Vignetten anhand des SF-12-Fragebogens zu Studienbeginn sowie 3 bis 6 Monate später. Neben dieser quantitativen Einschätzung der Vignetten wurde der zugrundeliegende Bewertungsprozess mit Hilfe der Think-aloud-Methode genauer untersucht: Patienten wurden zu beiden Zeitpunkten gebeten, ihre Vignetteneinschätzungen verbal zu begründen.

Ergebnisse: Insgesamt schien der Nutzen von Anker-Vignetten im Hinblick auf die Analyse von Bewertungsprozess und Antwortverhalten begrenzt. Diese Schlussfolgerung basiert auf den folgenden Beobachtungen. Identische Anker-Vignetten wurden zu Studienbeginn und 3-6 Monate später nicht identisch eingeschätzt; Intraklassen-Korrelationskoeffizienten von < 0,55 deuten insgesamt auf eine schlechte Übereinstimmung der Vignetten-Einschätzungen hin. Gleichzeitig zeigte sich aber auch keine systematische Änderung der Einschätzung der Anker-Vignetten (t-Tests bei verbundenen Stichproben). Diese ungerichtete Veränderung der Einschätzung identischer Anker-Vignetten bestätigt weder eine gute Retest-Reliabilität der Methode noch eine systematische Veränderung des Bewertungsprozesses (Response Shift). Um zu prüfen, ob sich die veränderten Vignetten-Einschätzungen im Bewertungsprozess wiederspiegeln, wurden die verbalen Begründungen der Patienten genauer analysiert. Drei Wissenschaftler bewerteten unabhängig voneinander, ob sich die Begründungen einzelner Patienten im Zeitverlauf unterschieden. Hierbei zeigte sich jedoch eine schlechte Interrater-Übereinstimmung, die sich auch in einem Konsens-Meeting nicht aufheben ließ. Demzufolge scheinen die verbalisierten Begründungen ebenfalls keine zuverlässige Datenquelle für die Analyse des individuellen Bewertungsprozesses zu sein.

Diskussion: Die Einschätzung identischer Anker-Vignetten durch dieselben Patienten unterschied sich im Laufe der Zeit. In diesem Zusammenhang erwies sich die Think-aloud-Methode als ungeeignet, um zu untersuchen, ob diese Unterschiede auf Veränderungen im individuellen Bewertungsprozess zurückzuführen sind. Die Ergebnisse basieren auf einer explorativen Studie mit spezifischer Zielgruppe. Sie deuten jedoch darauf hin, dass Anker-Vignetten möglicherweise nicht geeignet sind, um den individuellen Bewertungsprozess und das Antwortverhalten hinsichtlich HRQoL zu analysieren.

Praktische Implikation: Für eine umfassende und präzise Analyse von HRQoL in Forschung und klinischer Praxis benötigen wir mehr Wissen darüber, wie Patienten das Konstrukt und den zugrundeliegenden Fragebogen verstehen. Anker-Vignetten sind eine mögliche Methode, um dieses Wissen zu vertiefen. Die vorliegende Studie zeigt allerdings, dass der Nutzen der Methode nicht bestätigt werden konnte.