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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Gesundheitskompetenz und die (Nicht)Inanspruchnahme der gynäkologischen Versorgung von Frauen 50+ – Ergebnisse einer qualitativen Telefonbefragung 2018

Meeting Abstract

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  • Cornelia Thierbach - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Allgemeinmedizin, Berlin, Germany
  • Lorena Dini - Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Allgemeinmedizin, Berlin, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf294

doi: 10.3205/19dkvf294, urn:nbn:de:0183-19dkvf2941

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Thierbach et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Gliederung

Text

Hintergrund: Im Altersverlauf bleibt die allgemeinärztliche Inanspruchnahme bei Frauen konstant hoch, während die Inanspruchnahme der ambulanten gynäkologischen Versorgung mit zunehmendem Alter kontinuierlich abnimmt. Im Durchschnitt nehmen 41% der Frauen ab 50 Jahren in Deutschland eine gynäkologische Versorgung nicht mehr jährlich in Anspruch, obwohl auch in diesem Alter Beratungs- und Behandlungsanlässe in Bezug auf die Frauengesundheit vorliegen. Wechseljahresbeschwerden, Osteoporose, Probleme mit der Blase, operative Eingriffe und Krebsfrüherkennung sind die häufigsten Gründe zur Konsultation einer gynäkologischen Praxis. Eine geringe Gesundheitskompetenz wurde mit einer reduzierten Inanspruchnahme und einem schlechteren Gesundheitszustand assoziiert. Zugangsbarrieren zur gynäkologischen Versorgung betreffen vor allem Frauen mit niedrigem sozioökonomischem Status und ältere Frauen.

Fragestellung: Wie gestaltet sich die Inanspruchnahme der gynäkologischen Versorgung von Frauen 50+? Welche Gründe für eine Nichtinanspruchnahme können auf eine reduzierte Gesundheitskompetenz hinweisen?

Methode: Im Projekt „Frauen 5.0“ (Innovationsfonds, FKZ 01VSF16030) wurden von Juni bis September 2018 25 Frauen über 50 Jahren aus der Region Nordost (Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern) mittels qualitativer leitfadengestützter Telefoninterviews befragt. Dabei ging es u.a. um ihr Verständnis von Frauengesundheit, um ihre gynäkologische und hausärztliche Betreuung, die Zugänglichkeit zur gynäkologischen und hausärztlichen Praxis sowie um ihre Einschätzung der frauengesundheitlichen Versorgung in ihrer Region. Sie wurden von Hausärztinnen und Hausärzten rekrutiert und bewusst nach Region (Berlin n = 8, Brandenburg n = 9, Mecklenburg-Vorpommern n = 8) und Altersgruppe (50-64 Jahre n = 11, 65-74 Jahre n = 6, über 75 Jahre n = 8) ausgewählt. Alle interviewten Frauen sind in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert und mit unterschiedlichen Erkrankungen vorbelastet. Sechs der interviewten Frauen nahmen keine gynäkologische Versorgung mehr in Anspruch. Die Interviews wurden transkribiert und mit der Framework Analyse ausgewertet.

Ergebnisse: Frauengesundheit wurde häufig mit der gynäkologischen Krebsfrüherkennung assoziiert. Der wichtigste Primärversorger für Frauengesundheit ist die Gynäkologin/der Gynäkologe. Patientinnen, die nicht mehr zur Gynäkologin/zum Gynäkologen gehen, nahmen weiterhin das Mammografie-Screening in Anspruch. Für Frauen, die nicht mehr die gynäkologische Versorgung wahrnehmen, wurde die Hausärztin/der Hausarzt als Ansprechpartner/in für Frauengesundheit gesehen, die/der u.a. auch informieren und motivieren kann. Für alle interviewten Frauen wurde das Reden über sexuelle Gesundheit und gynäkologische Belange mit der Hausärztin/mit dem Hausarzt als unproblematisch beschrieben, wenn sie darauf direkt angesprochen werden würden. Die Nichtinanspruchnahme der gynäkologischen Versorgung von Frauen über 50 Jahren wurde sowohl auf persönliche als auch auf gesundheitssystemische Barrieren zurückgeführt. Persönliche Gründe umfassten Alter, keine Zeit, keine Symptome, Scham/Angst vor der gynäkologischen Untersuchung, eigene Erkrankungen oder Erkrankungen des Partners. Gesundheitssystemische Gründe beinhalteten fehlende Stammpraxis, große Entfernung, Probleme bei Terminvereinbarungen und lange Wartezeiten.

Diskussion: Mit dem Begriff der Gesundheitskompetenz wird das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten von Menschen beschrieben, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag in gesundheitsrelevanten Bereichen Entscheidungen treffen zu können (Sørensen et al. 2012). Die Untersuchung zeigte, dass die Inanspruchnahme gynäkologischer Leistungen sowohl mit der Gesundheitskompetenz wie auch mit gesundheitssystemischen Faktoren wie der Zugänglichkeit zusammenhängt. Zu fragen ist demnach, wie das Gesundheitssystem gestaltet werden kann, damit ein gesundheitskompetentes Verhalten von Frauen über 50 Jahren unter Berücksichtigung individueller Voraussetzungen (value based healthcare, patient-centered care) gefördert werden kann. So könnte beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen Fachärztinnen und Fachärzten für Allgemeinmedizin und Gynäkologie verbessert werden oder durch unterschiedliche Institutionen (z. B. Krankenkassen, Hausarztpraxen) auf das Thema Frauengesundheit mittelalter und älterer Patientinnen aufmerksam gemacht werden, und zwar nicht nur (aber auch) in Bezug auf die Krebsfrüherkennungsuntersuchungen. Konkrete Lösungsansätze werden im Rahmen des Projekts „Frauen 5.0“ erarbeitet.

Praktische Implikationen: Die Nichtinanspruchnahme von Versorgungsleistungen kann pauschal nicht auf niedrige Gesundheitskompetenz zurückgeführt werden. Die Patientensicht kann wertvolle Hinweise für die weitere Entwicklung des Gesundheitssystems und der Gesundheitsversorgung liefern und ist zu berücksichtigen.