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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Handlungsspielräume im palliativmedizinischen Arbeitsfeld. Zentrale Ergebnisse der Untersuchung zum Professionsverständnis von palliativmedizinisch Beschäftigten

Meeting Abstract

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  • Natalia Radionova - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen, Germany
  • Monika A. Rieger - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen, Germany
  • Christine Preiser - Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung, Tübingen, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf285

doi: 10.3205/19dkvf285, urn:nbn:de:0183-19dkvf2853

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Radionova et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Wie andere Gesellschaftsbereiche ist das Gesundheitssystem vom weitreichenden Prozess der Digitalisierung betroffen. Bisher wenig erforscht ist die Frage, wie sich diese Prozesse nicht nur auf die praktischen Tätigkeiten, sondern auch auf das berufliche Selbstverständnis der Betroffenen auswirken. In der qualitativen Teilstudie des Verbundforschungsvorhabens „MySUPPORT“ (Leitung: Prof. Dr. Gerhild Becker, Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Freiburg; Laufzeit: 2016-2019) wurden im Vorfeld der Entwicklung eines Tablet/APP-basierten elektronischen Screening-Systems für palliative Patienten*innen die Haltungen, Befürchtungen und Wünsche der palliativmedizinisch Beschäftigten zu einem derartigen elektronischen Screening-System erforscht. Aus den Aussagen wurden zudem die dahinterliegenden Professionsverständnisse der Behandler*innen rekonstruiert.

Fragestellung: In diesem Beitrag soll ein Teil der Ergebnisse der Rekonstruktion des Professionsverständnisses palliativer Behandler*innen präsentiert werden. Außerdem soll es gezeigt werden, welche erweiterten oder einschränkenden Handlungsspielräume die Befragten durch die Einführung eines elektronischen Screening-Systems sehen.

Methoden: Im Rahmen des Teilprojektes wurden 19 Expert*inneninterviews mit Behandler*innen geführt (10 Ärzt*innen, 9 Pflegende), transkribiert und mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Schreier (2012) ausgewertet. Um tieferliegende Konzepte bezüglich des Professionsverständnisses zu analysieren, wurden im Anschluss 8 der 19 Interviews (4 Ärzt*innen, 4 Pflegende) ausgewählt und mit dem Integrativen Basisverfahren (Kruse 2014) durch zwei Forscherinnen ausgewertet. Mittels der Analyse von Semantik, Grammatik und Metaphorik ermöglichte es Zugang zu latenten Konzepten. Alle 8 Interviews wurden in Fallexzerpten aufgearbeitet und diese im Anschluss miteinander verglichen.

Ergebnisse: Die Befragten sehen ihre Handlungsmacht innerhalb des jeweiligen Settings durch verschiedenste Einflüsse begrenzt. Dabei handelt es sich um Rahmenbedingungen wie etwa ökonomische Zwänge, Zeitdruck, die Notwendigkeit der Priorisierung auf Grund begrenzter Ressourcen, aber auch das palliativmedizinische Setting als solches, bei dem klar ist, dass bestenfalls Linderung, aber nicht mehr Heilung möglich ist. Hinzu kommen zwischenmenschliche Faktoren: Mit Verweis auf die eigene Selbstfürsorge begrenzen die Behandler*innen ihre Handlungsspielräume, indem sie deutlich machen, dass sie nicht zu jeder Zeit und allen ein „Mehr“ zukommen lassen können, um sich selbst nicht dauerhaft zu überlasten. Auch die Behandler-Patient-Beziehung begrenzt die Handlungsmacht der Behandler*innen, da aus Sicht der Befragten die eigene Handlungsmacht auch von der Mitarbeit der Patient*innen abhängt. Gleichzeitig suchen sich die Befragten immer wieder Wege, ihre eigene Handlungsmacht zu erweitern, etwa durch flexible Strategien beim Erkennen der Bedarfe und Bedürfnisse der Patient*innen oder durch ein „Mehr“ an Aufwand, das für Patient*innen jenseits der Basisversorgung betrieben wird.

In der Einführung eines Screening-Systems sehen die Behandler*innen die Möglichkeiten sowohl zur Erweiterung als auch Einschränkung ihrer Handlungsspielräume. Das von den Patient*innen selbst ausgefüllte Screening erlaubt eventuell verborgene nicht-behandelte Probleme aufzudecken und somit neue Perspektiven auf Gesprächsführung und Anpassung der Versorgung eröffnen. Befragte sehen das als mögliche Unterstützung für noch unerfahrenen Behandler*innen. Auf der anderen Seite kritisieren Befragte, dass das geplante Screening-System zur Überfokussierung auf erhobene Outcomes und einzelne Themen führen kann. Sie befürchten, dass somit situatives Aushandeln der Prioritäten eingeschränkt wird und auch der ganzheitliche Blick auf Patient*innen verloren geht. Auch wird das System laut den Befragten ohnehin knappe personelle Ressourcen möglicherweise stärker beanspruchen oder neue zusätzliche Aufgaben schaffen.

Diskussion: Die Ergebnisse zeigen, dass die Befragten konstant die Grenzen und Möglichkeiten ihrer Handlungsmacht ausbalancieren. Die Haltungen zum Screening-System hängen vor allem davon ab, wie sehr die Befragten ihre eigene Handlungsmacht dadurch in Frage gestellt fühlen. Zum Zeitpunkt der Befragung steht die Akzeptanz des Screening-Systems im Zusammenhang mit den antizipierten Auswirkungen auf das Professionsverständnis der Behandler*innen. Jene, die es als Einschränkung der eigenen Handlungsmacht verstehen, lehnen es eher ab.

Praktische Implikationen: Das Verstehen der möglichen Auswirkungen auf den erlebten Handlungsspielraum der Behandler*innen ist ein wichtiger Schritt und Voraussetzung für die Entwicklung, Implementierung und Akzeptanz digitaler Innovationen, etwa in der Palliativmedizin.

Finanzierung: Das Verbundforschungsvorhaben MySUPPORT wird durch das Land Baden-Württemberg im Rahmen der Sonderlinie Hochschulmedizin gefördert.