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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Welche Rolle spielen Kontextfaktoren bei der Erklärung von Versorgungsoutcomes von Menschen mit Demenz in Pflegeeinrichtungen? Eine theoriebildende qualitative Expertenbefragung

Meeting Abstract

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  • Rebecca Palm - Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V., Standort Witten, Arbeitsgruppe Versorgungsstrukturen, Witten, Germany; Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Department Pflegewissenschaft, Witten, Germany
  • Anne Bleckmann - Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V., Standort Witten, Arbeitsgruppe Versorgungsstrukturen, Witten, Germany
  • Martina Roes - Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V., Standort Witten, Arbeitsgruppe Dissemination & Implementierung, Witten, Germany
  • Bernhard Holle - Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V., Standort Witten, Arbeitsgruppe Versorgungsstrukturen, Witten, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf257

doi: 10.3205/19dkvf257, urn:nbn:de:0183-19dkvf2572

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Palm et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Bislang gibt es in der Versorgungsforschung kaum explizites theoretisches Wissen, wie Kontextfaktoren den Wirkmechanismus von Interventionen und somit die Outcomes beeinflussen. Dies ist jedoch erforderlich, um die Ergebnisse von Interventionsstudien besser zu verstehen und in der Praxis anwenden zu können (vgl. Memorandum der organisationsbezogenen Versorgungsforschung). In der Versorgung von Menschen mit Demenz in der stationären Altenpflege sind wichtige Kontextfaktoren mit der Versorgungsform assoziiert: diese erfolgt entweder in sogenannten Demenzwohnbereichen, die schätzungsweise 30%-50% aller Pflegeeinrichtungen in Deutschland implementiert haben, oder in traditionellen Wohnbereichen, denen in der Regel kein spezielles Konzept der Demenzbetreuung zugrunde liegt.

Wichtige Versorgungsoutcomes von Menschen mit Demenz, die in Pflegeeinrichtungen leben, sind die Erhaltung von funktionalen Fähigkeiten sowie damit assoziierte Outcomes, wie das Verhalten oder die Lebensqualität. Interventionen, die diese Outcomes positiv beeinflussen sollen, werden größtenteils in den gemeinschaftlich genutzten Räumen der Wohnbereiche im Rahmen von Gruppenaktivitäten angeboten (z.B. Singen, Basteln, Bewegung) oder erfolgen im Rahmen der Alltagsgestaltung (z.B. hauswirtschaftliche Tätigkeiten). Den Interventionen zugrunde liegt die theoretische Annahme, dass eine Teilnahme an Aktivitäten zu einer Erhaltung, bzw. Verbesserung der funktionalen Leistung führt und damit zu einer Steigerung der assoziierten Outcomes (Rehabilitations-, bzw. Therapiemodell nach Buckwalter, 1990)

Der eingereichte Beitrag fokussiert auf die Bedeutung von Kontextfaktoren bei der Umsetzung von Interventionen zur Steigerung der Aktivität und assoziierten Outcomes von Menschen mit Demenz in Demenzwohnbereichen von Pflegeeinrichtungen.

Fragestellung: Wie beeinflussen Kontextfaktoren von Demenzwohnbereichen Wirkmechanismen von Interventionen zur Steigerung der Aktivität von Menschen mit Demenz?

Methode: Qualitative Studie auf der Grundlage von leitfadengestützten Experteninterviews mit 16 Stakeholdern der stationären Altenpflege. Die Teilnehmenden verfügten über Expertise in der Betreuung von Menschen mit Demenz in Einrichtungen mit und ohne Demenzwohnbereichen. Die Daten wurden zunächst inhaltsanalytisch ausgewertet (Mayring, 2010). Zusammenhänge zwischen den Kategorien wurden nach den Prinzipien der Realist Methodology (Pawson &Tilley, 1997) in Beziehung gesetzt und Kontext-Mechanismus-Outcome-Konfigurationen entwickelt. Diese sollen als Grundlage für die Entwicklung einer initialen Programmtheorie dienen und als Hypothesen in weiterführenden Studien untersucht werden.

Ergebnisse: Die Expert*innen beschreiben, dass Aktivitäten gemäß der Vorlieben und Fähigkeiten der Bewohner*innen im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehen Rahmenbedingungen geplant und angeboten werden. Entscheidende Rahmenbedingungen sind bauliche Gegebenheiten und die Personalausstattung. Diese sind in einigen Demenzwohnbereichen besser als in anderen Wohnbereichen. An welche Empfänger*innen sich ein Angebot richtet, ist nicht nur von den individuellen Vorlieben der Teilnehmenden abhängig, sondern auch davon, wie gut sie in einer Gruppe harmonieren. Wenn sich die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Bewohner zu stark unterscheiden, kann dies laut Einschätzung der Interviewteilnehmenden zu Spannungen und Konflikten führen, weil die Bewohner gegenseitig keine Rücksicht auf beeinträchtigte Fähigkeiten anderer nehmen können oder wollen und das Verhalten der anderen nicht verstehen. Wenn Menschen mit Demenz für die Erkrankung typische Verhaltensweisen zeigen, wird dies nach Einschätzung der Interviewteilnehmenden von Bewohnern ohne kognitive Beeinträchtigungen nicht toleriert, die beeinträchtigten Bewohner werden gemobbt. Die Segregation in einem Demenzwohnbereich ermöglicht es, Interventionen zielgerichteter für eine Gruppe zu gestalten, die homogener in Bezug auf ihre Fähigkeiten ist. Die Segregation scheint zudem das soziale Miteinander der Bewohner positiv zu beeinflussen.

Diskussion: Auf der Grundlage der vorliegenden Ergebnisse formulieren wir die Hypothese, dass die Segregation als Kontextfaktor einen Einfluss auf die Wirkmechanismen von Interventionen zur Steigerung von Aktivität und Lebensqualität hat. Die Umsetzung segregativer Versorgungsansätze wirkt sich möglicherweise positiv im Hinblick auf Parameter der Implementierung aus (z.B. Teilnahme- und Abbruchraten) sowie auf die Outcomes Funktionalität, Lebensqualität und Verhalten.

Praktische Implikationen: Um den Einfluss der Kontextfaktoren eines Demenzwohnbereichs sowohl im Rahmen von Interventionsstudien wie auch in der Versorgung abschätzen zu können, muss die aufgestellte Hypothese verifiziert werden. Hierzu erforderlich sind Studien, in denen nicht die Intervention oder der Kontextfaktor Demenzwohnbereich isoliert betrachtet wird, sondern deren Zusammenwirken.