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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Evaluation eines Versorgungsprogramms mit Zweitmeinungsverfahren für geplante Rücken-Operationen – eine kontrollierte nicht randomisierte Interventionsstudie mit GKV-Daten

Meeting Abstract

  • Christoph Wagner - AOK Nordost, Versorgungsmanagement, Berlin, Germany
  • Gabriele Lindena - CLARA Clinical Analysis, Research and Application, Klinische Analyse, Forschung und Anwendung, Kleinmachnow, Germany
  • Grit Ayyad - AOK Nordost, Versorgungsmanagement, Berlin, Germany
  • Andrea Otzdorff - AOK Nordost, Versorgungsmanagement, Berlin, Germany
  • Stephanie Sehlen - AOK Nordost, Versorgungsmanagement, Berlin, Germany
  • Werner Wyrwich - AOK Nordost, Versorgungsmanagement, Berlin, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf236

doi: 10.3205/19dkvf236, urn:nbn:de:0183-19dkvf2362

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Wagner et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Seit dem Versorgungsstärkungsgesetz 2015 haben Versicherte ein Recht auf Zweitmeinung (§27b SGB V). Einige Gesetzliche Krankenversicherungen (GKV) bieten Zweitmeinungsverfahren (ZMV) für Rücken-Operationen (ROP) an nach §140a ff. SGB V. Es fehlt eine umfassende Evaluation zu ZMV [1]. Laut Fallbeobachtungen aus den USA zeigte sich bei einer Zweitmeinung, dass in 17%–60,7% der Fälle eine ROP unnötig ist [2], [3], [4]. Diese Fallbeobachtungen haben zwei Defizite:

1.
Sie analysierten nicht, wie viele ROP nach der Zweitmeinung tatsächlich erfolgten.
2.
Es fehlt ein Vergleich zu Patienten ohne Zweitmeinung.

Die Herausforderung der Evaluation eines Versorgungsprogramms mit ZMV ist die unverzerrte Erfassung des zentralen Einschlusskriteriums „ärztliche Erstmeinung zur Notwendigkeit einer ROP“. Ein strukturiertes Beratungsdokumentationsinstrument der AOK-Servicecenter (SC) bot hier eine Lösung: AOK-Nordost-Versicherte in Berlin/Brandenburg mit Krankenhauseinweisungsschein für eine ROP besuchten ein SC zur Bestätigung einer Kostenübernahme/Mitgliedschaft. Ca. 80% dieser Patienten erhielten nach Teilnahme-Eignungs-Einschätzung des SC-Mitarbeiters eine dokumentierte Beratung zur Teilnahme an einem Versorgungsprogramm (VP). Das VP wurde erbracht in 6 ambulanten Rückenzentren. Das VP enthielt in maximal 3 Stufen: (1) Vorbefundprüfung, (2) ZMV und (3) interdisziplinär multimodale Rückenschmerztherapie (IMST). Mit bestmöglicher Erfassung einer Erstmeinung über Krankenhauseinweisungsschein, SC-Besuch und -Beratungsgespräch wurde eine risikoadjustierte, aber klar nicht randomisierte Beobachtungsstudie durchgeführt: Patienten, die nach der Beratung im SC am VP teilnahmen (VP-Teilnehmer) wurden verglichen mit statistisch merkmalsgleichen Vergleichspatienten (MVP), die nach der Beratung im SC das VP nicht in Anspruch nahmen (VP-Nicht-Teilnehmer).

Fragestellung: Wie hoch ist (i) der Anteil erfolgter ROP bei VP-Teilnehmern, (ii) der Anteil erfolgter ROP, und (iii) der Anstieg rückenschmerzbezogener Kosten im Vergleich zu merkmalsgleichen VP-Nicht-Teilnehmern?

Methode: Aus 135 VP-Teilnehmern und 765 VP-Nicht-Teilnehmern mit durchgängiger Versichertenzeit wurden MVP-Paare gezogen. Auf Basis detaillierter GKV-Daten wurde für zahlreiche rückenschmerzbezogene Merkmale in 365 oder teils 730 Tagen vor dem Stichtag der SC-Beratung kontrolliert; in Stufe 1 mit 1:1-Merkmalsabgleich und in Stufe 2 über „propensity score“. Die Ergebnisvariable ROP erfasste invasive und minimalinvasive Verfahren in 365 Tagen nach SC-Beratung. Rückenschmerzbezogene Kosten wurden erhoben für Krankenhaus, Krankengeld, Arztbehandlung, Arzneimittel, Heilmittel, Hilfsmittel mit der Methode „Differenz der Differenz“ für 365 Tage vor/nach SC-Beratung.

Ergebnisse: Von 108 VP-Teilnehmern hatten in den 365 Tagen nach der SC-Beratung 47 eine ROP (43,5%). Von 108 merkmalsgleichen VP-Nicht-Teilnehmern hatten 81 eine ROP (75,0%). VP-Teilnehmer hatten 31,5%-Punkte weniger ROP. Das Odds Ratio (OR) aller VP-Teilnehmer für eine ROP betrug 0,26 (p < 0,001). Die OR der MVP-Paare in den Subgruppen der 3 Versorgungsstufen waren: (1) Vorbefund und direkte Operationsempfehlung: OR = 1, p = 1, n = 20; (2) ZMV und danach Regelversorgung: OR = 0,25, p < 0,001, n = 67, (3) ZMV und danach IMST: OR = 0,04, p < 0,001, n = 21. VP-Teilnehmer hatten durchschnittlich einen deutlich geringeren Anstieg rückenschmerzbezogener Kosten als VP-Nicht-Teilnehmer. Ausgaben für ZMV und IMST wurden vor allem mit Krankenhauskosteneinsparungen mehr als refinanziert, sowohl bei MVP-Paaren, die ZMV und danach Regelversorgung erhielten, als auch bei MVP-Paaren, die ZMV und danach IMST erhielten.

Diskussion: 31,5%-Punkte weniger tatsächliche ROP entsprechen grob den Zweitmeinungs-Bewertungen für „unnötige ROP“ der USA-Fallbeobachtungen. Trotz dieser Übereinstimmung ist eine mögliche Verzerrung durch Selbstselektion von VP-Teilnehmern/Nicht-Teilnehmern zu diskutieren. Auch nach Adjustierung zahlreicher detaillierter datenverfügbarer Merkmale können z.B. Adhärenz und weitere unbekannte Störgrößen verzerren.

Praktische Implikationen: Die erste vergleichende Analyse eines Versorgungsprogramms mit ZMV in Deutschland zeigte für belastbar identifizierte Erstmeinungen eine deutliche ROP-Reduktion sowie eine belastbare Wirtschaftlichkeit, selbst wenn Selbstselektion nicht ausgeschlossen werden kann.


Literatur

1.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR). Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Gutachten 2018. 2018.
2.
Epstein N, Hood D. „Unnecessary“ spinal surgery: A prospecitve 1-year study of one surgeon’s experience. Surg Neurol Int. 2011;2:83.
3.
Gamache F. The value of “another” opinion for spinal surgery: A prospective 14-month study of one surgeon's experience. Surg Neurol Int. 2012; 3(Suppl 5): 350-354.
4.
Epstein N. Are recommended spine operations either unnecessary or too complex? Evidence from second opinions. Surg Neurol Int. 2013;4(Suppl 5):353-358.