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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Solidarische Datenpreisgabe für ein lernendes Gesundheitssystem

Meeting Abstract

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  • Minou Friele - Universität Köln, ceres, Köln, Germany
  • Peter Bröckerhoff - Universität Köln, ceres, Köln, Germany
  • Wiebke Fröhlich - Goethe-Universität Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Informationsrecht, Umweltrecht, Verwaltungswissenschaften, Frankfurt a. M., Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf233

doi: 10.3205/19dkvf233, urn:nbn:de:0183-19dkvf2332

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Friele et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Mit der wachsenden Menge und Vielfalt elektronisch erfassbarer Daten und Verarbeitungsmöglichkeiten rückt ein Lernendes Gesundheitssystem (LeG) zunehmend in den Bereich des Möglichen. Ob die praktische Umsetzung gelingt, hängt jedoch maßgeblich von der Bereitschaft von Patienten und Medizinern ab, personenbezogene und nicht-personenbezogenen Daten preiszugeben bzw. zu teilen. Diese Bereitschaft setzt voraus, dass

  • berechtigtes Vertrauen in die Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften besteht. Hier stehen v.a. die datenschutzrechtlichen Grundsätze der Datensparsamkeit, Zweckbindung und Zweckbestimmtheit mit der Auswertung großer Datenmengen in einem Spannungsverhältnis – dieses gilt es aufzulösen;
  • Persönlichkeitsrechte geschützt und Diskriminierungsrisiken minimiert werden;
  • unvermeidliche Kosten der Datenpreisgabe bzw. des Teilens von Daten, z.B. ein hiermit verbundener Mehraufwand, gerecht aufgeteilt bzw. ausgeglichen werden.

Fragestellung: Welche Anforderungen müssen erfüllt sein, damit Patienten und Ärzte einem LeG genügend Daten zur Verfügung stellen? Was sind die Voraussetzungen für eine vertrauensvolle Datenpreisgabe? Welche rechtlichen und ethischen Grundsätze sind durch die Preisgabe von Daten für ein LeG bedroht? Welche datenschutzrechtlichen Anforderungen sind zu berücksichtigen? Lassen sich datenschutzrechtliche Bedenken über das sozialrechtliche Solidarprinzip auflösen? Besteht eine ethische, sogar rechtliche Solidaritätspflicht zur Datenpreisgabe? Wie können mit einer Datenpreisgabe verbunden (Aufwands-)Kosten gerecht gehandhabt werden?

Methode: Diese Fragen werden mit den Instrumentarien der praktischen Philosophie und der Rechtswissenschaften bearbeitet. Basierend auf der Auswertung der relevanten Fachliteratur werden die in den genannten Kernfragen vertretenen Positionen und Argumente mit den Methoden des philosophischen Diskurses analysiert. In einer datenschutzrechtlichen Analyse werden v.a. die Herausforderungen für die Umsetzung eines LeG herausgearbeitet. Im Zuge der Auslegung und Anwendung des Verfassungs- sowie Sozialrechts wird geprüft, ob sich aus dem Solidaritätsprinzip eine Pflicht zur Datenpreisgabe ableiten lässt bzw. ob sich die Befugnis zur Datenverarbeitung auf einen rechtlich verankerten Solidaritätsgedanken stützen lässt.

Ergebnisse: Die Auswertung der Fachliteratur bestätigt, dass die Funktionalität eines LeG von der Bereitschaft von Patienten und Medizinern abhängt, Daten preiszugeben bzw. zu teilen. Die Legitimität des Systems wiederum wird an die Beachtung zentraler Rechte, Werte und Güter gekoppelt. Diese Werte und Güter können allerdings konfligieren. So steht z. B. der rechtliche Schutz der informationellen Selbstbestimmung in einem Spannungsverhältnis zu einer breiten Datenpreisgabe, während der Wert der Solidarität die Bereitschaft zu Datenpreisgabe erhöht.

Für jeden Verarbeitungszweck ist eine eigene Rechtgrundlage notwendig. Die Datenverarbeitung in einem LeG ist kein einheitlicher Vorgang, der sich über eine einzige Einwilligung rechtfertigen ließe. Datenschutzrechtliche Hürden lassen sich nicht mit einem rechtlich verankerten Solidaritätsgedanken überwinden. Das sozialrechtliche Solidaritätsprinzip ist nicht mehr als eine Finanzierungsentscheidung des Gesetzgebers; darüber hinaus ist „Solidarität“ kein (verfassungs-)rechtlicher Grundsatz, der auf das Datenschutzrecht ausstrahlt. Allerdings können ethische Solidaritätserwägungen bei Auslegung und Anwendung der Gesetze zu berücksichtigen sein. Solidarität kann zudem – unabhängig von Rechtserwägungen – ethisch gefordert werden.

Diskussion und praktische Implikationen: Sowohl rechtliche als auch selbstverpflichtende Solidaritätsforderungen sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie zu anderen Werten und Rechten in einem angemessen Verhältnis stehen. Hierzu zählen z.B. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die Wahrung berechtigter Eigeninteressen. Um relevante Werte und Rechte abzuwägen und ggf. zu vermitteln, bedarf es einer Governance, die rechtliche und ethische (Selbstverpflichtungs-)Elemente umfasst.

Am Beispiel der skizzierten Herausforderungen werden im Vortrag die zentralen Elemente einer solchen Governance dargestellt und diskutiert. Ziel ist es, einen Beitrag zur Bewältigung zentraler praktischer Herausforderungen zu leisten, denen sich Patienten, Ärzte und Forscher in Zuge der Entwicklung eines LeG immer dringlicher stellen müssen.