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18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

09. - 11.10.2019, Berlin

Gibt es Zusammenhänge zwischen dem Belastungserleben von Angehörigen und der Einschätzung der Teilhabe, Zufriedenheit mit dem Kommunikationshilfsmittel und Kommunikationsfähigkeit von Menschen ohne Lautsprache?

Meeting Abstract

  • Anna Zinkevich - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fakultät VI - Medizin und Gesundheitswissenschaften, Department für Versorgungsforschung, Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Oldenburg, Germany
  • Johanna Lubasch - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Department für Versorgungsforschung, Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Oldenburg, Germany
  • Sarah Uthoff - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Department für Versorgungsforschung, Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Oldenburg, Germany
  • Stefanie K. Sachse - Universität zu Köln, Pädagogik für Menschen mit Beeinträchtigungen der körperlichen und motorischen Entwicklung, Köln, Germany
  • Tobias Bernasconi - Universität zu Köln, Pädagogik für Menschen mit Beeinträchtigungen der körperlichen und motorischen Entwicklung, Köln, Germany
  • Jens Boenisch - Universität zu Köln, Pädagogik für Menschen mit Beeinträchtigungen der körperlichen und motorischen Entwicklung, Köln, Germany
  • Lena Ansmann - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Department für Versorgungsforschung, Organisationsbezogene Versorgungsforschung, Oldenburg, Germany

18. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung (DKVF). Berlin, 09.-11.10.2019. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2019. Doc19dkvf135

doi: 10.3205/19dkvf135, urn:nbn:de:0183-19dkvf1352

Veröffentlicht: 2. Oktober 2019

© 2019 Zinkevich et al.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Zur gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung liegen bisher wenige Erkenntnisse aus der Versorgungsforschung vor, obwohl die Prävalenzen steigen und die Versorgungsprobleme oft vielfältig sind.

Viele angeborene sowie erworbene Behinderungen gehen mit dem Nichtvorhandensein der Lautsprache oder dem Verlust dieser im Laufe einer fortschreitenden Erkrankung einher. Bei dieser Personengruppe werden oft Maßnahmen der Unterstützten Kommunikation (UK) eingesetzt. UK umfasst den Einsatz von nicht-elektronischen und elektronischen Hilfsmitteln sowie Gebärden. Für Deutschland liegen keine verlässlichen Prävalenzangaben zu dieser Personengruppe vor. Daten aus Australien zeigen, dass ca. 0,2% der Bevölkerung einen UK-Bedarf hat. Ca. 25% der Menschen mit infantiler Zerebralparese und 17-25% der Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen entwickeln keine ausreichende Lautsprache.

Angehörige von UK-Nutzer*innen leisten in vielen Fällen behinderungsbedingte Unterstützung und Pflege und sind zusätzlich in hohem Maße für das Gelingen von UK-Maßnahmen verantwortlich (z.B. durch die Mitnutzung von Kommunikationshilfen). In Deutschland existieren bislang keine Daten zum Belastungserleben von Angehörigen von UK-Nutzer*innen. Studien aus dem geriatrischen Bereich zeigen jedoch, dass betreuende Angehörige oft unter starker psychosozialer und körperlicher Belastung leiden. Ebenfalls gibt es bereits Hinweise darauf, dass elterlicher Distress mit der Einschätzung der Outcomes von Kindern mit infantiler Zerebralparese zusammenhängt.

Fragestellung: Gibt es Zusammenhänge zwischen dem Belastungserleben von Angehörigen und der Proxy-Einschätzung der Teilhabe, der Zufriedenheit mit dem UK-Hilfsmittel sowie der Kommunikationsfähigkeit von UK-Nutzer*innen?

Methode: Es handelt sich um eine retrospektive querschnittliche Befragungsstudie. Im Januar 2019 wurden 715 Versicherte der AOK Niedersachsen bzw. deren Angehörige postalisch angeschrieben, die zwischen 2014 und 2018 von der Krankenkasse ein UK-Hilfsmittel erhalten haben. N=190 Personen (zumeist Angehörige als Proxy-Antwortende) beantworteten die Befragung nach einer Erinnerungswelle (Rücklaufquote 27%). Zur Messung der Outcomes wurden die Instrumente WHODAS 2.0 (Teilhabe), QUEST 2.0 (Zufriedenheit mit dem UK-Hilfsmittel) sowie eine an die Stichprobe angepasste selbstentwickelte Skala zur Messung der Kommunikationsfähigkeit (in Anlehnung an das COCP-Programm und Pragmatics Profile des CELF-5) verwendet. Das Belastungserleben der Angehörigen wurde mithilfe der Häusliche-Pflege-Skala (HPS-k) erhoben. Die Datenauswertung erfolgte mithilfe multipler linearer Regressionen unter Berücksichtigung folgender Kontrollvariablen: Geschlecht, Alter und Erwerbsstatus der Angehörigen sowie Geschlecht, Alter, Beschäftigungssituation und Behinderungsgrad der UK-Nutzer*innen.

Ergebnisse: Es konnte ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Belastungserleben der Angehörigen und der Proxy-Einschätzung der Teilhabe, der Zufriedenheit mit dem UK-Hilfsmittel und dem Service rund um das UK-Hilfsmittel festgestellt werden. Das Alter der UK-Nutzer*innen sowie der Grad der Behinderung stehen in einem signifikanten Zusammenhang mit der Teilhabe. Die Beschäftigungssituation der UK-Nutzer*innen sowie der Behinderungsgrad stehen in einem signifikanten Zusammenhang mit der Zufriedenheit mit dem Service. Dahingegen steht das Belastungserleben in keinem signifikanten Zusammenhang mit der eingeschätzten Kommunikationsfähigkeit. Zwischen den Kontrollvariablen Geschlecht der Angehörigen sowie Alter der UK-Nutzer*innen und der Kommunikationsfähigkeit konnten signifikante Zusammenhänge festgestellt werden.

Diskussion: Die dargestellten Ergebnisse sind für die Planung, Durchführung und Interpretation von Studien in der Versorgungsforschung bei Menschen mit Behinderung im Allgemeinen und bei Menschen ohne Lautsprache im Speziellen von Relevanz. Unklar bleibt jedoch die kausale Interpretation der Zusammenhänge, da das Studiendesign keine kausale Interpretation der Ergebnisse erlaubt. Es können somit folgende Erklärungswege sowie ihre Kombinationen diskutiert werden: 1) höhere Belastung führt zu schlechteren Outcomes, 2) höhere Belastung führt zu einem negativeren Reporting und 3) schlechtere Outcomes führen zu höherer Belastung. Um die Repräsentativität der Stichprobe bei der geringen Rücklaufquote einschätzen zu können, wird zurzeit eine Non-Responder Analyse durchgeführt.

Praktische Implikationen: Das Belastungserleben von Angehörigen von Menschen mit Behinderung sollte in Versorgungsforschungsstudien, die Proxy-Befragungen nutzen, miterhoben werden. Es sollten in Zukunft vergleichbare Untersuchungen mit Längsschnittdaten durchgeführt werden, um die Ergebnisse kausal interpretieren zu können. Erst auf der Basis von Erhebungen der (Belastungs)Situation von Angehörigen von UK-Nutzer*innen können Unterstützungsbedarfe herausgearbeitet und Unterstützungsangebote gestaltet werden.